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Siebzehntes Kapitel

Als in jener Nacht alles ruhig war, schlüpfte Barbara mit über dem Schlafrock lose herabhängendem Haar aus ihrem Zimmer auf den dunklen Gang hinaus. Mit bloßen, in pelzverbrämten Pantoffeln steckenden Füßen schlich sie geräuschlos dahin, eine Tür um die andere musternd. Durch ein langes gotisches Fenster ohne Vorhänge strömte das Mondlicht herein. Sie blieb gerade dort stehen, wo das Mondlicht hinfiel, und klopfte an. Es kam keine Antwort. Sie öffnete die Tür ein wenig und fragte:

»Schläfst du, Eusty?«

Es kam noch immer keine Antwort, und sie ging hinein.

Die Vorhänge waren zugezogen, doch ein schmaler Streifen Mondlicht fiel zwischen ihnen durch aufs Bett. Es war leer. Barbara stand unentschlossen da und lauschte. Im Herzen dieser Dunkelheit schien kein Laut vernehmbar, sondern gewissermaßen nur die Seele eines gedämpften Lautes, ein seltsames Vibrieren wie das einer Flamme, die geräuschlos in der Luft züngelt. Sie führte die Hand ans Herz, das so ungestüm pochte, als wollte es das dünne Seidenzeug durchbrechen. Aus welcher Ecke des Zimmers kam nur jenes stumme Zittern? Sie schlich sich zum Fenster, zog die Vorhänge auseinander und starrte zurück in die Dunkelheit. Dort, auf der entgegengesetzten Seite, lag Miltoun auf dem Boden, die Hände fest ums Haupt geschlungen und das Antlitz gegen die Wand gedrückt. Barbara ließ die Vorhänge fallen und stand atemlos da; sie empfand ein so sonderbares Gefühl in der Brust wie noch nie zuvor, ein Gefühl von Beleidigung, von verwundetem Stolz. Es verwandelte sich sogleich in aufwallendes Mitleid. In der Finsternis tat sie rasch einen Schritt weiter, ward von Furcht gepackt und hielt inne. Er hatte sich doch den ganzen Abend durchaus gefaßt benommen. Vielleicht war er etwas gesprächiger gewesen, vielleicht etwas spöttischer als sonst. Und ihn jetzt so zu finden! Was Barbara an Ehrerbietung besaß – sie empfand dies Gefühl nur so selten – hatte stets ihrem ältesten Bruder gegolten. Schon von ihrer Kindheit an hatte er durch sein Sichfernhalten von allen übrigen auf sie Eindruck gemacht, und sie war stolz darauf gewesen, ihn zu küssen, weil er es nie jemand anderm zu gestatten schien. Jene Liebkosungen hatten zweifellos nach Eroberung geschmeckt; sein Antlitz war für ihre Lippen ein noch unentdecktes Land gewesen. Sie liebte ihn wie etwas, worauf man stolz sein kann; auch empfand sie für ihn eine Spur von Muttergefühl wie für eine Puppe, die nicht gut mit den übrigen Puppen auskommt; und bei all dem eine bei ihr ein wenig ungewöhnliche Ehrfurcht.

Durfte sie sich jetzt so ohne weiters in seine geheimen Seelenqualen einmengen? Würde sie's ertragen können, daß irgend jemand sie selbst in so demütigender Verfassung sähe? Er hatte sie nicht gehört und sie versuchte, wieder die Tür zu gewinnen. Aber ein Brett krachte; sie vernahm, wie er sich bewegte, und ihre Angst bemeisternd rief sie: »Ich bin es! Babs!« und fiel neben ihm auf die Knie. Wenn es nicht so pechfinster gewesen wäre, hätte sie das niemals über sich vermocht. Sogleich versuchte sie, seinen Kopf in ihre Arme zu nehmen, doch sie konnte ihn nicht sehen und es gelang ihr nicht ganz. Sie konnte nur fortwährend seinen Arm streicheln, wobei sie sich fragte, ob er sie nachher nicht ewig hassen würde, und sie segnete die Dunkelheit, die all das unwirklich erscheinen ließ und doch um so viel eindrucksvoller als wirkliches Geschehen war. Plötzlich merkte sie, wie er sich ihr entwand, erhob sich und schlich hinaus. Nach der Dunkelheit des Zimmers schien der Gang von einem grauen, verschleierten Licht erfüllt, als ob Märchen-Spinnen die Wände mit ihren Netzen überzogen hätten, in denen zahllose weiße Motten zappelten, die für Menschenaugen zu winzig waren. Leise, geisterhafte Laute schwebten durch den Raum. Ein plötzliches, ängstliches Sehnen nach Wärme, Licht und Farbe überkam jetzt Barbara. Sie floh nach ihrem Zimmer zurück. Aber sie konnte nicht einschlafen. Jenes entsetzliche, lautlose, unsichtbare Vibrieren in dem finstern Zimmer, gleich dem geräuschlosen Züngeln einer Flamme in der unbeweglichen Luft, die Berührung von Miltouns Hand, die wie Feuer an ihrem Gesicht und ihrer Wange geglüht hatte, diese bebende, dunkle Episode hielt sie unwiderstehlich im Bann. So hatte in all ihrer sehnenden Gewalt die willkürliche Macht der Liebe sich ihr kundgetan. Bei diesem ersten Anblick der roten Blume der Leidenschaft flammten ihre Wangen; wie sie so in den kühlen Linnen lag, überflog ein heißes, quälendes Beben immer wieder leise ihren Körper; mit weit aufgerissenen Augen starrte sie die Zimmerdecke an. Sie dachte an die Frau, die er so liebte, und fragte sich, ob auch sie schlaflos dalag und, auf den bloßen Boden hingestreckt, Stirn und Lippen an einer kalten Wand zu kühlen versuchte.

Stundenlang konnte sie nicht einschlafen und dann träumte sie, daß sie verzweifelt durch Felder voll von hohen, spitzen, asphodelengleichen Blumen lief und hinter ihr liefe ihr eigenes Selbst.

Des Morgens fürchtete sie sich hinunterzugehen. Konnte sie Miltoun wieder gegenübertreten, nun da sie von seiner Leidenschaft wußte und ihm bekannt war, daß sie es wußte? Sie ließ sich das Frühstück heraufbringen. Noch ehe sie fertig war, trat Miltoun selbst ein. Er sah zurückhaltender aus als gewöhnlich, geradezu ironisch, und bemerkte nur: »Falls du ausreitest, könntest du beim alten Halinday in Wippincott diesen Brief von mir abgeben.« Aus seinem Kommen schloß sie, daß er damit alles sagen wollte, was er je über diesen dunkeln Vorfall zu sagen gedachte. Und da Barbara mit dieser Reserve, die sie als den einzigen Ausweg für sie beide empfand, durchaus einverstanden war, sah sie ihn dankbar an, nahm den Brief und sagte: »Gern!«

Nachdem sich dann Miltoun ein- oder zweimal im Zimmer umgeblickt hatte, ging er fort.

Er ließ sie in einer Ruhelosigkeit zurück, in der ihr die Dinge nicht wie sonst selbstverständlich vorkamen, in einer seltsamen, zweifelnden Stimmung, gewissermaßen bereit, die Zauberschwingen des Daseins zu schauen und ihr rasches Flattern zu vernehmen. Die eintönige Konversation, die sich unablässig um die Tatsachen der Gegenwart und Zukunft drehte, die sich fast immer nur mit der Welt, wie sie eben ist, befaßte, ging ihr diesen Morgen auf die Nerven – sie vermied auf ihrem Ritt jede Gesellschaft. Sie wollte von Dingen hören, die nicht existierten und doch sein mochten, sie wollte hinter den Vorhang lugen, um den eigentlichen Antrieb menschlichen Geschehens in seiner wahren Gestalt zu schauen. Doch all das war so ungewöhnlich bei Barbara, deren Körper zu normal war, deren Blut zu gleichmäßig durch ihre Adern floß, als daß sie sich nicht ganz dem Augenblick und allem, was er bietet, hätte hingeben müssen. Sie wußte, daß es ungewöhnlich war. Nach dem Ritt nahm sie keinen Lunch, sondern ging auf den Feldwegen spazieren. Doch gegen zwei Uhr empfand sie starken Hunger, trat in ein Farmhaus und verlangte ein Glas Milch. In der Küche saßen auf einer Bank, die an die Nische des großen, offenen Herdes stieß, die drei Farmerjungen wie junge Dohlen in einer Reihe mit halboffenem Munde und kauten Brot und Käse. Über ihren Köpfen hing eine Flinte mit aufwärts gerichtetem Hahn, und zwei Schinken waren zum Räuchern im Kamin aufgehängt. Zu Füßen eines schwarzhaarigen Mädchens, das Zwiebeln in Scheiben schnitt, lag ein schrecklich alter Schäferhund, die Schnauze auf die Pfoten gelegt und in den kleinen blauen Augen einen Schimmer nahender Unsterblichkeit. Sie alle starrten Barbara an. Und einer der Jungen, der den herzerquickenden Eindruck eines Menschen machte, der über dem, was er gerade betrachtet, seine ganze Umgebung vergißt, lächelte immer und immer wieder aus reinster Freude. Barbara trank ihre Milch und ging wieder fort; nachdem sie durch eine Tür am Fuße einer steilen, felsigen Anhöhe geschritten war, ließ sie sich auf einen sonnendurchwärmten Stein nieder. Das Sonnenlicht fiel hier gierig über sie hin, streichelte sie wie eine rasche, unsichtbare Hand und liebkoste besonders zärtlich Hals und Antlitz. Ein ganz sanfter Wind, der von den Spitzen der Felsen her in den jungen Farn herunterwehte, strich, vom Farnsaft gewürzt, leise über sie hin. Alles atmete Wärme und Frieden, und nur der Kuckuck auf einem fernen Dornbusch störte die Ruhe ihres Herzens, als hätte ihn der Herrgott selbst dazu berufen. Doch alle Anmut und alles Singen des Tages vermochte sie nicht zu besänftigen. In Wirklichkeit hätte sie nicht sagen können, was ihr fehlte, es sei denn, daß sie sich so unzufrieden fühlte und gewissermaßen ohne jede Regung mit Ausnahme einer peinigenden Ungeduld – aber sie hätte nicht genau sagen können worüber. Es war jenes entsetzliche Empfinden, daß ihr etwas entschlüpfte, was sie nicht festhalten konnte. Diese Empfindung war ihr ganz neu, denn kein Mädchen war Launen und trüben Stimmungen so wenig unterworfen wie Barbara. Und wie aus Verachtung über dieses weichliche und fast sentimentale Empfinden preßte sie fortwährend die Lippen zusammen und runzelte die Stirn. Sie fühlte Spott und Mißtrauen einer Stimmung gegenüber, die so ganz dem Fetisch ›Selbstzucht‹ zuwiderlief, zu dessen unbewußter Anbetung man sie erzogen hatte. Kein Gefühl oder dergleichen Unsinn bei sich selbst und anderen zu dulden, nie überschwenglich zu werden, war der erste Glaubensartikel, so daß ihre gegenwärtigen Empfindungen Barbara geradezu grauenhaft vorkamen. Sie vermochte jedoch das Gefühl nicht loszuwerden. Mit plötzlichem Leichtsinn versuchte sie, sich ihm gänzlich hinzugeben. Den Schal lösend, ließ sie die Luft über ihren bloßen Hals hinstreichen und breitete die Arme aus, als wollte sie den Wind ans Herz drücken; dann stand sie seufzend auf und ging weiter. Und nun begann sie an ›Anonyma‹ zu denken, überlegte deren Lage immer wieder. Der Gedanke, daß eine so junge und schöne Frau inmitten ihres Lebens kaltgestellt werden sollte, rief ungeduldige Entrüstung in ihr wach. Sie sollten es nur bei ihr einmal versuchen! Sie würden schon sehen! Trotz all ihrer anerzogenen ›Selbstzucht‹ war Barbara alles Leiden anderer verhaßt. Es schien ihr unnatürlich. Nie ging sie in das Krankenhaus, wo Lady Valleys einen Saal unterhielt, oder in ihr Sommer-Zeltlager für verkrüppelte Kinder, noch wirkte sie bei ihrem alljährlichen Konzert zugunsten ausgebeuteter Arbeiter mit, ohne ein Gefühl von solch heftigem Mitleid zu empfinden, daß es ihr war, als packte man sie an der Kehle. Einmal, als sie ihnen vorgesungen hatte, waren die Reihen bleicher, abgemagerter Gesichter vor ihr zu viel für sie gewesen; die Stimme versagte ihr, sie hatte Text und Melodie vergessen und endete das Lied einfach mit einem Lächeln, das für ihre Zuhörer vielleicht mehr Wert besaß als jene vergessenen Verse. Von einem solchen Ort und Anblick ging sie nie ohne ein Gefühl der Empörung fort, das fast an Wut grenzte; und sie sang nur deshalb immer wieder vor, weil sie dunkel fühlte, daß in ihrer Gesellschaftsklasse von ihr erwartet wurde, solchen Dingen Aufmerksamkeit zu schenken.

Doch war es nicht diese Empfindung, die sie vor Mrs. Noels Häuschen stehen bleiben ließ, es war auch nicht Neugier. Es war nur der Wunsch, ihr die Hand zu drücken.

›Anonyma‹ schien ihr Unglück hinzunehmen, wie es nur jene Frauen vermögen, die sich nicht durchsetzen können – sie benahm sich genau so, als wäre gar nichts vorgefallen, wenn sie auch ein wenig blässer als gewöhnlich aussah und die Lippen fest zusammenpreßte.

Zuerst schwiegen beide und sahen einander nicht ins Gesicht, sondern auf die Brust. Endlich trat Barbara impulsiv auf sie zu und küßte sie.

Danach standen sie wie zwei Kinder, die sich erst küssen und dann Bekanntschaft machen, einander schweigend gegenüber und lächelten leise. Er war in wahrer Güte und Kameradschaft gegeben und erwidert worden, jener Kuß, als ein Zeichen der Weiblichkeit, die sich gegen die Welt behauptet; aber nun, da es vorbei war, fühlten sich beide ein wenig unbehaglich. Hätte sie ihr diesen Kuß gegeben, wenn das Schicksal günstiger gewesen wäre? War er nicht ein Beweis des Unglücks? Das war es, was Mrs. Noels Lächeln zu sagen schien, und Barbaras Lächeln schien es gegen ihren Willen zuzugeben. Da sie merkten, daß, wenn sie reden sollten, es nur über die alltäglichsten Dinge sein könnte, fingen sie an, über Musik, Blumen und die absonderlichen Beine der Bienen zu plaudern. Doch die ganze Zeit verfolgte Barbara, obwohl sie sich scheinbar nichts merken ließ, mit ihren lächelnden Augen die leisen Bewegungen, aus denen eine Frau schließen kann, was in der andern vorgeht. Sie sah, wie ein leises Beben Audreys Mundwinkel zusammenzog, wie ihre Augen plötzlich groß und dunkel wurden, wie die dünne Bluse sich hob und senkte. Und in ihrer durch die Erinnerung an die vergangene Nacht gesteigerten Phantasie sah sie, wie diese Frau sich in Gedanken ihren Liebeserinnerungen hingab. Bei diesem Anblick empfand sie ein wenig jene Ungeduld, die die Eroberer über die Duldenden empfinden, und vielleicht auch einen Gedanken von Eifersucht.

Was immer auch Miltoun entscheiden mochte, diese Frau würde sich damit zufriedengeben! Während nun eine solche Resignation einerseits vereinfachte, beleidigte sie andrerseits dasjenige in Barbara, was gegen alle Untätigkeit, gegen alle Vorschriften, selbst wenn sie von ihrem Lieblingsbruder kamen, rebellierte. Sie sagte unvermittelt:

»Wollen Sie denn gar nichts tun? Wollen Sie denn nicht versuchen frei zu werden? Wenn ich in Ihrer Lage wäre, würde ich nicht eher ruhen, bis man mich freigeben würde.«

Mrs. Noel aber gab keine Antwort; und Barbara, die den Blick von der Krone weichen, dunkeln Haares über die sanfte, weiße Gestalt bis zu den Füßen hinab schweifen ließ, rief aus:

»Ich glaube, Sie sind eine Fatalistin.«

Da sie weiter nichts zu sagen wußte, ging sie bald danach fort. Als sie aber über die Felder heimwärts schritt, wo sich der Hochsommer in den duftenden Lüften wiegte und kein Stier mehr zu sehen war, sondern nur rote Kühe, die die Gänseblümchen und Butterblumen abweideten, litt sie unter dieser seltsamen Offenbarung der Stärke, die sich in Sanftmut und Passivität äußert, als hätte Barbara etwas aus einer andern Welt, etwas Symbolisches, Unbegreifliches und doch Wirkliches in der weißen Gestalt ›Anonymas‹ erblickt und aus ihrer Stimme vernommen.


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