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Die Tage, als Miltoun wieder aufstehen durfte, waren eine Zeit der Freude und der Sorge für die Frau, die ihn gepflegt hatte. Ihn im Sessel sitzen zu sehen, verblüfft über seine eigene Schwäche, war Seligkeit, doch der Gedanke, daß er nun nicht mehr gänzlich auf sie angewiesen, nicht mehr jenes heilige Wesen: ein hilfloses Geschöpf sein würde, erfüllte sie mit der Traurigkeit einer Mutter, deren Kind sie nicht länger nötig hat. Mit jeder Stunde würde er sich jetzt mehr von ihr entfernen, in die Feste seines eigenen Geistes zurückkehren. Mit jeder Stunde würde sie weniger seine Pflegerin und Trösterin sein und wieder mehr die Frau werden, die er liebte. Und obgleich dieser Gedanke aus der dunkeln Zukunft wie eine zauberhafte Blume aufleuchtete, erfüllte er die Gegenwart mit zu viel schwerer Unsicherheit. Auch fühlte sie sich jetzt, da all die Aufregung vorbei war, recht müde – so müde, daß sie kaum noch wußte, was sie tat oder wohin sie ging. Doch ein Lächeln verließ ihre Augen nicht mehr; es schwebte dort über den Schatten der Müdigkeit und versiegelte ihr den Mund.
Zwischen die beiden Bronzebüsten hatte sie eine Schale mit Maiglöckchen hingestellt; und in jeder freien Ecke in diesem Zimmer, das voll von Büchern war, stand eine kleine Vase mit Rosen, um Miltouns Genesung zu feiern.
Er lag jetzt in dem großen Lederstuhl, in einen türkischen Schlafrock von Lord Valleys eingehüllt, den Barbara mit Beschlag belegt hatte, da sie unter den konventionellen Kleidern ihres Bruders nichts hatte finden können, was einem Schlafrock ähnlich sah. Der Duft der Maiglöckchen hatte den Geruch der Bücher verdrängt, eine dunkle Biene erfüllte das Zimmer mit ihrem anheimelnden Summen.
Sie sprachen nichts, sondern lächelten nur leise und sahen einander an. In diesem stillen Augenblick, ehe die Leidenschaft zurückgekehrt war, um ihre Rechte geltend zu machen, flogen ihre Seelen durch die schläfrige Luft und gingen ineinander auf, so daß eines vom andern den sanften, tiefen Blick nicht wenden konnte. Vollkommen zufrieden, einander so nahe wie die Töne den Saiten einer Geige, klammerten sich ihre Seelen aneinander, die eine in der andern so verloren, daß keines von beiden während jener kurzen Spanne Zeit zu wissen schien, welches sein eigen Selbst war.
In Ausführung ihres Beschlusses begab sich Lady Valleys, die mit einem Frühzug nach London zurückgekehrt war, um ungefähr drei Uhr nachmittags mit Barbara nach dem Temple, und ließ unterwegs beim Arzt anhalten. Die ganze Sache wäre viel einfacher gewesen, wenn Eustace sich so weit erholt hätte, daß er sofort nach Valleys House hätte gebracht werden können; zu ihrer großen Erleichterung fand sie, daß der Arzt darin keine Gefahr erblickte. Die Erholung sei bemerkenswert rasch von statten gegangen – eine Gehirnentzündung wäre gerade noch vermieden worden! Lord Miltouns Konstitution wäre überaus kräftig. Ja, er wäre entschieden für eine Übersiedlung. Die Wohnung wäre in diesem Wetter zu dumpfig. Er sei gut gepflegt worden – ganz gewiß! Jawohl! Sehr gut! Und der Blick des Arztes wurde vielleicht ein wenig forschender. Keine berufliche Krankenpflegerin, wie er hörte. Nach der Übersiedlung könnten sie ebenso gut eine andere Krankenpflegerin nehmen. Die Dame könnte am Ende noch selbst krank werden. Ganz gewiß! Jawohl, er würde das arrangieren. Man sollte einen Krankenwagen nehmen. Das ließe sich alles noch am Nachmittag erledigen – sofort, er würde es selbst besorgen. Sie könnten Lord Miltoun ohne weiteres abholen, die Träger wüßten schon Bescheid. Und wenn er einmal in Valleys House wäre, im Augenblick, da er Appetit zeige, sofort an die See, sofort an die See! Zu dieser Jahreszeit gäbe es nichts Besseres! Was dann die Diät beträfe, so hielte er es für angebracht, etwas Appetitanregendes in die Speisen zu mengen, ganz wenig nur, viermal im Tag, mit einem Ei, mit Tapioka, mit Eiercreme. In einer Woche würde er wieder auf den Beinen sein, vierzehn Tage am Meer würden ihm seine frühere Gesundheit vollends wiedergeben. Überarbeitung – zu wenig Ruhe – nur noch eine Kleinigkeit habe gefehlt, und die Sache wäre ganz anders verlaufen. Natürlich, natürlich! Er würde vor dem Dinner nachschauen, um sich zu vergewissern. Die Übersiedlung könnte sich am Anfang ein wenig fühlbar machen! Er verbeugte sich, als Lady Valleys hinausging; und als sie fort war, setzte er sich ans Telephon, und ein Lächeln huschte um seinen schön geschnittenen Mund.
Ganz beruhigt durch diese Erklärungen, stieg Lady Valleys wieder zu ihrer Tochter ins Auto; während es aber durch den tausendfältigen Verkehrsstrom hinglitt, begann ihre Gefaßtheit einer ungewöhnlichen Nervosität zu weichen.
»Ich wünschte, meine Liebe,« sagte sie plötzlich, »daß ein anderer zu Eustace ginge! Angenommen, er weigert sich?«
»Das wird er nicht tun,« erwiderte Barbara; »sie sieht so erschöpft aus, das arme Kind. Überdies – –«
Lady Valleys sah das jugendliche Antlitz neben sich neugierig an, das hochrot geworden war. Jawohl, diese ihre Tochter war bereits eine Frau und besaß den ganzen Scharfblick einer Frau. Sie sagte ernsthaft:
»Es war ein unüberlegter Streich von dir, Babs; hoffentlich führt er nicht zu einem Unglück.«
Barbara biß sich auf die Lippen.
»Wenn du ihn gesehen hättest, wie ich ihn sah! Und zu welchem Unglück sollte es führen? Dürfen sie denn einander nicht lieb haben?«
Lady Valleys unterdrückte eine Grimasse. Das war ja ganz genau ihr eigener Standpunkt. Und dennoch – –!
»Das ist bloß der Anfang,« meinte sie. »Du vergißt, was Eustace für ein Mensch ist.«
»Warum kann man das arme Ding nicht aus dem Käfig lassen? Wer hat einen Nutzen davon? Mutter, wenn ich in meiner Ehe je frei werden will, so werde ich's auch!«
Barbaras Stimme bebte so sehr, ihr Ton war ihrem sonst so glücklichen Klang so unähnlich, daß Lady Valleys unwillkürlich ihre Hand ergriff und sie fest drückte.
»Mein geliebtes Kind,« sagte sie, »sprechen wir lieber nicht über so düstere Sachen.«
»Ich bleibe dabei; nichts soll mich davon abbringen.«
Doch Lady Valleys Antlitz sah auf einmal strenge drein.
»Das stellen wir uns nur so vor, Babs; es ist nicht so einfach.«
»Auf keinen Fall kann es schlimmer sein,« murmelte Barbara, »als lebendig begraben zu sein, wie es diese arme Frau ist.«
Statt einer Antwort murmelte Lady Valleys nur:
»Der Arzt hat den Krankenwagen für vier Uhr versprochen. Was soll ich ihr sagen?«
»Sie wird dich verstehen, wenn du sie ansiehst.«
Mrs. Noel selbst öffnete ihnen die Tür.
Zum erstenmal sah Lady Valleys Audrey in einem Hause und in die Sicherheit, die ihre Nervosität verdeckte, mengte sich wirkliche Neugier. Ein hübsches, ja ein schönes Wesen! Doch die durchaus echte Sympathie, die in ihren Worten »Ich bin Ihnen so dankbar! Sie müssen ganz erschöpft sein,« zum Ausdruck kam, verhinderte sie nicht daran, rasch hinzuzufügen: »Der Arzt meint, er müsse aus dieser heißen Wohnung fort und nach Hause. Wir wollen hier warten, während Sie's ihm sagen.«
Und dann sah sie, daß es richtig war: diese Frau gehörte zu den Leuten, die ›verstanden‹.
In dem dunkeln Gang blickte sie sich nach Barbara um.
Das Mädchen stand mit zurückgelehntem Kopfe an der Wand. Lady Valleys konnte ihr Gesicht nicht sehen; aber ganz plötzlich fühlte sie sich besonders unbehaglich und flüsterte:
»Zwei Mordtaten und ein Diebstahl, Babs; kommt das nicht in ›Unser gemeinsamer Freund‹ vor?«
»Mutter!«
»Was?«
»Ihr Gesicht! Wenn man eine Blume wegwirft, sieht sie einen so an!«
»Meine Liebe!« murmelte Lady Valleys sehr betrübt, »was für Sachen du heute sagst!«
Dieses Warten in einem dunkeln Gange, das Flüstern des Mädchens – es war alles so seltsam, so grundverschieden vom geregelten Leben!
Und dann erblickte sie durch die wieder geöffnete Tür Miltoun, der ganz blaß in einem Stuhle lag, noch immer aber jenen Zug um Mund und Augen hatte, durch den sich Lady Valleys stets wie gerügt vorkam, und der doch immer wieder heillos weltliche Gefühle in ihr wachrief. Sie sagte etwas schüchtern:
»Ich freue mich so sehr, daß es dir besser geht, mein Lieber! Was für eine Zeit du durchgemacht haben mußt! Es ist zu arg, daß ich bis gestern nichts davon gewußt habe!«
Doch Miltouns Antwort konnte einen wie gewöhnlich gänzlich aus der Fassung bringen.
»Danke! Es war eine herrliche Zeit – und jetzt werde ich wohl dafür büßen müssen, nicht wahr?«
Die arme Lady Valleys, die durch sein Lächeln abgehalten wurde, ihn zu küssen, konnte keinen Augenblick ruhig bleiben. Und in einem plötzlichen, rein weiblichen Impuls ließ sie eine Träne auf seine Hand fallen.
Als Miltoun das bemerkte, sagte er:
»Laß gut sein, Mutter! Ich gehe schon mit.«
Lady Valleys, von seinem Ton noch immer verletzt, faßte sich sofort. Und während sie Anstalten zum Fortgehen traf, beobachtete sie die beiden verstohlen. Sie sahen einander kaum an, und wenn sie es taten, so verstand sie ihre Blicke nicht. Der Ausdruck darin lag außerhalb ihrer Erfahrung, gehörte mit seinem leise lächelnden, fast leuchtenden Ernst gewissermaßen in eine andre Welt.
Außerordentlich erleichtert, nachdem man Miltoun in einen Pelz gehüllt im Wagen untergebracht hatte, verweilte sie noch, um mit Mrs. Noel zu sprechen.
»Wir stehen tief in Ihrer Schuld. Es hätte um so viel schlimmer werden können. Sie dürfen nicht verzagen. Gehen Sie jetzt zu Bett und ruhen Sie sich ordentlich aus.« Und von der Tür aus murmelte sie noch: »Er wird Sie besuchen, um Ihnen zu danken, wenn er wieder gesund ist.«
Wie sie die Treppen hinabging, dachte sie: ›Anonyma – Anonyma – ja, das war der richtige Name für sie.‹
Und plötzlich sah sie, wie Barbara die Treppe wieder emporgelaufen kam.
»Was gibt es, Babs?«
Barbara erwiderte:
»Eustace möchte ein paar von den Maiglöckchen oben mitnehmen.«
Sie lief an Lady Valleys vorbei und trat in Miltouns Wohnung.
Mrs. Noel war nicht im Wohnzimmer, und das Mädchen ging zur Schlafzimmertür und blickte hinein.
Audrey stand am Bett und strich mit der Hand immer wieder über das weiße Kissen. Barbara schlich sich geräuschlos wieder fort, ergriff den Strauß Maiglöckchen und eilte davon.