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Es war am folgenden Tage nach vier Uhr, als Barbara zu Fuß von Valleys House fortging; in einem blaßbraunen Kleide, das nicht auffallen sollte, zog sie dennoch aller Augen auf sich. Bald danach nahm sie eine Autodroschke zum Temple, hielt am ›Strand‹-Eingang an und schritt die kleine, enge Gasse hinab zu dem Gebäude, in dem das Gesetz herrscht. Seine Jünger eilten aus dem Gerichtshof zurück, strömten aus ihren Kanzleien hervor, um Tee zu trinken, oder rannten wie verrückt auf den Sportplatz oder in den Hydepark – junge Anwälte, die noch nicht dem Zauber des Ruhms oder der Honorare erlegen waren. Und jeder, der vorbeiging, sah Barbara an, wobei ihm die Finger juckten, den Hut zu ziehen, und er das Gefühl hatte, das sei die Auserwählte. Nach einem zwischen Konzepten und Verhandlungen verbrachten Tage, nach zumindest sechs Stunden, während welcher man zu entdecken versucht hatte, ob A die Möglichkeit hätte, auf seinem Rechte zu bestehen, oder B, ihn daran zu verhindern, konnte man nur schwer etwas anderes beim Anblick dieser ruhigen Erscheinung empfinden, die an einen goldenen, schlanken Baum gemahnte. Einer von ihnen, den sie nach dem Weg zu Miltouns Wohnung fragte, ging ihr mit schüchterner Förmlichkeit voran, und als sie auf der staubigen Treppe verschwunden war, verweilte er noch, in der Hoffnung, daß sie den Betreffenden nicht zu Hause finden würde, umkehren und ihn nach dem Rückweg werde fragen müssen. Sie aber kam nicht, und er ging traurig und tief enttäuscht davon.
In der Tat hatte niemand auf Barbaras Klopfen geantwortet, und als sie herausfand, daß die Türe nachgab, ging sie durch den Vorraum an der Kammer des Schreibers vorbei, die in eine Küche umgewandelt war, ins Wohnzimmer. Es war leer. Sie war früher noch nie in Miltouns Wohnung gewesen und sah sich neugierig um. Da er nicht praktizierte, war viel von dem eigentlichen Rüstzeug nicht vorhanden. Das Zimmer hatte einen abgenützten Teppich, ein paar alte Stühle und vom Boden bis zur Decke standen Bücher. Die Wand zwischen den Fenstern jedoch war von einer sehr großen Landkarte Englands ausgefüllt, die mit Ziffern und Kreuzen ganz beschrieben war; und vor dieser Landkarte stand ein riesiges Schreibpult, auf dem Haufen von Papierbogen lagen, die von Miltouns reinlicher und etwas spitzer Schrift bedeckt waren; Barbara prüfte sie stirnrunzelnd; sie wußte, daß er an einem Buche über das Bodenproblem arbeitete, doch war ihr noch nie klar geworden, daß die Abfassung eines Buches so viel Schreiben erforderte. Auch Dokumente und Blaubücher lagen massenhaft auf einem großen Schreibtisch, worauf Bronzebüsten Aeschylus' und Dantes standen.
›Was für ein unbehagliches Zimmer!‹ dachte sie. Der Raum hatte tatsächlich eine Atmosphäre, einen Geist, der sie entsetzlich niederdrückte. Als sie im Hof unten ein paar Blumen erblickte, sehnte sie sich, zu ihnen hinauszugehen. Da hörte sie jemanden hinter sich sprechen. Aber es war niemand im Zimmer; und die Wirkung dieses plötzlichen Selbstgesprächs, das von nirgends kam, war so unheimlich, daß sie sich zur Tür zurückzog. Das Geräusch wie von zwei Geistern, die mit einer Stimme sprachen, ward lauter, und unwillkürlich blickte sie nach den Büsten. Sie schienen keinerlei Schuld daran zu tragen. Obgleich das Geräusch hinter ihr gewesen war, als sie am Fenster gestanden hatte, war es jetzt wieder hinter ihr, da sie an der Türe stand; und plötzlich ward sie inne, daß es von einem Büchergestell in der Mitte der Wand herkam. Barbara hatte die Nerven ihres Vaters, sie trat auf das Büchergestell zu und merkte, daß es eine Tür verdeckte, an der es befestigt war; die Tür stand ein wenig offen. Sie zog sie vollends auf und ging hindurch. In einem unordentlichen Schlafzimmer schritt Miltoun, nur in Hemd und Hose, auf und ab. Seine Füße waren bloß und sein Kopf und Haar triefend naß; der Ausdruck seines magern, dunklen Gesichtes ging Barbara zu Herzen. Sie lief auf ihn zu und ergriff seine Hand. Diese brannte vor Hitze, doch der Anblick Barbaras schien seine Augen und Zunge erstarren zu lassen. Und der Gegensatz zwischen seiner heißen Hand und diesem erstarrten Schweigen schreckte Barbara furchtbar. Sie konnte nur ihre andere Hand auf seine Stirne legen. Auch die war glühend heiß.
»Was bringt dich her?« fragte er.
Sie konnte nur murmeln:
»Ach Eusty, bist du krank?«
Miltoun packte sie an beiden Handgelenken.
»Schon gut, ich habe zu viel gearbeitet, ich habe etwas Fieber.«
»Das kann ich fühlen,« murmelte Barbara. »Du solltest im Bett sein. Komm mit mir nach Hause!«
Miltoun lächelte. »Ein Aderlaß kann mir nicht helfen.«
Der Anblick seines Lächelns, der Klang seiner Stimme ließ sie erschauern.
»Ich werde dich nicht allein hierlassen.«
Doch Miltoun umklammerte ihre Handgelenke noch fester.
»Meine liebe Babs, du wirst tun, was ich will. Geh heim, halt den Mund und laß das Feuer ungehindert zu Ende brennen!«
Barbara ertrug die schmerzhafte Umklammerung, ohne zu zucken; sie hatte ihre Ruhe wiedergewonnen.
»Du mußt mitkommen! Du hast ja gar nichts hier, nicht einmal ein kühlendes Getränk.«
»Du lieber Gott! Gerstenschleim!«
Der Hohn, den er in dies Wort legte, war vernichtender als eine ganze Philippika gegen die Anwendung menschlicher Heilmittel. Barbara empfand diesen Hohn wie einen Schmerz und preßte die Lippen fest aufeinander. Er hatte ihre Handgelenke losgelassen und fing wieder an, auf- und abzugehen; plötzlich hielt er inne.
Du solltest Blake lesen, Audrey!«
Barbara fuhr rasch herum und rannte entsetzt hinaus. Sie eilte durch das Wohnzimmer und durch den Gang zur Treppe. Er war krank – im Delirium! Das Fieber in Miltouns Adern schien sich durch den Griff seiner Hände in ihre Adern geschlichen zu haben. Ihr Antlitz brannte, ihre Gedanken waren wirr, ihr Atem ungleichmäßig. Sie empfand ein Weh und gleichzeitig brennendes Mitleid; und zu alledem stieg in einemfort die aufpeitschende Erinnerung an Harbingers Kuß in ihr auf.
Sie eilte die Treppe hinab, wandte sich instinktmäßig bergab und befand sich am Themseufer. Und plötzlich, mit der ihr angeborenen Gabe, rasch zu entscheiden, rief sie eine Droschke herbei und fuhr zur nächsten Telephonstelle.