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Courtier saß im Hydepark und wartete, bis es fünf Uhr war.
Aus dem grauen Morgen war noch ein ganz schöner Tag geworden, als ob die Glut des langen, heißen Sommers zu sehr in die Luft eingebrannt wäre, um dem ersten Angriff zu weichen. Die Sonne, die die Federwolken durchdrang, dies Gefieder himmlischer Tauben, zielte mit ihren Strahlen nach den welkenden Blättern und breitete ihre zarten Schattenbilder auf dem Boden aus. Der erste, zu frühe Duft von Blättern, die sterben wollten, drang ins Herz. Und traurige Vögel versuchten, ihr süßes kleines Herbstlied zu singen, das hie und da wie Frühlingshymnen an die Freiheit klang.
Courtier dachte an Miltoun und seine Geliebte. Durch welch seltsames Schicksal waren die beiden zusammengeworfen worden? Was würde aus ihrer Liebe werden? Die Saat des Leides war schon gesät; welche Blumen der Finsternis oder des Aufruhrs würden hervorbrechen? Er sah sie wieder vor sich als ein kleines, ernstes, nachdenkliches Kind, mit sanften, weit auseinanderstehenden Augen, unter dunkeln, gewölbten Brauen; und das kleine Grübchen im Winkel ihres Mundes, das zum Vorschein kam, wenn er sie neckte. Und diesem gütigen Wesen, das eher sterben würde, als eben Menschen zu irgend etwas zwingen, war dieser merkwürdige Liebhaber beschieden; dieser Aristokrat von Geburt und Wesen, mit der heißen, vertrockneten Seele, der mit jeder Fiber, nach Abstammung und Erziehung, dazu bestimmt war, der Autorität zu dienen. Dieser Verneiner der Einheit des Lebens, dieser Anbeter eines alten Gottes! Ein Gott, der mit der Peitsche in der Hand die Menschen zum Gehorsam trieb. Ein Gott, den sogar Courtier jetzt wieder heraufbeschwören konnte, wie er ihn von den Wänden seines Kinderzimmers anstarrte. Der Gott, an den sein Vater geglaubt hatte. Der Gott des Alten Testaments, der keine Sympathie und kein Verständnis kannte. Seltsam, daß Er noch immer lebendig sein sollte, daß es noch immer Tausende geben sollte, die ihn anbeteten. Und dennoch, nicht so seltsam, wenn die Behauptung richtig war, daß die Menschen Gott in ihrem Ebenbilde erschaffen hätten! Hier war in der Tat eine merkwürdige Paarung zweier Kräfte, die die Philosophen Willen zur Liebe und Willen zur Macht nennen würden!
Ein Soldat und ein Mädchen kamen daher und setzten sich auf eine Bank in der Nähe. Sie warfen einen Blick seitwärts auf die aufrechte, stramme Gestalt mit dem tapferen Gesicht; als sie dann irgend eine feine Nebensächlichkeit darüber aufgeklärt hatte, daß er nicht zu jener störenden Menschengattung, Offizier genannt, gehörte, kümmerten sie sich nicht mehr um ihn, sondern überließen sich ihrem stummen, unausgesprochenen Glücksgefühl. Sie gefielen Courtier außerordentlich, wie sie so Arm in Arm, eng aneinander geschmiegt, sich ganz dem Augenblick hingaben; denn dies findet stets die Zustimmung eines Menschen, dessen rascher Herzschlag ihm weder erlaubt, zu viel über die Zukunft nachzudenken, noch über die Vergangenheit zu grübeln.
Ein Blatt des Zweiges über ihm, von den Küssen der Sonne gelöst, fiel gelb zu seinen Füßen. Wie rasch die Blätter gelb wurden!
Es war charakteristisch für diesen Menschen, den die verlorene Sache eines andern so erregen konnte, daß er – eine halbe Stunde, ehe er seine eigene Sache endgültig verloren haben würde – so ruhig, so fast gleichgültig dort zu sitzen vermochte. Diese Gleichgültigkeit kam zum Teil daher, daß es dem Schicksal bisher nie gelungen war, ihn niederzudrücken, aber auch von seinen Gewohnheiten: denen eines Menschen, der immer und überall sein Schicksal selbst in die Hand genommen und es doch nie festgehalten hatte. Es schien ihm gar nicht zum Bewußtsein zu kommen, daß er eine Niederlage erleiden würde, wenn er sich eingestünde, daß er sich die ganzen letzten Wochen nur um dieses Mädchen bemüht hatte; daß morgen alles vorbei sein würde und sie so fremd für ihn, als hätte er sie niemals gesehen. Nein, es war eigentlich nicht Resignation, es war vielmehr ein gänzlicher Mangel an Verständnis für den Vorteil im Leben. Wäre dies nur die verlorene Sache eines andern gewesen, wie tapfer wäre er selbst zum Angriff übergegangen und hätte das Mädchen im Sturm genommen! Wäre nur er selbst jener andere gewesen, wie leicht, wie leidenschaftlich hätte er gebeten und all das vorgebracht, was ihm auf der Zunge lag, seit er sie kannte, und was ihm so lächerlich und unwürdig erschien, wenn er für sich selber sprechen sollte. Ja, für jenen andern hätte er sie aus dem feindlichen Feuer herausgeholt, er hätte sie gewonnen, sie, diesen herrlichsten Preis!
Und in sonderbarer, fröhlicher Gleichgültigkeit, die freilich von Verzweiflung nicht weit entfernt war, saß er da und sah zu, wie die Blätter sich drehten und niederfielen, und schlug dann und wann mit dem Stock durch die Luft, die bereits vom Herbst erfüllt war. Und wenn er in der Phantasie sich ausmalte, wie er sie forttrug in die Wildnis und mit seiner Ergebenheit ihr Glück immer herrlicher gestaltete, so war das ein so fernliegender Gedanke, daß ein Lächeln über seine Lippen flog und er ein oder zweimal die Zähne zusammenbiß.
Der Soldat und sein Mädchen erhoben sich und schritten an ihm vorbei die Rotten Row entlang. Er beobachtete ihre roten und blauen Gestalten, die langsam nach der Sonnenseite gingen, und sah dicht am Gitter ein anderes Paar den Weg jener Gestalten kreuzen. In der Art, wie dieses neue Paar herankam, sehr groß und aufrecht, mit hoch erhobenen Köpfen, einander zugewandt, um Worte oder ein Lächeln auszutauschen, lag etwas Heiteres. Sogar aus dieser Entfernung konnte man sehen, daß sie nach der neuesten Mode gekleidet waren; in ihrem Gang war das fast herausfordernde Gleichgewicht derjenigen, die über alle Zweifel und Sorgen erhaben sind, der Welt und ihrer selbst gewiß. Des Mädchens Kleid war lohfarben, Haar und Hut waren von derselben Schattierung, und das darüber flutende Sonnenlicht verlieh allem einen verschwimmenden Glanz. Dann sah Courtier, wer sie waren – dieses Paar!
Außer einem unwillkürlichen Zähneknirschen gab Courtier keinen Laut von sich und rührte sich nicht, so daß sie vorbeigingen, ohne ihn zu bemerken. Barbaras Stimme, wenn auch nicht die Worte, konnte er deutlich hören. Er sah, wie sie ihre Hand unter Harbingers Arm schlüpfen ließ und dann schnell wieder zurückzog. Ein Lächeln, ihm ganz unbewußt, stahl sich auf seine Lippen. Er stand auf, schüttelte sich, wie ein Hund Schläge abschüttelt, und ging fort mit fest zusammengepreßtem Munde.