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Sechzehntes Kapitel

Lord Dennis fischte gerade mit der Fliegenangel – die Atmosphäre war etwas zu klar, so daß die kleinen Forellen jenes seichten, nie schweigsamen Baches gar nicht gierig waren, sich auf die kleinen Lockungen zu stürzen, die er ihnen zuwarf. Trotzdem versuchte er immer wieder, sie zu verführen, wobei er jeden Winkel ihrer Wasserbahn mit seiner leise knisternden Angel durchsuchte. In einem Anzug aus grobem Stoff und mit zerknülltem Hut, der mit jenen künstlichen und sonstigen Fliegen geschmückt war, die Harris-Tuch gern heimsuchen, schlich er zwischen den Dornbüschen und Haselnußsträuchen ganz glückselig hindurch. Wie ein alter Wachtelhund, der einst im Apportieren von Hasen, Kaninchen und allerhand Geflügel geschwelgt hat, nun froh ist, wenn man ihm nur einen Stock zuwirft, so verfolgte der, der einst ein berühmter Fischer vor dem Herrn gewesen, der die Gewässer Schottlands und Norwegens, Floridas und Islands geplündert hatte, jetzt Forellen, die nicht größer als Sardinen waren.

Der Zauber von tausend Erinnerungen heiligte die Stunden, die er so an jenem braunen Gewässer verbrachte. Er fischte ohne Eile, mit religiösem Eifer, wie ein guter Katholik noch eine Perle den bereits abgebeteten anreiht, als wollte er sich still und ohne Klage in die andere Welt hinüberfischen. Jeder neue Fisch, den er fing, gewährte ihm eine feierliche Genugtuung.

Obwohl er an diesem Morgen gern in Gesellschaft Barbaras gewesen wäre, hatte er nach dem Frühstück nur einmal und so verstohlen nach ihr hingesehen, daß sie es nicht merken konnte, und war mit trockenem Lächeln allein davongegangen. Unten an dem von Blättern überdachten Bach war es kühl und doch warm und windgeschützt; die Bäume trafen sich über dem Wasser und viele Steine lagen darin, die kleine Becken bildeten, welche die Strömung aufhielten, so daß der richtige Wurf einer Fliege viel Geschicklichkeit erforderte. Diese lange Talschlucht schlängelte sich meilenweit durch das Unterholz sich aneinander reihender Hügel hin. Die Eichelhäher liebten sie, aber menschliche Wesen gab es dort keine, die Witwe eines Geflügelzüchters ausgenommen, die ein Haus bewohnte, dessen Strohdach fast den Boden berührte; sie bestritt ihren Unterhalt daraus, daß sie Touristen mit solcher Schlauheit den Weg wies, daß sie bald zu ihr zurückkamen, um Tee zu nehmen.

Während Lord Dennis eine etwas längere Schnur als gewöhnlich auswarf, um eine kleine, dunkle Stelle zu erreichen, hörte er ein Knistern und Knacken, als wenn einer in voller Eile daherkäme. Er runzelte ein wenig die Stirn, denn er dachte an die Nerven seiner Fische, die er nicht verscheucht sehen wollte. Der Eindringling war Miltoun, bleich, erhitzt, mit wirrem Haar und einem seltsamen, gehetzten Ausdruck im Gesicht. Beim Anblick seines Großonkels blieb er stehen und nahm sofort wieder seine lächelnde Maske an.

Lord Dennis war nicht der Mann, etwas zu bemerken, das nicht für ihn bestimmt war, und sagte bloß: »Ah, Eustace!«, als ob er seinen Neffen in der Halle eines seiner Londoner Klubs getroffen hätte.

Miltoun murmelte nicht weniger höflich:

»Hoffentlich habe ich dir nichts verdorben.«

Lord Dennis schüttelte den Kopf und sagte, die Angel aufs Ufer legend:

»Setz dich, wir wollen miteinander plaudern, lieber Junge. Du fischst doch nicht, so viel ich weiß?«

Er hatte den Leidensausdruck hinter Miltouns Maske durchaus nicht übersehen; seine Augen waren noch immer gut, denn er selbst hatte an die zwanzig Jahre um einer Frau willen gelitten – jetzt eine längst begrabene Sache, so daß er für Symptome des Leidens bei andern ein für einen alten Mann ganz besonderes Verständnis besaß.

Miltoun hätte diese Einladung von keinem andern angenommen, Lord Dennis aber hatte etwas an sich, dem man nicht widerstehen konnte; seine Stärke lag in einer trockenen, spöttischen Güte, die einen überzeugen mußte, daß Unhöflichkeit entschieden zu neu und roh sei, als daß man sie sich gestatten könnte.

Die beiden saßen zusammen auf Baumwurzeln. Zuerst redeten sie ein wenig über Vögel, dann aber verstummten sie so gänzlich, daß die Stimmen der unsichtbaren Wesen des Waldes hörbar wurden. Lord Dennis unterbrach das Schweigen.

»Dieser Platz,« erklärte er, »erinnert mich stets an Mark Twains Schriften – ich kann nicht recht sagen warum, es müßte denn das Ewig-Junge daran sein. Mir gefallen die ewig-jungen Philosophen, Twain und Meredith. Es gibt nur eine Befreiung: durch eigenen Mut, obwohl ich nie den ›starken Menschen‹ habe verdauen können, den Herrn seiner Seele, Henley, Nietzsche und ähnliche – es geht mir wider das Gefühl. Was meinst du, Eustace?«

»Sie hatten gute Absichten,« erwiderte Miltoun, »aber sie kritisierten zu viel.«

Lord Dennis nickte beistimmend.

»Herr seiner Seele sein!« fuhr Miltoun bitter fort. »Eine hübsche Phrase!«

»Recht hübsch!« murmelte Lord Dennis.

Miltoun sah ihn an.

»Und auf dich passend,« sagte er.

»Nein, mein Lieber,« gab Lord Dennis trocken zurück. »Gott sei Dank noch lange nicht!«

Seine Augen waren unverwandt auf die Stelle gerichtet, wo eine große Forelle in dem dunkelbraunen, denkbar unbeweglichsten Wasser aufstieg. Er kannte den Kerl (wenigstens ein Halbpfündner), und seine Gedanken begannen um seine Kopfbedeckung zu schweben, wobei er die diversen Verdienste seiner Fliegen in Erwägung zog. Auch juckte es ihn in den Fingern, aber er rührte sich nicht und die Esche, unter der er saß, ließ wie aus Sympathie ihre Blätter erzittern.

»Siehst du den Habicht dort?« fragte Miltoun.

Hoch über den Gipfeln der Hügel schwebte ein Habicht ganz still im Blau gerade über ihnen. Von Neugier über ihre Unbeweglichkeit erfaßt, sah er herab, ob sie etwas zum Fressen wären; die aufwärts gebogenen Enden seiner großen Schwingen schlugen nur einmal auf und ab, um zu zeigen, daß er zur lebendigen Pracht der Lüfte gehörte, ein Symbol der Freiheit für Menschen und Fische.

Lord Dennis betrachtete seinen Großneffen. Der Junge – denn was anders bedeutete dreißig für einen Sechsundsiebzigjährigen – nahm es schwer, furchtbar schwer, was es auch sein mochte! Er war so einer, lief so lange, bis er zusammenbrach. Einer von jenen, denen am wenigsten zu helfen war, die geradezu aufs Unglück zusteuerten, die von manchen Dingen nicht loskommen konnten! Und in des alten Mannes Seele tauchte plötzlich das Bild des Prometheus auf, wie er vom Adler zerfleischt ward. Es war seine Lieblingstragödie, die er noch immer von Zeit zu Zeit griechisch las, wobei er dann und wann ein Wort, dessen Bedeutung in den Orkus entflohen war, in seinem alten Lexikon nachschlug. Jawohl, Eustace war ein Mensch, für die Höhen und Tiefen des Lebens bestimmt!

Er sagte ruhig:

»Du willst wohl nicht darüber sprechen, wie?«

Miltoun schüttelte den Kopf, und wieder trat ein Schweigen ein.

Da der Habicht merkte, daß sie sich bewegten, bebten seine Schwingen wie die eines Schmetterlings, und er verließ jene Ebene der Lüfte. Statt seiner betrachteten sie ein Rotkehlchen, das auf einem warmen, sonnengesprenkelten, bemoosten Steine saß. Wieder spritzte es im stillen Wasser.

Lord Dennis sagte sanft:

»Dieser Kerl da ist zweimal aufgestiegen; ich glaube, er wird auf den Köder da anbeißen.« Er nahm von seinem Hut den modernsten Köder und befestigte ihn an der Angel, die er sachte hin- und herschwang.

»Ich krieg' ihn doch noch!« murmelte er. Miltoun aber hatte sich davongeschlichen …

Die weitere Neuigkeit über Mrs. Noel, die Barbara bereits erfahren und die ›Bucklandbury News‹ verbreitet hatten, wurde in Monkland erst allgemein bekannt, nachdem Lord Dennis schon zum Fischen ausgegangen war. Im Zusammenhang mit dem Bericht, daß Miltoun angekommen sei und sich ohne Frühstück wieder entfernt habe, war die Nachricht mit gemischten Gefühlen aufgenommen worden. Obwohl Bertie, Harbinger und Shropton nach kurzer Beratung zu dem Schluß gekommen waren, daß es in Anbetracht der Wahlen besser sei, als wenn sie geschieden wäre, so neigten sie noch immer zu der Ansicht, daß man keine Zeit verlieren dürfe, um – wie, wußten sie selbst nicht – einzugreifen. Abgesehen davon, daß man unmöglich wissen konnte, wie ein Mensch von der Art Miltouns sich zu der Sache stellen würde, standen sie vor der teuflischen Verzwicktheit einer Situation, auf welche die Redensart: ›Je weniger Worte, desto besser‹ paßt. Sie befanden sich in Gegenwart jener Ehrfurcht gebietenden Erscheinung, der Macht des Skandals. Was konnte gerechtfertigter sein als die einfache Feststellung der einfachen Tatsache, ohne daß man eine Moral daraus abgeleitet hätte (man konnte ihr gesetzlich nicht entgegentreten), und die dem Publikum als interessante Neuigkeit vorgesetzt oder schlimmstenfalls in der ehrlichsten Absicht ausgebeutet wurde, damit das Publikum nicht blind jemanden zu seinem Vertreter erwählen sollte, dessen Privatleben das Tageslicht zu scheuen hätte! Und dennoch wußten Miltouns Anhänger, daß diese einfache Feststellung, wo er seine Abende verbrachte, eine wie Gift wirkende Kraft besaß, weil sie jener Seite der menschlichen Phantasie Nahrung gab, die sich am leichtesten erregen läßt. Sie erkannten nur zu gut, wie stark ein gewisses primitives Bedürfnis war, besonders in ländlichen Gegenden, und nur dadurch, daß man ihm nachgab, ward die Welt in ihrem Lauf erhalten; und wie entsetzlich schwer es war, diesem Bedürfnis nicht nachzugeben, und wie interessant und aufregend, zuzusehen oder anzuhören, wie andere ihm nachgaben, und wie furchtbar tadelnswert das alles war (obwohl man darüber im geheimen natürlich verschiedener Ansicht sein mochte!). Auch erkannten sie nur zu gut, wie sehr einige besonders Gewissenhafte dies Gerücht würdigen und wie den Puritanern das Wasser im Munde zusammenlaufen würde. Auch wußten sie, wie unwiderstehlich es für Leute mit Phantasie war, wenn der Angehörige einer Klasse, die überlieferungsgemäß alles haben konnte, wonach es sie gelüstete, mit einer Dame in Verbindung gebracht würde, die allein lebte! Wie Harbiniger erklärte: es war in der Tat verdammt peinlich! Denn wenn man der Sache Beachtung schenkte, würden nur noch mehr Leute auf den Gedanken gebracht, sie für bare Münze zu nehmen. Daß sie aber Unheil stiftete, sagte ihnen die geheime Stimme ihrer eigenen Seele, denn sie selbst hätten es geglaubt, wenn sie Miltoun nicht besser gekannt hätten. Sie machten sich daher zu schaffen, bis er zurückkam.

Lady Valleys empfing die Neuigkeit mit einem Seufzer höchster Erleichterung und der Bemerkung, daß es wahrscheinlich eine Lüge sei. Als Barbara es bestätigte, sagte sie nur: ›Der arme Eustace!‹ und schrieb sofort ihrem Gatten, daß ›Anonyma‹ noch verheiratet sei, so daß das Schlimmste glücklicherweise nicht zu befürchten stünde.

Miltoun kam zum Lunch zurück, doch sein Gesicht und sein Benehmen verrieten gar nichts. Er war um einen Gedanken gesprächiger als sonst und plauderte über Brabrooks Rede, von der er einen Teil gehört hatte. Er sah Courtier vielsagend an und fragte ihn nach dem Lunch:

»Wollen Sie mit mir auf meine Bude kommen?«

Jenes Zimmer, der alte Salon des Elisabethinischen Flügels, wo einst die Stickereien, Wandteppiche und Meßbücher der mit Halskrausen geschmückten Damen sich befunden hatten, war nunmehr mit Eichenholz getäfelt und voll von Büchern, Flugschriften, Pfeifen, Fechtutensilien, und an einer Wand hing eine Sammlung indianischer Waffen und Zierate, die Miltoun aus den Vereinigten Staaten heimgebracht hatte. Über diesen thronte hoch an der Wand die bronzene Totenmaske eines berühmten Apachenhäuptlings; sie war nach einem Gipsabguß des Gesichtes angefertigt, den ein Professor des Yale College gemacht hatte, der sie für ein vollkommenes Exemplar der aussterbenden Rasse erklärte. Dieses Antlitz, das eine gewisse unheimliche Ähnlichkeit mit dem Dantes besaß, beherrschte das Zimmer mit grausam-tragischer Gelassenheit. Niemand vermochte es ohne die Empfindung anzusehen, daß hier der menschliche Wille die äußerste Grenze der Ausdauer erreicht habe.

Als Courtier es jetzt zum erstenmal erblickte, sagte er:

»Recht schön! Braucht nur eine Seele.«

Miltoun nickte.

»Nehmen Sie Platz!« sagte er.

Courtier tat es.

Es folgte eine jener Pausen, während welcher Männer, deren Seelen, wenn auch verschieden, doch eine gewisse Größe gemeinsam haben, einander so viel sagen können.

Endlich sprach Miltoun:

»Es scheint, ich bin auf Wolken gewandelt. Sie sind ihr ältester Freund. Die nächste Frage ist, wie man ihr angesichts dieses nichtswürdigen Gerüchtes die Situation erleichtern kann!«

Nicht einmal Courtier selbst hätte so viel geißelnde Verachtung in das Wort ›nichtswürdig‹ hineinlegen können.

Er entgegnete:

»Ach, nehmen Sie keine Notiz davon! Lassen Sie die Leute im eigenen Fette schmoren! Sie wird sich nichts draus machen.«

Miltoun hörte zu, ohne auch nur einen Muskel seines Gesichtes zu verziehen.

»Ihre Freunde hier,« fuhr Courtier mit einer Spur von Verachtung fort, »scheinen in Aufregung zu sein! Lassen Sie die Leute nichts tun, lassen Sie sie kein Wort sagen! Behandeln Sie das Gerücht, wie es behandelt zu werden verdient. Es wird von selbst verstummen.«

»Ich bin nicht ganz sicher, ob Sie recht haben,« sagte Miltoun, »aber ich will tun, was Sie mir raten.«

»Was Ihre Kandidatur betrifft, so wird ein jeder, der nur noch einen Funken Edelmut in seiner Seele hat, gerade deshalb zu Ihnen stehen.«

»Mag sein,« sagte Miltoun. »Nichtsdestoweniger wird es mich die Wahl kosten.«

Als sie dann unklar empfanden, daß ihre letzten Worte den Unterschied ihrer Temperamente und Bekenntnisse enthüllt hatten, starrten sie einander an.

»Nein,« meinte Courtier, »ich werde es nie und nimmer glauben, daß die Menschen so gemein sein können!«

»Bis sie es sind.«

»Jedenfalls sind wir der gleichen Ansicht, wenn wir auch auf verschiedene Art und Weise dazu gelangen.«

Miltoun stützte den Ellbogen aufs Kaminsims und sich das Gesicht mit der Hand beschattend, sagte er: »Sie kennen ihre Geschichte. Steht ihr irgend ein Weg offen?«

In Courtiers Antlitz trat der Ausdruck, der so oft erschien, wenn er für eine seiner verlorenen Sachen plädierte: als wäre ihm der Rauch der Flamme in seinem Herzen zu Kopf gestiegen.

»Nur der,« erwiderte er ruhig, »den ich einschlagen würde, wenn ich Sie wäre.«

»Und der wäre?«

»Nach meinen eigenen Gesetzen zu handeln.«

Miltoun nahm die Hand vom Gesicht fort. Sein Blick schien aus unendlicher Ferne zu kommen, ehe er auf Courtier haften blieb. Er entgegnete: »Freilich, ich habe mir ja gedacht, daß Sie das sagen würden!«


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