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Sechstes Kapitel

Drei Tage nach seinem ersten und – er versprach es sich – seinem letzten Gesellschaftsball erhielt Courtier einen Brief von Audrey Noel, worin sie ihm mitteilte, daß sie Monkland für einige Zeit verlassen hätte und jetzt in London in einer kleinen Etagenwohnung an der Themse nicht weit von Westminster wohne.

Als er am gleichen Tage hinging, leuchtete das Parlamentsgebäude im Sonnenlicht, das die feierliche Atmosphäre erwärmte, die so vielen weisen Reden entströmte. Von Zweifeln erfüllt schritt Courtier vorbei. Beim Anblick jener Türme empfand er stets etwas gemischte Gefühle. Er hatte nicht so viel von einem Dichter in sich, daß er in ihnen gar nichts anderes als nur ihre schönen Linien erblickt hätte, die sich vom Himmel abhoben, doch hatte er tatsächlich genug vom Dichter an sich, daß er gern mit einem Fußtritt etwas weggestoßen hätte; und in dieser Stimmung schlug er seinen Weg zum Themseufer ein.

Mrs. Noel war nicht zu Hause, da ihm jedoch ihr Mädchen sagte, daß sie sehr bald zurück sein würde, setzte er sich nieder, um zu warten. Die Wohnung, die im ersten Stock lag, gewährte einen Überblick über den Strom und war offenbar möbliert gemietet worden, denn es waren sichtbare Spuren eines kürzlich stattgehabten Kampfes mit dem Eduardischen Geschmack vorhanden, der vom Triumph über den Viktorianischen geschwellt, die Zimmer mit frühgeorgischen Überbleibseln angefüllt hatte. Courtier nahm Platz auf einem rosafarbenen Fenstersitz von besonderer Bequemlichkeit und geringem Alter, der unter allen Stilarten den entschiedenen Sieg davongetragen hatte, und ergab sich mit der Gemütsruhe eines alten Soldaten dem Nichtstun.

Dem beschützenden Gefühl, das er einmal für ein anmutiges, dunkelhaariges Kind gehegt hatte, gesellte er jetzt nicht allein das ritterliche Mitleid eines warmherzigen Mannes zu, der eine Frau im Unglück sieht; sondern er empfand auch die Ungeduld eines Menschen, der beim Anblick von Tyrannei in jeder Gestalt rebelliert, wenn er auch kraft seines Temperaments niemals sich selbst unterdrückt fühlen kann.

Der Anblick der grauen Türme, die gerade noch sichtbar waren, und unter denen Miltoun und sein Vater saßen, ärgerte ihn gründlich; sie symbolisierten für ihn die Autorität – die Feindin seiner unsterblichen Herrin, der herrlichen, unbesiegbaren, verlorenen Sache der Freiheit. Der Strom jedoch, der mit der Flut die schrankenlosen Wasser emporschwemmte, die alle Ufer benetzt, alle Dünen berührt und den Auf- und Niedergang aller irdischen Sterne mitangesehen hatte, besänftigte ihn bald so sehr mit seinem lautlosen Hymnus an die Freiheit, daß Audrey Noel, als sie die Hände voll von Blumen hereinkam, ihn mit geschlossenem Munde fest schlafend fand.

Geräuschlos legte sie die Blumen hin und wartete, bis er erwachte. Das sanguinische Gesicht mit dem vorstehenden Kinn, dem flammenfarbenen Schnurrbart und den über den geschlossenen Augen hochgezogenen Brauen zeigte sogar im Schlaf den Ausdruck fröhlicher Herausforderung; und in ganz London gab es vielleicht kein einziges Antlitz, das so sehr in jedem Zug das Gegenteil von seinem gewesen wäre, wie jenes dieser dunkeln, zarten, passiven Frau mit dem weichen Haar, die vor Freude zitterte beim Anblick des einzigen Menschen in der Welt, von dem sie etwas über Miltoun würde erfahren können, ohne dadurch ihre Selbstachtung zu verlieren.

Endlich wachte er auf und ohne Unbehagen zu zeigen, sagte er:

»Es sieht Ihnen gleich, mich nicht geweckt zu haben.«

Sie sprachen lange Zeit miteinander, der Verkehr am Themseufer begleitete schläfrig ihre Stimmen, die Blumen erfüllten einschläfernd das Zimmer mit ihrem Duft; und als Courtier fortging, tat ihm das Herz weh. Sie hatte gar nicht von sich selbst gesprochen, sondern fast die ganze Zeit von Barbara, deren Schönheit und Lebendigkeit sie pries; ein- oder zweimal erblaßte sie, und mit geheimer Gier sog sie jede Anspielung auf Miltoun ein. Offenbar hatten sich ihre Gefühle für ihn nicht geändert, wenn sie sie auch nicht zeigen wollte! Courtiers Mitleid für sie wurde geradezu heftig.

In dieser Stimmung, und von sehr gemischten Empfindungen erfüllt, warf er sich in seinen Gesellschaftsanzug und begab sich nach Valleys House, um dort die letzte Zusammenkunft der ›Season‹ mitzumachen, eine Veranstaltung, die – weil sie so spät im Juli abgehalten wurde – notgedrungen fast ausschließlich politischen Charakter hatte.

Wie er so die breite, schimmernde Treppe emporstieg, die so oft Klein-Anns Rechenkunst verwirrte, mußte er an ein Bild, ›Die Himmelsleiter‹, denken, das vor vierunddreißig Jahren in seiner Kinderstube gehangen hatte. Oben angelangt, stieß er auf Harbinger, der von Bekannten umgeben war und ihm kurz zunickte. Courtiers scheelsüchtigem Blick schien das hübsche Gesicht und die hübsche Gestalt des jungen Mannes siegessicherer und selbstzufriedener denn je, so daß er sardonisch lächelnd an ihm vorbeischritt und sich den Weg zu Lady Valleys bahnte, die er in einem kleinen, leeren Raume wie einen General aufgepflanzt bemerkte; den Strahlen eines Sternes gleich flossen unausgesetzt Menschenströme zu ihr hin und von ihr fort. Sie sah vortrefflich aus, denn sie paßte gut zu großen, spiegelglatt polierten Räumen; und sie begrüßte Courtier in besonders herzlichem Tone, aus dem, abgesehen von der Liebenswürdigkeit einem Menschen gegenüber, der sich hier wie ein fremder Vogel fühlen mußte, auch eine gewisse diplomatische Note klang, aus der sozusagen der Wunsch sprach, ihn wegzuscheuchen, und die Angst, etwas zu sagen, das ihn verärgern und noch gefährlicher machen könnte. Sie hätte gehört, sagte sie, daß er nach Persien ginge, hoffentlich würde er die Dinge dort nicht schwieriger machen wollen; mit den Worten: »Sehr nett von Ihnen, daß Sie gekommen sind!« wurde sie dann wieder zum Mittelpunkt ihres Schlachtfelds.

Als Courtier merkte, daß er erledigt war, trat er an eine Wand zurück und beobachtete die Leute. Derart isoliert, glich er einem einsamen Kuckuck, der das Kreisen einer Schar von Krähen verfolgt. Ihre Bewegungen schienen ihm, der all den Fetischen und Schlagworten von Westminster so fernstand, etwas bedeutungslos. Er hörte sie Miltouns Rede diskutieren, deren wahre Bedeutung augenscheinlich erst jetzt erfaßt wurde. Die Worte ›doktrinär‹, ›extrem‹ und ›eine neue Kraft‹ drangen an sein Ohr. Man stand offenbar vor einem Rätsel, war verwirrt, unangenehm berührt, als wäre ein Gestirn, mit dem man bisher nicht gerechnet hatte, plötzlich unter den vorhandenen Sternbildern erschienen.

Während Courtier diese Menge nach Barbara durchforschte, empfand er die ganze Zeit hindurch ein beunruhigendes Gefühl der Beschämung. Welches Recht hatte er, sich unter diese Leute zu mischen, die ihm so fremd waren, nur um Barbara zu sehen? Welches Recht hatte er eigentlich, nach diesem Mädchen zu verlangen, da er doch in seinem Herzen wußte, daß er ihr Milieu keine Woche ertragen könnte, und daß sie gänzlich ungeeignet für jedes Milieu wäre, das er ihr bieten könnte? Ganz zu schweigen von der Unwahrscheinlichkeit, daß das Herz eines Mädchens, das halb so alt wie er war, seinetwegen rascher schlagen würde!

Eine Stimme hinter ihm sagte: »Mr. Courtier!«

Er wandte sich um und Barbara stand da.

»Ich möchte mit Ihnen über etwas Ernstes sprechen. Wollen Sie in die Bildergalerie kommen?«

Als sie sich endlich neben einer Familiengruppe Georgianischer Caradocs befanden, wo die Menge ihre Unterhaltung kaum unterbrechen konnte, begann sie:

»Miltoun ist furchtbar unglücklich; ich weiß nicht, wie ich ihm helfen soll. Er macht sich noch krank!«

Und plötzlich sah sie in Courtiers Gesicht empor. In diesem Augenblick schien sie ihm recht jung und rührend. Wie aus den Augen eines Kindes leuchtete aus den ihren ein Hoffnungsschimmer, als verließe sie sich auf ihn, daß er dieses Wirrsal lösen, sie nicht nur über Miltouns Elend, sondern über das ganze Leben, seine wahre Bedeutung und das Geheimnis seines Glücks aufklären würde. Und er sagte sanft:

»Was kann ich tun? Mrs. Noel ist in London. Aber das nützt nichts, wenn nicht –« Da er nicht wußte, wie er diesen Satz beenden sollte, schwieg er.

»Ich wollte, ich wäre Miltoun,« murmelte sie.

Bei diesen sonderbaren Worten geriet Courtier stark in Versuchung, ihre Hände zu fassen, die ihm so nahe waren. Diese plötzliche Rebellion in ihr hatte sein ganzes Blut in Wallung gebracht. Sie aber schien bemerkt zu haben, was in ihm vorging, denn ihre nächsten Worte klangen kühl.

»Es hat ja keinen Sinn – es ist dumm von mir, Sie zu quälen.«

»Es ist ganz unmöglich, daß Sie mich quälen könnten.«

Ihre Augen blickten plötzlich von ihrem Handschuh auf, gerade in die seinen.

»Gehen Sie wirklich nach Persien?«

»Ja.«

»Aber ich will es nicht, wenigstens jetzt noch nicht!« Sie wandte sich plötzlich um und ließ ihn allein.

Courtier blieb in seltsamer Erregung stehen und rührte sich nicht von der Stelle, sondern schien sich um Rat an die ernsthaft dreinstarrende Gruppe Georgianischer Caradocs zu wenden.

Eine Stimme sagte:

»Ein gutes Bild, nicht wahr?«

Lord Harbinger stand hinter ihm. Und die Erinnerung an Lady Casterleys Worte; die Erinnerung an die beiden Gestalten, die Hand in Hand auf dem Balkon über der Schar der Wähler standen; seine ganze verborgene Eifersucht auf diesen hübschen jungen Riesen, sein Zorn gegen einen Menschen, in dem er gewissermaßen von vorneherein einen Parteigänger der Sieger wittern konnte; auch das volle Bewußtsein, daß er für eine verlorene Sache focht, und sein Zweifel darüber, ob es von ihm anständig wäre, diese Sache überhaupt als eine Sache zu betrachten – all das flammte in Courtier auf, so daß er statt einer Erwiderung ihn nur anstarrte. Aber auch in Harbingers Ausdruck kam ein Zug hartnäckiger Wut zum Vorschein, der sich langsam an die Oberfläche emporarbeitete.

»Ich sagte: ›Ein gutes Bild, nicht wahr?‹ Mr. Courtier!«

»Ich habe Sie gehört.«

»Und Sie hatten die Güte zu erwidern?«

»Nichts.«

»Mit der Höflichkeit, die man von Ihnen erwarten kann.«

Mit kalter Verachtung erwiderte Courtier: »Wenn Sie so zu mir sprechen wollen, so wählen Sie bitte einen Ort, wo ich Ihnen antworten kann,« wandte sich um und ging rasch davon.

Aber er knirschte mit den Zähnen, als er auf die Straße hinausschritt.

Das Gras im Hydepark war ausgedörrt und ohne Tau unter dem Himmel, dessen Sterne vom Hitz- und Staubnebel verhüllt waren. Noch nie hatte Courtier so dringend des Himmelstrostes bedurft, des seligen Bewußtseins der eigenen Nichtigkeit angesichts der dunkeln Schönheit der Nacht, die alle kleinliche Wut und alles Sehnen minderte, den Menschen ihrer Majestät teilhaftig werden ließ und ihn dadurch zum Bewußtsein der Größe emporhob.


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