Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Dreizehntes Kapitel

Als Miltoun zu Audrey Noel kam, um ihr zu danken, wartete sie inmitten des Zimmers; sie war in Weiß gekleidet, ihre Lippen lächelten, ihre dunkeln Augen lächelten, und sie war so unbeweglich wie eine Blume an einem windstillen Tage.

In jenem ersten Blick, den sie miteinander tauschten, entschwand ihnen alles bis auf die Glückseligkeit. Wenn Schwalben am ersten sommerlichen Tage die laue Luft entdecken, haben sie schon den kalten Wind vergessen und können sich das Erlöschen des Sonnenlichts auf ihrem Gefieder nicht mehr vorstellen; und wie sie so Stunde um Stunde über die goldenen Gefilde hinflattern, scheinen sie nicht länger Vögel, sondern nur der Atem einer neuen Jahreszeit zu sein – ja, die Schwalben können ihr Ungemach nicht vollkommener vergessen haben, als diese beiden es vergessen hatten. Sein Blick war so still wie ihr wahres Wesen; ihr Auge barg in sich die ruhige Sicherheit einer Leidenschaft.

Als sie sich niedersetzten, um miteinander zu sprechen, war es, als wären jene Tage in Monkland wiedergekehrt, da er so oft zu ihr gekommen war, um alles im Himmel und auf Erden mit ihr zu diskutieren. Und dennoch schwebte über jenem ruhigen, vollkommenen Ineinanderversunkensein etwas wie Angst. Es war die Stimmung am Morgen, ehe die Sonne emporsteigt. Die taugrauen Spinnetze hüllten die Blüten ihres Herzens ein – doch konnte man jede einzelne der so umschlossenen Blumen sehen. Und die beiden schienen durch jenes Netz nach der Farbe und den tiefverborgenen Formen zu spähen, die so eifersüchtig verhüllt waren; ein jedes fürchtete zu sehr, das Herz des andern zu entschleiern. Sie waren wie Liebende, die, in einem verborgenen Walde sich ergehend, das unablässige Geplauder über die Bäume und Vögel und entschwundenen Glockenblumen nicht zu unterbrechen wagen, auf daß nicht in den tiefen Wassern eines Kusses der Stern ihrer Zukunft versinke und ertrinke. Jede Stunde hat ihren besondern Duft – und der Duft dieser Stunde war die Seele der weißen Blumen in der Schale auf dem Fensterbrett über Audreys Haupt.

Sie sprachen von Monkland und von Miltouns Krankheit; von seiner ersten Rede, seinen Eindrücken vom Parlament; von Musik, von Barbara, Courtier, von dem Strom. Er berichtete ihr über seinen Gesundheitszustand und erzählte von seinem Aufenthalt am Meer. Sie sprach wie immer nur wenig von sich selbst, in der Überzeugung, daß dies nicht einmal ihn interessieren könnte; doch schilderte sie einen Besuch in der Oper; und wie sie in der Nationalgalerie ein Bild entdeckt hätte, das sie an ihn erinnere. Allen diesen und zahllosen andern trivialen Dingen verlieh der Ton ihrer Stimmen, der leise, fast murmelnd und von einer Art entzückter Sanftheit war, eine holde, tiefe Bedeutung, einen Heiligenschein, den keines der beiden um die Welt hätte zerstören wollen.

Es war sechs Uhr vorbei, als er sich erhob, und die Ruhe jenes heiligen Gefühls in beider Herzen war die ganze Zeit hindurch auch keinen Augenblick unterbrochen worden. Sie schieden voneinander mit einem letzten stillen Blick, der zu sagen schien: ›Wir können uns nicht beklagen – wir haben die Seligkeit des Glücks getrunken!‹

Und diese Ruhe verließ Miltoun auch nicht nach seinem Abschied von Audrey, bis etwa halb zehn Uhr abends, als er sich ins Parlament begab. Es war eine warme, klare Nacht; auf dem Lande schwärmten jetzt die Leuchtkäfer, und selbst über London hatte sie einen dunkeln Zauber gebreitet. Und Miltoun, im Genusse seiner wiedererrungenen Gesundheit und seines Wohlbefindens, mit neubelebten Sinnen, empfand es als helle Freude, durch die Wärme und Schönheit dieser Nacht zu wandeln. Er schritt durch den St. James-Park; es bereitete ihm fast Gewissensbisse, auf die violetten Schatten der Platanenblätter im Laternenlicht zu treten – so schön, so förmlich lebendig sahen sie aus. Schmetterlinge und auf dem Wasser geborene Mücken flogen umher, und der Duft frischgemähten Grases stieg von den Rasenflächen auf. Sein Herz fühlte sich so leicht wie eine Schwalbe, die er des Morgens gesehen hatte, wie sie auf eine graue Feder herunterschoß, sie davontrug, fortflattern ließ und die dann neuerlich herabtauchte, um die Feder wieder zu ergreifen. So groß war seine Begeisterung in dieser wunderschönen Nacht! Als er sich dem Parlamentsgebäude näherte, hatte er Lust, noch ein wenig länger zu spazieren und wandte sich westwärts, der Themse zu. An diesem warmen Abend glich das Wasser, das beim Eintritt der Flut regungslos dalag, dem schwarzen, schlangenglatten Haare der Natur, das über ihr Lager, die Erde, dahinfloß, der Liebkosung einer göttlichen Hand harrend. In der Ferne, am jenseitigen Ufer, pochte eine riesige Maschine, die noch nicht aufgehört hatte zu arbeiten. Ein paar Sterne standen am dunkeln Himmel, doch kein Mond, neben dem das Schimmern der Laternen verblaßt wäre. Nur ganz wenige Menschen kamen vorbei. Miltoun schlenderte längs der Kaimauer hin, überquerte dann die Straße und stand wieder vor dem Hause, wo sie wohnte. Am Geländer blieb er stehen. Im Wohnzimmer ihrer kleinen Behausung war kein Licht, doch die Fensterflügel standen weit offen, und die Kronen der weißen Blumen in der Schale auf dem Fensterbrett leuchteten noch immer in die Dunkelheit hinaus wie ein liegender Halbmond. Plötzlich sah er zwei blasse Hände die Schale umschließen, hochheben und sie ins Zimmer nehmen. Und er erbebte, als hätten sie ihn berührt. Wieder schwebten jene beiden Hände empor; sie waren jetzt durch Dunkelheit getrennt, der weiße Blütenmond war verschwunden, an seine Stelle hatten sie nun eine Menge purpurfarbener oder rotglühender Blüten gesetzt, und ein warmer Luftstoß, der rasch aus der Nacht emporstieg, trieb ihm den Duft der Gartennelken entgegen, so daß er den Atem anhielt, aus Angst, laut ihren Namen zu rufen.

Wieder waren die Hände verschwunden – durch das offene Fenster konnte man nichts als Dunkelheit sehen; und eine so gewaltige Sehnsucht packte Miltoun, daß er sich nicht zu bewegen vermochte. Er konnte sie jetzt spielen hören. Der murmelnde Fluß jener Melodie war wie die Nacht selbst, seufzend, bebend, sanft schmachtend. Sie schien ihn mit dieser Musik zu sich zu rufen, ihm damit zu sagen, wie sehr auch sie sich sehne, daß auch ihr Herz leer sei. Die Musik erstarb – und ihre weiße Gestalt erschien am Fenster. Vor dieser Erscheinung konnte er nicht zurückweichen, versuchte es auch gar nicht, sondern trat in den Lichtkreis einer Laterne. Und plötzlich sah er, wie sie die Arme ihm entgegenstreckte und sie dann gegen ihre Brust preßte. Da empfand Miltoun nichts andres mehr als wahnsinnige Sehnsucht. Er rannte durch den kleinen Garten, durch den Vorraum und die Treppe empor.

Die Tür stand offen. Er trat ein. Dort, im Wohnzimmer, wo der Duft der roten Blumen im Fenster die ganze Luft erfüllte, war es dunkel, und er konnte sie anfangs nicht sehen, bis er den Schimmer ihres weißen Kleides, das sich vom Klavier abhob, bemerkte. Sie saß da, die Hände auf den bleichen Tasten. Er fiel auf die Knie und schmiegte sein Gesicht an sie. Dann hob er die Hände, ohne aufzublicken. Ihre Tränen flossen auf seine Hände herab; sie hielt sie an ihr Herz gedrückt, das bebend pochte, als atmete darin die leidenschaftliche Nacht, und alles andere als Nacht und Liebe hatte sich davongeschlichen.


 << zurück weiter >>