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Als Bertie Caradoc am gleichen Abend den Rauchsalon von Monkland Court verließ, führte ihn sein Weg ins Schlafzimmer durch den Georgischen Gang, wo sein Lieblingsbarometer hing. Nach dem Wetterglas zu sehen, war ihm, der seine ganze freie Zeit im Winter der Jagd und im Sommer den Rennen widmete, zur allabendlichen Gewohnheit geworden.
Der Honourable Hubert Caradoc, ein angehender Diplomat, verkörperte in sich mehr als jeder andere lebende Caradoc die charakteristischen Vorzüge und Schwächen der Familie. Er war ziemlich groß und muskulös gebaut. Sein wettergebräuntes Antlitz unter dem glatten, dunkeln Haar hatte regelmäßige, feine Züge und trug einen Ausdruck wachsamer Entschlossenheit, der durch Gleichgültigkeit maskiert war. Seine forschenden, haselnußfarbenen Augen waren fast immer zur Hälfte von den Lidern fromm verdeckt. Schon bei seiner Geburt war er zurückhaltend gewesen, und es mußte sich schon um eine besondere Erregung handeln, daß seine Augen zur Gänze sichtbar wurden. Seine Nase war fein gebaut und hatte wenig Fleisch. Die von einem kleinen, dunkeln Schnurrbart bedeckten Lippen öffneten sich nur ganz wenig, um seine seltsam gedämpften Worte freizugeben, die jedoch unerwartet rasch einander folgten. Im ganzen die Persönlichkeit eines praktischen, lebhaften, vorsichtigen, geschickten Mannes von großer Selbstbeherrschung, der das Leben nahm, als wäre es ein Pferd unter ihm, dem er nur so weit nachzugeben brauchte, als es nötig war, um seine Herrschaft darüber bewahren zu können. Ein Mann, für den Ideen nur dann Wert besaßen, wenn eine unmittelbare Tat daraus hervorging; von peinlicher Sauberkeit; ein behagliches Leben fordernd, doch auch imstande, nötigenfalls stoisch zu sein; höflich, doch stets zum Losschlagen bereit; nur der Nachsicht mit denjenigen Schwächen und des Mitleids mit jener Art von Elend fähig, die zu begreifen ihn seine eigenen Erfahrungen gelehrt hatten. So war Miltouns jüngerer Bruder im Alter von sechsundzwanzig.
Er hatte festgestellt, daß das Barometer auf ›unveränderlich‹ stand und wollte eben zur Treppe gehen, als er am andern Ende der Vorhalle drei Gestalten Arm in Arm daherkommen sah. Seiner Gewohnheit nach sowohl neugierig wie auch vorsichtig, wartete er, bis sie in den Schein einer Lampe traten; wie er sah, daß es Miltoun mit einem Diener war, die einen lahmen Mann führten, eilte er sogleich hinzu.
»Haben Sie sich das Knie verstaucht? Warten Sie eine Minute! Charles, einen Stuhl!«
Sie ließen den Fremden in den Stuhl sinken, Bertie krempelte ihm die Hose auf und fuhr mit den Fingern über sein Knie. Etwas Gütig-Liebevolles lag in der Bewegung seiner Hand, die bereits die Gelenke und Sehnen zahlloser Pferde befühlt hatte.
»Hm!« sagte er, »können Sie einen starken Ruck vertragen? Halt ihn von hinten fest, Eustace. Setzen Sie sich auf den Fußboden, Charles, und halten Sie die Stuhlbeine. Los!« Er ergriff das Bein und zog. Ein Knacken, ein schwaches Geräusch von knirschenden Zähnen; und Bertie sagte: »Bravo! Wir werden diesmal den Tierarzt nicht nötig haben.«
Nachdem die beiden Brüder den lahmen Gast in ein Zimmer im Georgischen Gang geführt hatten, das rasch in ein Schlafzimmer umgewandelt worden war, überließen sie ihn bald der Fürsorge des Dieners.
»Na, lieber Junge,« sagte Bertie, als sie ihre Zimmer aufsuchten, »das verpflichtet ihn dir – er wird dir diesmal nicht weiter im Wege stehn. Ist aber ein tüchtiger Kerl!«
Die Nachricht, daß Courtier unter ihrem Dach beherbergt sei, machte noch vor dem Frühstück die Runde in der Familie, und zwar durch die Vermittlung einer, die stets darauf bedacht war, alles und jedes zu wissen und auch andere an diesem Wissen teilnehmen zu lassen. Als Klein-Ann dem Zimmer ihrer Mutter den gewöhnlichen Morgenbesuch abstattete, pflanzte sie sich auf, das Antlitz emporgewandt, faßte ihren Gürtel und begann sofort:
»Onkel Eustace hat gestern Nacht einen Mann mit einem schlimmen Bein mitgebracht, und Onkel Bertie hat es wieder grad gezogen. William sagt, daß Charles sagt, er hat nur so gemacht,« – ein schwaches Geräusch beim Aufeinanderbeißen kleiner Zähne war zu hören – »und er ist der Mann, der im Wirtshaus wohnt, und die Treppe war zu eng, um ihn hinaufzutragen, sagt William; und wenn er sich das Knie verstaucht hat, wird er sehr lang am Stock herumgehn müssen. Kann ich zum Vater gehn?«
Agatha, die sich das Haar kämmen ließ, dachte:
›Ich bin nicht sicher, ob so tief sitzende Gürtel wie der hygienisch sind,‹ und murmelte: »Wart eine Minute!«
Doch Klein-Ann war bereits fort, und man konnte ihre Stimme aus dem Ankleidezimmer hören, wie sie zu Sir William empordrang, der, nach dem Ton seiner Antworten zu schließen, sich offenbar rasierte. Agatha, die nie einer sich bietenden Gelegenheit, sich ihrem Gatten zu nähern, widerstehen konnte, trat in sein Zimmer; er war allein und in Gedanken – ein großer Mann mit ausdruckslosem, ruhigem Gesicht und vorsichtigem Blick, ein bedeutender Mensch nur in den Augen seiner Frau.
»Dieser Courtier ist am Bein erwischt worden,« sagte er. »Ich weiß nicht, was deine Mutter zu einem Feind im eigenen Lager sagen wird.«
»Ist er nicht ein Freidenker und ziemlich –?«
Sir William, der andern Gedanken nachhing, entgegnete:
»Für Miltouns Aussichten übrigens gar nicht so übel, ihn hier zu haben.«
Agatha seufzte: »Wir werden jedenfalls nett zu ihm sein müssen. Ich werde es Mutter sagen.«
Sir William lächelte: »Das wird schon Ann besorgen.«
Ann besorgte es.
Sie saß im Erker hinter dem Spiegel, vor dem Lady Valleys noch beschäftigt war, und sagte:
»Er ist aus dem Fenster gefallen durch den roten Pfeffer. Miß Wallace sagt, er ist eine Geisel – was heißt denn ›Geisel‹, Großmütterchen?«
Als Lady Valleys vor sechs Jahren dies Wort zum erstenmal vernommen hatte, hatte sie gedacht: ›Du lieber Gott! Bin ich wirklich schon Großmutter?‹ Es war ein Schlag gewesen, war ihr wie das Ende von so Vielem vorgekommen; aber der den Frauen tatsächlich eigene Heroismus, der sie um so viel rascher mit dem Unvermeidlichen sich abfinden läßt als die Männer, war ihr bald zu Hilfe gekommen und jetzt lag ihr, im Gegensatz zu ihrem Gatten, nicht mehr das geringste daran. Dessenungeachtet erwiderte sie nichts, teils, weil es unnötig war selbst zu reden, um eine Konversation mit Klein-Ann in Gang zu halten, teils weil sie tief in Gedanken war.
Der Mann war verletzt! Natürlich gebührte ihm Gastfreundschaft, besonders, da ihre eigenen Pächter die Missetäter waren! Nichtsdestoweniger war es keine geringe Zumutung, einen Menschen willkommen zu heißen, der eigens hergereist war, um unter den Leuten gegen ihren Sohn Stimmung zu machen. Natürlich hätte es noch weit schlimmer sein können. Wenn er zum Beispiel irgend ein unmöglicher, fanatischer Radikaler gewesen wäre! Dieser Mr. Courtier war ein freier Schriftsteller, eine ziemlich bekannte Persönlichkeit, ein interessanter Mensch. Sie mußte dafür sorgen, daß er sich ›zu Hause‹ und behaglich fühlte. Wenn man es nur richtig anpackte, konnte man aus ihm gewiß auch das Nötige über jene Frau herausbringen. Überdies würde ihm die genossene Gastfreundschaft politisch den Mund schließen, wenn sie diesen Typus von Mann zu beurteilen verstand, dessen Überzeugungen in mancher Hinsicht denen der Araber glichen. Ihr ausgezeichnetes Verwaltungstalent erfaßte die ganze praktische Bedeutung dieses Vorfalls, der, wenngleich er ungelegen kam, doch auch seine komische Seite hatte in den Augen einer Frau, die alles, was ihren Interessen und ihrer Philosophie nicht gerade zuwiderlief, gern von der behaglichen und humoristischen Seite nahm.
Klein-Anns Stimme unterbrach sie in ihren Gedanken.
»Ich gehe jetzt zu Tantchen Babs.«
»Schön! Gib mir noch rasch einen Kuß!«
Klein-Ann hielt ihr Gesicht empor, so daß ihre etwas plötzliche kleine Nase sich in Lady Valleys sanftgeschwungene Lippen bohrte …
Als Courtier am frühen Nachmittag des gleichen Tages auf einen Stock gestützt von seinem Zimmer auf die Terrasse humpelte, befand er sich drei sonnenbestrahlten Pfauen gegenüber, die langsam über den Rasen auf eine Statue der Diana zuschritten. Unglaublich würdevoll war die Bewegung jener Vögel, als wären sie noch nie in ihrem Leben zur Eile angetrieben worden. Sie schienen in der Tat zu wissen, daß sie am Ziel angelangt nichts besseres zu tun haben würden, als wieder umzukehren. Hinter ihnen, durch die hohen Bäume hindurch, konnte man über mehrere bewaldete Ausläufer des Heidemoors und über ein gelobtes Land von rosenfarbenen Feldern, Wiesen und Obstgärten bis zum fernen Meere sehen. Die Hitze ließ diese Landschaft wie in Opalglanz schillern, hüllte sie in ein Feengewand, so daß alle Wirklichkeit verklärt ward, und die vier quaderförmigen Mauern und die hohen Schornsteine der Töpferei, ein paar Kilometer weit unten im Tale, Courtier wie die Vision einer alten italienischen Festung vorkamen. Mit sonderbaren Empfindungen sah er sich in diesem Lager. Denn er stand Miltoun, den er zweimal bei Mrs. Noel getroffen hatte, trotz der Meinungsverschiedenheiten keineswegs feindselig gegenüber; ein Gefühl für Miltouns Familie aber war noch nicht vorhanden. Er, der seit seinem Abgang von der Westminsterschule von der Hand in den Mund gelebt hatte, kannte sozusagen keinen Klassenunterschied mehr. Eine feindliche Haltung gegen die Aristokratie, nur weil sie die Aristokratie war, schien ihm ebenso unbegreiflich wie eine unterwürfige. Seine Empfindungen standen wie gewöhnlich in Übereinstimmung mit jenen beiden ständigen Erfordernissen seiner Natur: Liebe zum Abenteuer und Haß gegen die Tyrannei. Der Arbeiter, der seine Frau prügelt, der Geschäftsmann, der seine Angestellten ausbeutet, der Pfaffe, der seine Pfarrkinder zur Hölle verdammt, der Pair, der sich anmaßend benimmt – alle waren ihm gleichermaßen verhaßt. Er sah die Menschen als Einzelwesen an und war eigentlich nur zufällig auf das verallgemeinernde Urteil geraten, das er von Mrs. Noels Glastür aus Miltoun zugeschleudert hatte. Sanguinisch, an eine seltsame Umgebung gewöhnt und jede Gelegenheit beim Schopfe nehmend, hatte er nicht gegen das Schüchterne und Reizbare eines nervösen Temperaments anzukämpfen. Seine heitere Höflichkeit versagte nur dann, wenn er auf eine Regung stieß, die ihm gemein oder feig erschien. Bei solchen, vielleicht nicht seltenen Gelegenheiten sah sein Gesicht aus, als ob er innerlich buchstäblich vor Zorn rauchte, und da seine äußere Hülle von Stoizismus durch diese Hitze nie ganz geschmolzen ward, nahm sein Gesicht einen recht sonderbaren Ausdruck an, der etwas Ruhiges, Sardonisches, Verzweifeltes, Lustiges an sich hatte.
Sein vorwiegendes Gefühl über den Schimpf, der ihn zum Gefangenen im feindlichen Lager gemacht hatte, war daher eine unbestimmte Belustigung und Neugier. In der Nachbarschaft sprach man ziemlich günstig über die Familie Caradoc. Zwischen ihr und ihren Pächtern schien es an freundschaftlichen Gefühlen nicht zu fehlen; auf ihren Gütern gab es angeblich weder erdrückendes Elend noch besonders schlechte Wohnungsverhältnisse. Und wenn die Pächter auch nicht gerade ermutigt wurden, sich emporzuarbeiten, erhielt man sie jedenfalls durch eine stetige, verständnisvolle Beaufsichtigung auf einem gewissen Niveau. Wenn ein Strohdach neu zu decken war, so wurde es gedeckt; wenn ein alter Mann nicht mehr arbeiten konnte, ließ man ihn nicht ins Armenhaus gehen. Wenn die Erträgnisse an Wolle, Vieh oder Getreide schlecht ausfielen, gewährte man den Farmern eine abgestufte Ermäßigung des Pachtzinses. Die Töpferei wurde nach liberalen, wenn auch autokratischen Grundsätzen geleitet. Zwar war es richtig, daß man, obwohl Lord Valleys als zuverlässiger Förderer der Bewegung ›Zurück zur Scholle!‹ auftrat, die Leute doch nicht ermutigen wollte, sich just auf diesem Gebiete anzusiedeln, zweifellos aus dem Gefühl heraus, daß solche Ansiedler es nicht so gut ausnützen würden, wie seine gegenwärtigen Eigentümer. So fest wurzelte scheinbar diese Überzeugung, daß Lord Valleys' Agent gar häufig noch ein weiteres Stückchen Land dazukaufte.
Da man jedoch in diesem Leben nur das bemerkt, was einen interessiert, hatte all dieser teils schmeichelhafte, teils ungünstige Klatsch den Kämpen des Friedens nur wenig berührt, denn er war wie gesagt ein schlechter Politiker und ritt sein Steckenpferd ganz in seiner persönlichen Art und Weise.
Während er so die Aussicht genoß, hörte er eine hohe Kinderstimme und erblickte ein kleines Mädchen in einem breitrandigen Hut, der so weit hinten auf dem braunen Haare saß, daß er gar nicht vor der Sonne schützte; eine kleine Hand streckte sich ihm entgegen. Er ergriff die Hand und entgegnete:
»Danke, mir geht's gut – und dir?«, wobei er bemerkte, daß ein Paar weit auseinanderstehende, freimütige Augen sein Bein prüfend betrachteten.
»Tut es weh?«
»Nicht der Rede wert.«
»Mein Pony hat Blasen am Bein gehabt. Großmütterchen wird herkommen und danach sehen.«
»So, so!«
»Ich muß jetzt fort. Hoffentlich geht's Ihnen bald besser. Adieu!«
Dann sah Courtier statt des kleinen Mädchens eine große, blühende Frau, die ihn mit einer Art spöttisch-forschender Würde betrachtete. Sie trug ein steifes, rehfarbenes Kleid, das um ihre vollen Hüften ein wenig zu eng geschnitten schien, denn es ließ die Knie zu stark hervortreten. Sie trug keinen Hut, keine Handschuhe, keinen Schmuck mit Ausnahme der Ringe an den Fingern und einer kleinen, edelsteinbesetzten Uhr in einem Lederarmband. Ihre ganze Gestalt machte in der Tat den Eindruck, als verzichte sie absichtlich auf allen Putz.
Ihm eine wohlgeformte, doch nicht kleine Hand entgegenhaltend, sagte sie:
»Ich muß Sie herzlich um Entschuldigung bitten, Mr. Courtier!«
»Durchaus nicht.«
»Sie sind doch hoffentlich gut aufgehoben? Haben Sie alles, was Sie brauchen?«
»Mehr als das.«
»Es war wirklich abscheulich! Aber andrerseits hat es uns das Vergnügen Ihrer Bekanntschaft verschafft. Ich habe natürlich Ihr Buch gelesen.«
Courtier kam es vor, als wäre in das Gesicht dieser Frau ein Ausdruck getreten, der zu sagen schien: ›O ja, ganz talentvoll und amüsant, recht unterhaltend! Aber was für Ideen! Wie? Sie wissen genau, wie unzulässig sie sind – wie unzulässig sie sein müssen!‹
»Das ist sehr freundlich von Ihnen.«
Doch in Lady Valleys' Antwort: »Ich bin ganz und gar nicht damit einverstanden,« war ein Ton von Härte zu hören, als wüßte sie, daß er innerlich gelächelt hatte. »Was heutzutage gepredigt werden sollte, sind kriegerische Tugenden – besonders von einem Krieger.«
»Glauben Sie mir, Lady Valleys, das bleibt am besten Männern mit weniger verdorbener Phantasie überlassen.«
Sie warf ihm einen raschen Blick zu und die Worte: »Jedenfalls bin ich überzeugt, daß Ihnen die Politik ganz egal ist. Sie kennen doch Mrs. Lees Noel, nicht wahr? Was für eine hübsche Frau!«
Aber während sie noch sprach, sah Courtier ein junges Mädchen die Terrasse entlang kommen. Sie war augenscheinlich geritten, denn sie trug hohe Stiefel und einen Rock, der ihr erlaubt hatte, im Herrensitz zu reiten. Ihre Augen waren blau und ihr Haar – von der Farbe der Buchenblätter im Herbst, wenn die Sonne sie durchstrahlt – war unter einem kleinen, weichen Hut fest zusammengedreht. Sie war groß, und man merkte ihrem Gange an, daß ihre Beine lang und edel gebildet waren. Lebensfreude, ruhige, unbewußte Kraft schienen von ihrem Antlitz und ihrer ganzen Gestalt auszustrahlen.
Bei Lady Valleys' Worten: »Ah, Babs! Meine Tochter Barbara – Mr. Courtier,« streckte er die Hand aus, empfing den Druck von in einem Reithandschuh steckenden Fingern, die lächelnd hingehalten wurden, und hörte sie sagen:
»Miltoun ist nach London gereist, Mutter; ich bin im Begriff, mit einer Botschaft von ihm im Auto nach Bucklandbury zu fahren; dabei kann ich Großmütterchen vom Bahnhof abholen.«
»Nimm lieber Ann mit, sonst quält sie uns noch zu Tode; und vielleicht möchte Mr. Courtier ein wenig Luft schnappen. Glauben Sie, daß es mit Ihrem Knie möglich ist?«
Mit einem Blick auf Barbaras Erscheinung gab Courtier zur Antwort:
»O ja.«
Schon seit seinem siebenten Jahr hatte er beim Anblick weiblicher Schönheit stets ein Gefühl von Wärme und leiser Erregung empfunden; und da er jetzt das schönste Mädchen sah, das er vielleicht je geschaut hatte, wünschte er, sie zu begleiten, wohin sie auch gehen mochte. Auch lag etwas besonders Anziehendes in der Art, wie sie lächelte, als hätte sie seine Empfindungen ein wenig durchschaut.
»Dann sehen wir uns am besten nach Ann um,« meinte sie.
Nach kurzer, jedoch eifriger Suche fand man Klein-Ann – im Auto, denn ihr Instinkt hatte ihr eine Ausfahrt verraten, an der teilzunehmen sie für ihre Pflicht hielt. Und bald waren sie unterwegs, zwischen ihnen Ann, die sonderbar schweigend dasaß, wie immer, wenn etwas ihr ganzes Interesse gefangen nahm.
Von Monkland mit seinen Blumen, Wiesen und Wäldern aufs offene Heidemoor hinauszukommen, war wie der Übergang in eine andere Welt; denn kaum hatte man das letzte Pförtnerhaus des westlichen Fahrwegs hinter sich gelassen, als man plötzlich das heidnischeste Landschaftsbild in ganz England vor sich sah. In diesem wilden Parlament versammelten sich Wolken, Felsen, Sonne und Winde und beratschlagten miteinander. Auch die Geister der alten Bewohner hausten noch zwischen den großen Steinen, die gleich Löwen auf den Bergen gelagert waren, und über die die weißen Wolken hinzogen und deren Brüder, die jagenden Falken. Hier waren sogar die Felsen ruhelos, wechselten die Gestalt, den Ausdruck und die Farbe von Tag zu Tag, als huldigten sie dem Unerwarteten und unterwürfen sich keinen Gesetzen. Auch die Winde in ihrem Wehen revoltierten gegen ihre Bahnen und kamen heruntergebraust, wo immer sie nur Schluchten oder Senkungen entdecken konnten, so daß die Menschen in ihrem Unterschlupf noch die Macht der wilden Götter kennen lernen mochten.
Die Wunder dieser Aussicht verfehlten gänzlich ihre Wirkung auf Klein-Ann und zum Teile auch auf Courtier, der ganz davon in Anspruch genommen war, jene beiden entgegengesetzten Prinzipien miteinander auszusöhnen: Höflichkeit, und das Verlangen, ein hübsches Gesicht anzuschauen. Er fragte sich auch im stillen, woran dieses zwanzigjährige Mädchen, das die Sicherheit einer Frau von vierzig besaß, wohl denken mochte. Klein-Ann war es, die die Stille unterbrach.
»Tantchen Babs, das ist kein sehr starkes Haus gewesen, nicht wahr?«
Courtier blickte in der Richtung ihres kleinen Fingers. Er bemerkte die Trümmer eines kleinen Hauses, das dicht neben einem steinernen Manne stand, dem jener Hügel offenbar gehört hatte, ehe es Männer aus Fleisch gab. Über einer Ecke der traurigen Ruine hing noch ein einziges Stück Dach, alles Übrige war offen.
»Es war dumm von ihm, so ein Haus zu bauen, nicht wahr, Ann? Deshalb heißt man's auch ›Ashmans Torheit‹.«
»Lebt er noch?«
»Nicht mehr ganz – es ist gerade hundert Jahre her.«
»Warum hat er es hierher gebaut?«
»Er hat die Frauen gehaßt und – das Dach ist über ihm zusammengebrochen.«
»Warum hat er die Frauen gehaßt?«
»Er war ein Sonderling.«
»Was ist das, ein Sonderling?«
»Frag Mr. Courtier.«
Unter dem ruhigen, spöttischen Blick des Mädchens bemühte sich Courtier, eine Antwort auf diese Frage zu finden.
»Ein Sonderling,« sagte er langsam, »ist ein Mensch wie ich.«
Er vernahm ein leises Lachen und fühlte deutlich Anns kühle, prüfende Augen auf sich gerichtet.
»Ist Onkel Eustace ein Sonderling?«
»Sie wissen jetzt, Mr. Courtier, was Ann von Ihnen hält. Du hältst recht viel von Onkel Eustace, nicht wahr, Ann?«
»Ja,« sagte Ann und schaute starr vor sich hin. Courtier aber ließ den Blick seitwärts über ihren unbedeckten Kopf schweifen.
Seine Stimmung wurde mit jedem Augenblick aufgeräumter. Dies Mädchen erinnerte ihn an eine zweijährige Stute, die er einmal aus dem Sattelraum zu Ascot mit hocherhobenem Kopf und funkelnden Augen hatte herauskommen sehen, und auf deren seidenglänzender, kastanienbrauner Haut die Sonne geleuchtet hatte – der Sieg war ihr so gewiß, wie das Gras dort grün war. Es war kaum glaublich, daß Barbara Miltouns Schwester sein sollte. Es war kaum glaublich, daß diese vier jungen Caradocs überhaupt Geschwister waren. Der ernste, asketische Miltoun, der sich ganz in seine eigenen Gedanken verloren hatte; die milde, häusliche, sittenstrenge Agatha; der schweigsame, kluge, stählerne Bertie; und diese freimütige, lebenslustige, sieghafte Barbara – die Unterschiede waren groß.
Das Auto hatte das Heidemoor verlassen und fuhr an den kleinen Häusern und den kleinen grauen Arbeiterwohnungen vorbei, einen steilen Hügel in die Stadt Bucklandbury hinab.
»Ann und ich müssen zu Miltouns Hauptquartier weiter. Soll ich Sie beim Feind absetzen, Mr. Courtier? Bitte, Frith, halten Sie an!«
Und noch ehe Courtier zustimmen konnte, hatten sie vor einem Hause halt gemacht, worauf mit besonders großen Buchstaben geschrieben stand: ›Chilcox für Bucklandbury‹.
Courtier humpelte in das Komiteezimmer des Mr. Humphrey Chilcox, das nach Farbe roch, während ihn die duftende Erinnerung an Jugend, Ambra und Lodentuch begleitete.
In diesem Zimmer saßen drei Männer um einen Tisch herum; der älteste von ihnen, der kleine graue Augen, einen Stoppelbart und jenes geheimnisvolle Etwas hatte, das man nur bei denen findet, die einmal Bürgermeister waren, erhob sich sofort und kam auf ihn zu.
»Mr. Courtier, wenn ich nicht irre,« sagte er ohne Umschweife. »Sehr erfreut, Sie kennen zu lernen. Bin aufs tiefste betrübt, von dieser Ausschreitung zu hören. Obwohl sie uns andrerseits zustatten kommt. Jawohl, gewiß! Eine gröbliche Verletzung ehrlicher Kampfesweise. Sollte mich gar nicht wundern, wenn uns das zweihundert Stimmen mehr einbrächte. Wie ich sehe, haben Sie die Folgen am eigenen Leibe zu spüren.«
Ein magerer, vornehm aussehender Herr mit stachligem Haar, der eine Zeitung in der Hand hielt, trat ebenfalls herzu.
»Es hat ziemlich peinliche Folgen gehabt,« sagte er. »Lesen Sie das da:
›Überfall auf einen hervorragenden Fremden.‹
›Lord Miltouns nächtliches Abenteuer.‹«
Courtier las einen Absatz.
Der Mann mit den kleinen Augen unterbrach das unheilkündende Schweigen, das folgte.
»Einer von unsrer Partei muß die ganze Sache mitangesehen haben, auf sein Fahrrad gesprungen sein und den Bericht überbracht haben, ehe die Drucklegung beendet war. Man verdächtigt die Dame nicht, sondern stellt nur die Tatsachen fest. Gerade genug!« fügte er mit unpersönlichem Grimm hinzu. »Ich glaube, er hat sich unmöglich gemacht.«
Der Mann mit dem vornehmen Gesicht erklärte nervös:
»Mr. Courtier, wir konnten es nicht verhindern; ich weiß wahrhaftig nicht, was wir noch tun könnten. Ich bin absolut nicht damit einverstanden.«
»Hat Ihr Kandidat das schon gesehn?« fragte Courtier.
»Kann es noch nicht gesehen haben,« fiel der dritte Komiteeherr ein, »wir selbst haben es erst vor einer Stunde entdeckt.«
»Ich hätte es nie zugegeben,« sagte der Mann mit dem vornehmen Äußern, »ich verurteile den Herausgeber aufs entschiedenste.«
»Ach gehn Sie!« meinte der mit den kleinen Augen, »es ist doch ein ganz einwandfreier Bericht. Wenn es Staub aufwirbelt, so ist das nicht unsere Schuld. Das Blatt verdächtigt niemanden, es konstatiert nur. Die Stellung der Dame trägt noch das ihrige dazu bei. Da läßt sich nichts machen und übrigens, was mich betrifft, will ich gar nichts machen. Bei Gott, wir werden keine lose Moral im hiesigen öffentlichen Leben dulden!« Aus seinen Worten sprach echte Überzeugung; als sein Blick dann auf Courtiers Gesicht fiel, fügte er hinzu: »Kennen Sie diese Dame?«
»Schon seit ihrer Kindheit. Wer ihr Übles nachsagt, bekommt es mit mir zu tun.«
Der vornehm aussehende Herr sagte ernsthaft:
»Seien Sie versichert, Mr. Courtier, ich teile durchaus Ihre Gefühle. Wir haben nichts mit der Notiz zu schaffen. Es ist einer jener Fälle, von denen man gegen seinen Willen profitiert. Höchst fatal, daß die Dame mit Lord Miltoun auf den Anger hinauskam; Sie wissen doch, wie die Leute sind.«
»Der Titel allein richtet das ganze Unheil an,« sagte der dritte Komiteeherr, »man hat ihn derart abgefaßt, daß er die Aufmerksamkeit der Leute auf sich lenken muß.«
»Ich weiß nicht, weiß wirklich nicht,« sagte der mit den kleinen Augen hartnäckig, »wenn Lord Miltoun unbedingt seine Abende mit alleinstehenden Damen verbringen muß, kann er keinem andern die Schuld daran zuschieben, als sich selbst.«
Courtier sah von einem zum andern.
»Damit enden meine Beziehungen zu dieser Wahlkampagne,« erklärte er. »Wo ist das Büro dieser Zeitung?« Und ohne eine Antwort abzuwarten, ergriff er das Blatt und humpelte aus dem Zimmer. Draußen stand er eine Minute still, um die Adresse zu suchen, dann ging er die Straße hinunter.