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Die Sommerblumen in dem großen Glashause zu Ravensham hielten die späte Nachmittagswache, als Clifton mit den Worten auf Lady Casterley zutrat:
»Lady Valleys wartet im weißen Zimmer.«
Seit der Nachricht von Miltouns Krankheit und seiner Pflege durch Mrs. Noel hatte die kleine alte Dame sich in Geduld gefaßt; zwar wurde sie oft von schweren Besorgnissen heimgesucht wegen dieses neuen Einflusses auf das Leben ihres Lieblings, auch von einer Art Eifersucht, die sie jedoch nicht zugab, nicht einmal in ihren ganz regelmäßigen, vielleicht ein wenig förmlichen Gebeten. Da sie jetzt ihr Haus nicht gern verließ, nicht einmal, um ihren Landsitz Catton aufzusuchen, befand sie sich noch immer in Ravensham, wohin auch Lord Dennis zu längerem Aufenthalt gekommen war, nachdem Miltoun ›Sea House‹ verlassen hatte. Aber Lady Casterley war nie sehr gesellschaftsbedürftig. Sie bewahrte sich unverringert ihr starkes Interesse für Politik und korrespondierte noch immer freimütig mit hervorragenden Männern. In letzter Zeit hatte auch ein schwaches Wiederaufflackern der Kriegshetze im Juni eine gewisse Verjüngung bei ihr hervorgerufen, die sich angesichts nationaler Krisen stets zeigte, sogar auch dann, wenn sie nur ein wenig in der Luft lagen. Bei einem Trompetenstoß ward ihr Geist immer lebendig, zog das Schwert aus der Scheide und stand Habacht. In solchen Zeiten stand sie zeitiger auf, ging später zur Ruhe, war gegen Zugluft weit weniger empfindlich und lehnte streng jede Zwischenmahlzeit ab. Auch schrieb sie Briefe eigenhändig, die sie sonst ihrem Sekretär diktiert hätte. Unglücklicherweise war die Kriegspanik sofort wieder erstickt, und sobald die Gefahr vorbei war, befand sie sich stets in gereizter Stimmung. Lady Valleys' Besuch kam daher rechtzeitig als Trost.
Sie küßte ihre Tochter mit kritischem Gesicht, denn in deren Benehmen lag etwas, das ihr mißfiel.
»Ja, natürlich bin ich wohlauf!« sagte sie. »Warum hast du Barbara nicht mitgebracht?«
»Sie war müde!«
»Hm! Sie fürchtet sich wohl, mir unter die Augen zu treten, seit sie jene Dummheit mit Eustace begangen hat. Du mußt auf das Kind achtgeben, Gertrude, sonst wird sie selbst noch etwas Verrücktes tun. Mir gefällt die Art nicht, wie sie Claud Harbinger zappeln läßt.«
Ihre Tochter unterbrach sie.
»Ich habe dir Schlimmes von Eustace zu berichten.«
Lady Casterleys Wangen verloren das bißchen Farbe, das sie gewöhnlich hatten; auch ihr Überfluß an reizbarer Energie schwand.
»Sag' es mir sofort!«
Nachdem sie es gehört hatte, erwiderte sie nichts; Lady Valleys gewahrte jedoch mit Bestürzung, daß ihre Augen plötzlich trübe blickten wie die einer Greisin.
»Nun, was hältst du für ratsam?« fragte sie.
Selbst müde und besorgt, wurde sie sich eines ganz ungewöhnlichen Gefühls der Entmutigung bewußt, als sie vor dieser stillen, unansehnlichen Gestalt in dem stillen, weißen Zimmer stand. Noch nie hatte sie ihre Mutter so gesehen – es war, als hörte diese die Niederlage auf ihren dunkeln Schwingen heranrauschen. Und plötzlich von Zärtlichkeit für den kleinen, gebrechlichen Leib ergriffen, der sie vor so langer Zeit geboren hatte, murmelte sie fast überrascht:
»Meine liebe Mutter!«
»Ja,« sagte Lady Casterley, als spräche sie zu sich selbst, »der Junge läßt alles sich ansammeln; er speichert seine Gefühle auf – sie brechen hervor und schwemmen ihn dann fort. Zuerst seine Leidenschaft; jetzt sein Gewissen. Er hat zwei Seelen in sich; das aber wird eine der beiden umbringen.«
Und plötzlich wandte sie sich ihrer Tochter zu und sagte:
»Hast du je von seiner Geschichte in Oxford gehört, Gertrude? Er hat ein einziges Mal über die Schnur gehauen und mit den Unreinen gezecht. Du hast es nie erfahren. Natürlich – du hast ja nie etwas von ihm gewußt.«
Ein Zürnen stieg in Lady Valleys auf, daß irgend jemand ihren Sohn besser kennen sollte, als sie selbst; doch sie vergaß es wieder, als sie die kleine Gestalt anblickte, und sagte seufzend:
»Nun?«
Lady Casterley murmelte:
»Geh nun, mein Kind, ich muß nachdenken. Du sagst, daß er Dennis um Rat fragen soll. Weißt du ihre Adresse? Frag' Barbara danach, wenn du nach Hause kommst, und teile sie mir telephonisch mit.« Und als ihre Tochter sie küßte, fügte sie grimmig hinzu:
»Ich werde es doch noch erleben, ihn im Sattel zu sehen, obgleich ich schon achtundsiebzig bin.«
Als das Geräusch des Autos ihrer Tochter in der Ferne verhallt war, klingelte sie.
»Wenn Lady Valleys anruft, Clifton, übernehmen Sie die Botschaft nicht, sondern holen Sie mich.«
Und als Clifton sich nicht rührte, fügte sie schroff hinzu:
»Nun?«
»Es wird doch wohl keine schlechte Nachricht über die Krankheit des jungen Herrn sein, hoffe ich!«
»Nein.«
»Verzeihen Sie, Mylady, ich habe schon lange Zeit etwas auf dem Herzen, wonach ich fragen möchte.«
Und der alte Mann hob sehr würdevoll die Hand, als wollte er sagen: ›Sie werden mir verzeihen, daß ich für den Augenblick nur ein Mensch bin, der zum Menschen spricht.‹
»Ich weiß,« fuhr er fort, »daß er sich für eine Dame interessiert; da ich Seine Lordschaft so gut kenne, habe ich mir schon große Sorgen gemacht, besonders auch, weil er so etwas Merkwürdiges sagte, als er im Juli hier war. Ich wäre sehr dankbar, wenn Sie mir versichern könnten, daß seine Karriere nicht gestört wird, Mylady.«
Der Ausdruck in Lady Casterleys Antlitz zeigte eine seltsame Mischung von Erstaunen, Güte, Abwehr und Ungeduld wie mit einem Kind.
»Nicht, wenn ich's verhindern kann, Clifton,« sagte sie kurz, »Sie brauchen sich wirklich nicht zu beunruhigen.«
Clifton verbeugte sich.
»Verzeihen Sie, daß ich davon gesprochen habe, Mylady;« ein Zittern flog über sein Gesicht mit den langen, weißen Bartkoteletten – »aber die Karriere des jungen Herrn liegt mir mehr am Herzen als meine eigene.«
Als er hinausgegangen war, setzte sich Lady Casterley in einen kleinen, niedern Sessel; so saß sie lange an dem ausgebrannten Kamin, bis das letzte Tageslicht erloschen war.