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Unweit vom Parlamentsgebäude, in dem so oft die Freiheit verkündet wird, die nur eine Halbwahrheit ist, bewohnte Charles Courtier zwei Zimmer zu fünfzehn Shilling wöchentlich. Ihr Hauptvorzug lag darin, daß der große Freiheitsheld nicht gebunden war, und die Zimmer stets zu seiner Verfügung standen, wenn er sich in London aufhielt. Denn obgleich seine Quartierfrau nicht dazu verpflichtet war, vermietete sie immer nur unter der Bedingung, daß sie jeden mit wöchentlicher Kündigung hinaussetzen konnte. Sie war ein sanftes Geschöpf, mit einem sozialistischen Bleigießer verheiratet, der zwanzig Jahre älter war als sie. Der würdige Mann hatte ihr zwei kleine Knaben geschenkt, und diese drei fesselten sie so sehr an ein regelmäßiges Leben, daß sie kein größeres Vergnügen kannte, als mit Courtier zusammen zu sein. Wenn er wieder einmal verschwunden war, um ein abenteuerliches Nomadenleben zu führen, Missions- oder Forschungsreisen zu unternehmen, verschloß sie seine Habseligkeiten in zwei Blechkoffer und stellte sie in einen Schrank, der ein wenig nach Mäusen roch. Sobald er zurückkam, wurden die Koffer wieder geöffnet, aus denen ein starker Duft von getrockneten Rosenblättern drang. Denn im Bewußtsein der Vergänglichkeit aller irdischen Dinge versorgte sie sich jeden Sommer bei ihrer Schwester, der Frau eines Handelsgärtners, mit einer Ladung dieses Artikels, und füllte damit voll leidenschaftlichen Eifers kleine Säckchen, die sie Jahr für Jahr in Courtiers Koffer legte. Dies und die Art, wie sie seinen Toast röstete – sehr knusprig – und sein Bettzeug lüftete – frisch und trocken –, war in der Tat das einzige, was sie für einen Mann tun konnte, der seiner Natur nach zur Unabhängigkeit neigte und gewohnt war, für sich selbst zu sorgen.
Bei den ersten Anzeichen seiner Abreise ließ sie gewöhnlich den Bleigießer und seine beiden Liebespfänder allein, schloß sich in irgend eine Kammer ein und weinte leise vor sich hin; aber nie wäre es ihr eingefallen, Courtier ihren Kummer zu zeigen, ebenso wenig, wie sie bei Geburt oder Tod geweint hätte, oder bei irgend einer unabänderlichen Trauer oder Freude. Angesichts der Wirklichkeiten des Lebens kannte sie von frühester Jugend an den Wert des einfachen Wortes ›sto – stare: in der Wirklichkeit stehen‹.
Und für sie war Courtier eine Wirklichkeit, die Wirklichkeit des Lebens, der Brennpunkt ihres Ehrgeizes, ihr Morgen- und ihr Abendstern.
Als er nun – fünf Tage nach seinem Abschiedsbesuch bei Mrs. Noel – seinen Elefantenhautkoffer verlangte, der ihn stets auf seinen Reisen begleitete, sperrte sie sich wie gewöhnlich in eine Kammer ein, erschien darauf wie gewöhnlich in seinem Wohnzimmer und trug auf einem Servierbrett einen Brief und ein paar Säckchen mit getrockneten Rosenblättern. Sie fand ihn in Hemdärmeln beim Packen seiner Sachen.
»Jetzt geht's wieder in die Welt hinaus, Mrs. Benton!«
Mrs. Benton faltete die Hände, denn sie hatte noch immer in Aussehen und Benehmen etwas von einem kleinen Mädchen an sich, und erwiderte mit ihrer leisen, aber eindrucksvollen Stimme:
»Ja, gnädiger Herr; und hoffentlich gehen Sie diesmal nicht wohin, wo's gar zu gefährlich ist. Mir kommt vor, daß Sie immer an so gefährliche Orte gehen.«
»Nach Persien, Mrs. Benton, wo die Teppiche herkommen.«
»Ach ja, gnädiger Herr! Ihre Wäsche ist soeben geschickt worden.«
Ihre anscheinend niedergeschlagenen Augen bemerkten eine Menge kleiner Einzelheiten: den Ansatz seines Haares, die Bewegung seines Rückens, die Farbe seiner Hosenträger. Plötzlich aber sagte sie mit veränderter Stimme:
»Sie haben wohl keine überflüssige Photographie, gnädiger Herr, die Sie uns dalassen könnten? Erst gestern hat Mr. Benton zu mir gesagt: ›Wir haben gar kein Andenken an ihn, wenn er einmal nicht mehr zurückkommt.‹«
»Hier ist ein altes Bild.«
Mrs. Benton nahm die Photographie.
»O!« sagte sie, »man sieht genau, wer es ist.«
Sie mußte das Bild sehr fest halten, denn ihre Finger zitterten; sie fügte hinzu:
»Ein Brief, gnädiger Herr. Der Botenjunge wartet auf Antwort.«
Während er den Brief las, sah sie mit Staunen, wie ihm beim Packen das Blut in den Kopf gestiegen war …
Als Courtier auf jenen Brief hin die bekannte Konditorei von Gustard betrat, war es noch nicht Teezeit, und zuerst bemerkte er im Zimmer niemand weiter als drei Frauen mittleren Alters, die Süßigkeiten verpackten; dann erblickte er in einer Ecke Barbara. Alles Blut war aus seinem Kopf gewichen; er war bleich, als er das mahagonifarbene Zimmer durchschritt, das nach Hochzeitskuchen duftete. Auch Barbara war bleich.
So dicht bei ihr zu sitzen, daß er ihre Wimpern zählen konnte, den Duft ihres Haares und ihrer Kleider einzuatmen, zuzuhören, wie sie zögernd und nachdenklich Miltouns Geschichte erzählte – es kam ihm vor wie eine Galgenfrist mit dem Strick schon um den Hals, während man ihm sagte, daß ein andrer Zahnweh habe. Er fühlte, daß das Schicksal ihm dies hätte ersparen können! Und plötzlich bedrängte ihn die Erinnerung an jenen Ritt über das sonnendurchglühte Heidemoor, als er den Inhalt des alten sizilianischen Volkslieds lebendig gemacht hatte: ›Hier will ich sitzen und singen.‹ Jetzt stand sein Sinn nicht nach einem Lied, und auch eine Liebste lag ihm nicht im Arm. Statt dessen stand eine Schale Tee vor ihm, Kuchenduft stieg ihm in die Nase und hie und da ein Hauch von Orangenblütenwasser.
»Ja, ja,« sagte er, als sie ihre Geschichte beendet hatte, »›Freiheit ist etwas Herrliches!‹ Wünschen Sie, daß ich Ihren Bruder besuche und Burns zitiere? Sie wissen natürlich, daß er mich für gefährlich hält.«
»Ja, aber er achtet und schätzt Sie.«
»Und ich achte und schätze ihn,« erwiderte Courtier.
Eine der ältern Frauen ging vorüber mit einer großen, weißen Pappschachtel, und das Knirschen ihres Fischbeinmieders unterbrach das Schweigen.
»Sie waren so lieb zu mir!« sagte Barbara plötzlich.
Courtiers Herz geriet in solchen Aufruhr, daß es stürmisch hämmerte, und in seine Teeschale starrend, entgegnete er:
»Jeder blickt mit Verehrung zum Abendstern empor. Ich werde Ihren Bruder sofort aufsuchen. Wann soll ich Ihnen Nachricht geben?«
»Morgen um fünf werde ich zu Hause sein.«
Er wiederholte: »Morgen um fünf,« und erhob sich.
Als er von der Tür her einen Blick zurückwarf, sah er, wie ihr Gesicht ratlos, fast vorwurfsvoll war und ging traurig fort. Der Duft von Kuchen und Orangenblütenwasser, das Knirschen des Fischbeinmieders, die Mahagonifarbe des Zimmers, das alles war ihm noch ganz gegenwärtig, aber in seinem Innern fraß eine dumpfe Wut über sich selber. Warum hatte er diese unerwartete Gelegenheit nicht ausgenützt? Warum hatte er ihr nicht seine leidenschaftliche Liebe erklärt? Er war ein Narr mit seinen Gewissensbedenken! Und dennoch – die ganze Sache war absurd! Sie war noch so jung! Er würde wahrhaftig froh sein freizukommen. Wenn er bliebe, mußte er fürchten, sich zum Narren zu machen. Aber die Erinnerung an ihre Worte: ›Sie waren so lieb zu mir!‹ wollte ihn nicht loslassen. Und auch nicht die Erinnerung an ihr Antlitz, so ratlos und so vorwurfsvoll. Jawohl, wenn er bliebe, würde er sich zum Narren machen! Er würde sie bitten, einen Mann zu heiraten, der doppelt so alt war als sie, der keine Stellung hatte außer seiner selbstgeschaffenen, und keinen Penny in der Tasche. Und er würde in einer Weise um sie werben, daß es ihr wahrscheinlich schwer fallen dürfte, nein zu sagen. Er würde sich gehen lassen. Und sie war erst zwanzig – trotz ihrer Weltdamen-Allüren doch nur ein Kind! Nein! Er wollte ihr dies eine Mal einen guten Dienst erweisen, wenn es ihm möglich war, und dann abfahren!