John Galsworthy
Auf Englands Pharisäerinsel
John Galsworthy

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Siebzehntes Kapitel

Wildnis

Als Schelton dieses Billett gelesen hatte, legte er es neben seine Hemdärmelknöpfe auf den Toilettentisch, starrte sich selbst im Spiegel an und lachte . . . Aber bald vergaßen seine Lippen das Lachen; er warf sich über das Bett und preßte sein Gesicht tief in die Kissen. So lag er, halb angekleidet, die ganze Nacht, und als er sich, noch in der ersten Morgendämmerung, erhob, hatte er noch keinen Entschluß gefaßt, was zu tun ist. Das Einzige, dessen er sich positiv bewußt geworden, war daß er Antonie nicht begegnen dürfe . . .

Schließlich warf er folgende Zeilen auf ein Papier:

»Infolge heftigen Zahnschmerzes verbrachte ich eine schlaflose Nacht und erachte es für das Beste, unverzüglich zum Zahnarzt zu gehen. Wenn ein Zahn gezogen werden muß, dann je eher, desto besser.«

Er adressierte dies an Mrs. Dennant und ließ es auf seinem Tisch zurück. Nachdem das getan war, warf er sich nochmals über das Bett und sank dieses Mal in einen leichten Schlummer.

Auffahrend erwachte er, kleidete sich an und verließ still das Haus. Es fiel ihm auf, wie sehr sein Fortgehen dem Ferrands ähnelte. »Beide sind wir nun Auswürflinge . . .« dachte er.

Bis Mittag schlenderte er umher, ohne zu wissen, oder ohne daß ihm daran gelegen wäre, wohin er ging. Dann betrat er ein Feld, warf sich neben einer Hecke nieder und schlief ein.

Ein Geschwirr erweckte ihn. Eine Kette Rebhühner, deren Flügel in der Sonne glitzerten, streifte zerstreut aus dem angrenzenden Senfgefilde heraus. Bald ließen sie sich in der bekannten, altjüngferlichen Weise von Rebhühnern nieder und begannen, einander zuzurufen.

Während er schlief, hatte sich ihm das grasende Vieh genähert, und eine schöne, rötlichbraune Kuh schnüffelte, mit seitwärts gekehrtem Kopfe, zart an ihm herum, ihren besonderen süßen Duft über ihn ausdünstend. Ihre Beine und ihr Rumpf waren eben so rassig, wie nur die irgend eines Rennpferdes. Es träufelte von den Winkeln ihrer schwarzen, nassen Lippen, ihr Auge blickte sanft, doch auch schelmisch. Im Einatmen der unbestimmten Süße des Senffeldduftes, zwischen seinen Fingern trockene Grashalme zerreibend, empfand Schelton einen Augenblick ein erhebendes Glücksgefühl – das Glück, das Sonne und Firmament, die ewige Ruhe und unsagbare Regungen der Felder spenden . . . Warum konnten die Menschenkinder ihr Ungemach nicht so sein lassen, wie diese Kuh die Fliegen, die sich rings um ihre Augen ansetzten? Wieder schlummerte er ein und erwachte mit lautem Lachen, denn er hatte folgendes geträumt:

Ihm kam es vor, als wäre er in einem Zimmer, das zugleich Vorraum und Empfangssalon irgend eines ländlichen Herrenhauses war. In der Mitte dieses Zimmers stand eine Dame, die in einem Handspiegel ihr Gesicht betrachtete. Hinter einer Tür oder einem Fenster war ein Garten mit einer Reihe von Monumenten zu sehen, und durch denselben schritten, anscheinend ohne Ziel und Zweck, viele Leute.

Plötzlich sah Schelton seine Mutter sich zu der Dame mit dem Handspiegel begeben, in der er nun Mrs. Foliot erkannte. Aber als er näher zusah, verwandelte sich seine Mutter in Mrs. Dennant und hob in einer Stimme zu sprechen an, die weder die seiner Mutter noch die Mrs. Dennants, sondern eine Stimme war, die ihm gewissermaßen als höchster Inbegriff einer vornehmen Lebensauffassung ertönte. »Je fais de la philosophie,«Ich philosophiere sprach sie; »ich nehme das Individuum als das, was es ist. Ich verurteile nichts und niemand; die Hauptsache ist, Geist und Verständnis zu besitzen.« Die Dame mit dem Spiegel fuhr fort, in das Glas zu blicken; und obwohl er ihr Gesicht nicht zu sehen vermochte, konnte er doch ihr Ebenbild sehen: – blaß, mit grünlichen Augen und einem Lächeln, das die Verkörperung von Spott war. Und dann, in einer im Nu sich vollziehenden Verwandlung, spazierte er, im Gespräch mit Mrs. Dennant, im Garten umher.

Es war diese Unterhaltung gewesen, aus der er lachend erwachte . . . »Aber, Dick,« hatte sie gesagt, »ich bin doch immer daran gewöhnt worden, das zu glauben, was man mir als wahr erzählte. Wie unfreundlich von ihr, mich zu verhöhnen, weil ich nun einmal konventionell bin.« Und ihre Stimme erregte Scheltons Mitleid, sie war wie die eines verängstigten Kindes. »Ich wüßte nicht, was ich täte, wenn ich mir selbst über Leben und Menschen eine Meinung bilden müßte . . . Dies ward ich doch nie gelehrt. Ich erhielt sie immer schön zubereitet, von zweiter Hand dargereicht . . . Wie sollte ich dabei ans Werk gehen? Man muß doch stets an das glauben, was die anderen Leute tun und für richtig halten . . . Nicht, als ob ich viel von den anderen Leuten hielte, aber Sie wissen doch wohl, wie es nun einmal ist – man fühlt sich dabei am gemächlichsten.« Und ihre Röcke raschelten. »Aber Dick, was immer auch geschehen möge« – nun wurde ihre Stimme flehend – »lassen Sie doch Antonie ihre Meinungen und Urteile auch von zweiter Hand gereicht bekommen! Bekümmern sie sich nicht um mich – sollte ich meine Meinungen mir schon selbst bilden müssen, dann muß ich es leider –, aber lassen Sie es bei ihr nicht dazu kommen. Möge sie irgend eine uralte ehrwürdige Ansicht hegen, so lange sie nur alt ist, ist sie gut . . . Es ist so gräßlich, durch eigenes Nachdenken zu neuen Ansichten zu gelangen . . .« Und da erwachte er.

Jenes Element, das man das künstlerische nennt, war sicherlich in seinem Traum gelegen, denn gerade in der unhöflichen Absurdität desselben hatte Mrs. Dennant Dinge ausgeplaudert, die klarer und vollkommener als sonst irgend etwas, das sie im Leben hätte sagen mögen, ihre Seele enthüllten . . .

»Nein,« sagte da eine Stimme dicht hinter der Hecke, »nicht viele Franzosen, Lob und Preis sei Gott dafür! Nur eine Schar Ungarn . . . Sir James, ein Stückchen Torte gefällig?«

Mit schläfriger Neugierde – noch halb im Schlafe – erhob sich Schelton und brachte seinen Kopf zu einer Öffnung in dem hohen, dicken Weidengeflecht der Hecke. Vier Männer saßen auf niederen Zeltstühlchen, rings um einen zusammenlegbaren Tisch, auf dem eine Torte und andere Delikatessen lagen. In geringer Entfernung davon stand ein durch hochaufgeschichtete Vogel- und Hasenleichen geschmücktes Jagdwägelchen. Schweifwedelnd kreisten langsam einige Hunde umher und ein Kammerdiener entkorkte die Flaschen . . . Schelton hatte vergessen, daß heute der Tag der Jagderöffnung war . . . Der Gastgeber war ein soldatischer und sommersprossiger Mann. Neben ihm saß ein älterer Herr mit viereckig breiter Kinnlade, der über eine scharfgeschnittene Nase zerstreut um sich blickte; wieder neben ihm saß eine bärtige Person, die alle den Kommodore nannten; und in dem vierten erkannte Schelton zu seinem Schrecken den Gentleman namens Mabbey. Eigentlich hätte es ihn kaum überraschen sollen, ihn hier, viele Meilen von seinem Gut entfernt, anzutreffen; gehörte er doch denjenigen vornehmen Kreisen Englands an, die in Gemeinschaft mit einem Kammerdiener und zwei Jagdflinten regelmäßig vom zwölften August bis Ende Januar auf die Pirsch gehen und sich hierauf entweder nach Monte Carlo begeben, oder die Zeit bis zum nächsten zwölften August verschlafen.

Er führte das Wort.

»Sir James, haben Sie vernommen, was für eine Jagdbeute wir am Zwölften erlegten?«

»Ah, ja! . . . was war es nur? Haben Sie Ihren Fuchs schon verkauft, Glennie?«

Schelton war noch unschlüssig, ob er sich davon schleichen sollte oder nicht, als des Kommodores dicke Stimme anhob:

»Mein Diener saggt mir, daß Mrs. Foliots – ham – arabische Stute gelähhmt ist. Will schie vielleicht Jungge werfen?«

Schelton beobachtete das schmunzelnde Lächeln, das auf aller Angesicht hervortrat . . . »Foliot hat nun teuer zu bezahlen für seine Jubelzeit; welch ein Esel, sich so erwischen zu lassen,« schien es zu sagen. Er wandte ihnen den Rücken zu und schloß die Augen.

»Noch Junge werfen?« antwortete Glennie, »glaube ich kaum . . .«

»Konnt' niemals was Besondres an ihr sehen,« fuhr der Kommodore fort; »so schtill, man wüßt' kaum, ob und wann sie im Zimmerr . . . Erinner' mich, schie einmal gefraggt zu hab'n: ›Also wasch habben Sie am libsten in der Welt, Mrs. Lutheran?‹ und was denken Sie, daß schie antwortete? ›Musik!‹ Haha!«

Mabbeys Stimme sprach:

»War immer ein rappiger Hengst, der Foliot. Nur die ganz rappigen Hengste können sich in derlei Dinge verstricken.« Man vernahm einen Ton, als ob er mit den Lippen schmatzte.

»Man behauptet,« sagte nun die Stimme des Hausherrn, »daß er jetzt nie einen Gruß erwidert. Ein merkwürdiger Fisch das! Man sagt auch, daß sie mit großer Liebe an ihm hängt.«

Da dieses Gespräch seiner persönlichen Begegnung der Dame und nun wieder dem Traume so hart auf dem Fuße folgte, fühlte sich der Horcher hinter der Hecke wie mit magischer Gewalt festgebannt.

»Wenn er sein Jagen und Scharfschießen an den Nagel hängt, dann weiß ich nicht, was er zum Teufel mit sich anfangen will. Er ist aus seinen Klubs ausgetreten. Was seine Chance, ein Parlamentsmandat zu bekommen . . .« sagte Mabbeys Stimme.

»Wie unendlich schade,« sprach Sir James. »Aber er wußte, was er zu erwarten habe! . . .«

»Überhaupt recht merkkwürdigge Kerle, alle die Foliots,« meinte der Kommodore. »Da warr sein Vather: der hat' die Gewohnheit, liebberr zu irgend einer Woggelscheuche zu reden, als zu einem von uns oder mir. Möcht' nur gern wischen, was er mit all' seinen Bferdden anfanggen wird? Seinen Fuchsbraunen nähm' ich schon gern.«

»Man kann heutzutage kaum mehr sagen, was Unsereins, wenn er sich verirrt, noch tun wird,« sprach Mabbeys Stimme – »sich dem Trunke ergeben oder Bücher zusammenschreiben . . . Old Charlie Wayne beguckt jetzt die Sterne und geht zweimal in der Woche nach dem Whitechapeler Armenviertel, um darin umherzustreifen. Dort lehrt er die Kinder schreiben.«

»Glennie,« unterbrach Sir James, »was ist denn aus Smollett, Ihrem alten Aufseher geworden?«

»Genötigt, ihn los zu werden.« Wieder versuchte Schelton, sich die Ohren zu verschließen, horchte jedoch abermals. »Ward eben ein bißchen zu alt. Verlor letzte Saison durch ihn eine Menge Eier.«

»Ah!« sagte der Kommodore, »wenn schie einmal die Eier überschehen, dann . . .«

»Tatsächlich kam auch noch etwas anderes dazu. Sein Sohn – Sir James, Sie erinnern sich seiner doch noch? er lud das Gewehr immer für Sie – verführte irgend ein Mädel. Als ihre Angehörigen ihr einen Schmiß gaben, nahm sie der alte Smollett bei sich auf! Hat mir einen biestigen Skandal angewirbelt. Nämlich das Mädel weigerte sich, den jungen Smollett zu heiraten, und der Alte bestärkte sie noch darin. Natürlicherweise hat der Pfarrer und das Dorf der Geschichte ein Ende gemacht. Meine Frau erbot sich, das Mädel in irgend einer jener – wie nennt man sie nur? – Besserungsanstalten unterzubringen, aber der Alte sagte ihr, sie brauche nicht zu gehen, wenn sie nicht wolle . . . Alles zusammen eine böse Geschichte. Brachte ihn ganz aus dem Takt. Ich bekam dabei letztes Jahr bloß fünfhundert Fasane, statt ihrer acht.«

Stillschweigen trat ein. Schelton lugte durch die Hecke. Alle verspeisten die Torte.

»In W–shire,« sprach nun der Kommodore, »heirraten – ham – alle und lebben dann auch immerr anschtändigg danach.«

»Ganz richtig,« bemerkte der Gastgeber, »das war denn doch zu frech, sich zu weigern, ihn zu heiraten. Sie sagte, daß er sie zum Besten hielte.«

»Heute tut' ihr schon sehr leid,« sagte Sir James; »der junge Smollett kam eben glücklich davon . . . Merkwürdig, dieser Starrsinn von manchem dieser alten Kerle!«

»Was machen wir nach dem Lunch?« fragte der Kommodore.

»Das angrenzende Feld,« sagte der Gastgeber, »ist Weideland. Wir stellen uns die Hecke entlang und treten den Mostrich bis zur Wurzel nieder. Dort soll es einige gute Rebhühner geben . . .«

Schelton erhob sich. Er kauerte sich zusammen und schlich sich zum Gatter.

»Am Zwölften gibt's ein Schießen in zwei Parteien,« folgte ihm aus der Entfernung Mabbeys Stimme nach.

Ob infolge seines Spazierganges oder seiner schlaflosen Nacht, Schelton taten alle Glieder seines Körpers weh. Aber er setzte die Landstraße entlang seinen Marsch fort. Einem Entschluß über das was anzufangen wäre, war er nicht näher gekommen . . . In vorgerückter Nachmittagsstunde erreichte er Maidenhead und nachdem er hier erst gefrühstückt hatte, bestieg er einen Zug, der nach London fuhr, und legte sich sogleich schlafen. An jenem Abend schlenderte er um zehn Uhr in den St.-James-Park und setzte sich dort nieder.

Durch mattes Laubwerk warf das Lampenlicht scheckige Strahlen auf alle die Bänke, die schon so vielen Landstreichern Rast gespendet hatten. Aber selbst die Dunkelheit hörte in London auf, ein gesetzlicher Mantel zu sein, der die Obdachlosen umhüllen durfte. Allein Mutter Nacht war lind und mondfinster, und noch hatte der Mensch sie ihrer Gemütlichkeit nicht zu berauben vermocht, wenigstens nicht gänzlich.

Schelton war nicht allein auf der Bank. Denn auf dem entfernten Ende saß ein junges Mädchen mit rotem, rundlichem und mürrischem Gesicht. Und weiter drüben und von ihr entfernter, befanden sich noch mehr solcher düsteren Bänke. Und es saßen düstere Gestalten auf ihnen – als ob die sozialen Einrichtungen des Lebens sie, wie das Geschoß einer endlosen Plunderreihe, ausgespien hätte . . .

»Ah!« dachte Schelton, in der träumerischen Art müder Leute, – »die sozialen Einrichtungen sind ganz gut und richtig; es hängt alles vom Geist ab, der sie beseelt . . .«

»Unrichtig?« sprach eine Stimme hinter ihm. »Ei, freilich! Alter Mann, Sie haben die falsche Richtung eingeschlagen.«

Mit einem durch die Dunkelheit hervorleuchtendem Gesicht, sah er einen Polizisten, der zu einer sonderbaren, gealterten Erscheinung sprach, die wie irgend ein bejahrter und zerzauster Vogel aussah.

»Besten Dank, Konstabler,« sagte der Greis. »Da ich den unrichtigen Weg kam, will ich mich hier ein wenig ausruhen.« Sein Priemchen kauend, schien er zu fürchten, sich die Freiheit des Niedersetzens herauszunehmen.

Schelton machte ihm Platz, und der alte Knabe setzte sich auf die leere Stelle.

»Bin gewiß, Sie entschuldigen mich, Sir« sagte er in bebendem Tonfall und griff hastig nach seinem abgenutzten Hut. »Ich sehe, Sie waren mir gegenüber Gentleman,« – und liebreich verweilte er bei diesem Wort – »möchte Sie also um alles in der Welt nicht stören. Bin nicht daran gewöhnt, in der Nacht im Freien zu sein, und die Sitze hier sind so voll . . . In meinem Alter muß man sich an irgend etwas anlehnen; nicht wahr, Sie entschuldigen mich doch, Sir?«

»Ganz natürlich,« entgegnete Schelton mild.

»Sie mögen mir's glauben, ich bin ein ehrbarer, alter Mann,« sagte sein Nachbar. »Habe mir nie im Leben irgend einen Übergriff erlaubt . . . Aber in meinen Jahren wird man doch schon etwas nervös. In den Straßen herumzulungern, wie ich's diese letzte Woche getan und dann in den Nachtherbergen zu schlafen . . . Oh, es sind scheußlich ordinäre Orte – ein fürchterlich rohes Pack dort! Ja,« wiederholte der alte Mann, als Schelton, verwundert ob der aufrichtigen Selbstbemitleidung in seiner Stimme, sich ihm zuwandte, »scheußlich ordinäre Orte!«

Eine Bewegung seines Kopfes, der einem schmalen, ausgerupften Hals entwuchs, wie dies bei einem alten Huhn häufig ist, rückte sein Gesicht in die hellere Beleuchtung. Es war lang, verkümmert und hatte eine große rote Nase. Seine dünnen, farblosen Lippen waren seitwärts verzerrt und geteilt, seinen halbzahnlosen Mund zeigend. Und seine Augen besaßen jenen erloschenen Ausdruck von Augen, deren ganze Farbe in einen dünnen Reif rings um die Iris läuft; und sie waren von dünnen zarten Häutchen überzogen, wie dies auch bei den Augen des Papageis der Fall ist. Er war glatt rasiert oder wollte wenigstens so erscheinen. Sein Haar – denn er hatte den Hut herabgenommen – war dicht und schlicht, von staubiger Farbe und, so weit dies zu sehen war, ohne auch nur ein Tüpfelchen Grau, recht hübsch und so ziemlich genau in der Mitte geteilt.

»Kann auch das noch ertragen,« sagte er abermals. »Ich kümmere mich um niemand, und niemand kümmert sich um mich . . . Was mich aber beängstigt,« – seine Stimme, als ob sie allzu entsetzt wäre, um noch beben zu kennen, ward fester – »das ist, daß man nie, von einem Tag zum andern Tag nicht weiß, was aus einem wird . . . Oh, das ist gräßlich, wirklich!«

»Läßt sich schon denken,« antwortete Schelton.

»Oh! so ist's,« sprach der alte Mann; »und der Winter steht vor der Tür. Ich war nie sehr an freie Luft gewöhnt, da ich mein ganzes Leben lang im Hausdienst stand. Aber mir liegt nichts daran, so lange ich nur irgend einen Weg vor mir sehe, auf dem ich mir mein Leben verdienen kann . . . Well, Gott sei Dank, endlich hab' ich« – und plötzlich ward seine Stimme frohgemut – »einen Posten gefunden – wenn auch der Straßenverschleiß mit Zeitungen nicht gerade das ist, woran ich gewohnt war . . . Aber die ›Westminster‹ soll, sagt man mir, eine der angesehensten Abendzeitungen sein – in der Tat, ich weiß, sie ist's. Nun hoffe ich doch zuversichtlich, dabei auf mein Brot zu kommen; ich versuche halt mein Möglichstes . . .«

»Wie fanden Sie den Posten?« fragte Schelton.

»Ich besitze gute Zeugnisse,« sagte der alte Knabe und machte dabei mit seiner fleischlosen Hand eine auf seine Brust weisende Geste, als ob er dort seine Zeugnisse verwahrte.

»Gott sei Dank, das kann mir niemand nehmen! Trenne mich nie davon . . .« Er tappte umher und brachte ein Päckchen hervor, dem er erst ein Blatt Papier entnahm, es zum Lichte hielt, dann noch eines, wobei er neugierig und spähend auf Schelton sah. »In jenem Haus, in dem ich geschlafen habe, geht's gar nicht ehrlich zu. Man hat mir dort ein Paket mit meinen Sachen gestohlen – ein reizendes Hemd war drin und auch ein Paar schöne Handschuhe, die mir ein Gentleman dafür schenkte, daß ich ihm sein Pferd hielt. Sollte man gegen die Leute keinen Prozeß anstrengen, Sir?«

»Hängt davon ab, was Sie beweisen können!

»Ich weiß, sie hatten sie. Ein echter Mann kämpft um seine Rechte, nur so ist's recht und billig . . . Ich kann es mir nicht leisten, prächtige Sachen wie jene, so mir nichts dir nichts zu verlieren. Glaube, ich sollte die Anklage erheben, nicht wahr, Sir?«

Schelton bezwang ein aufsteigendes Lächeln.

»Da!« sagte der Greis, mit zitternder Hand ein Blatt Papier glättend, »das ist von Sir George!« und seine verwitterte Fingerspitze zitterte auf der Mitte des Blattes: ›Joshua Creed stand als oberster Herrschaftsdiener fünf Jahre in meinen Diensten; während dieser ganzen Zeit entsprach er allen meinen an einen Diener gestellten Ansprüchen zur vollsten Zufriedenheit.‹ Und dieses hier,« er fuchtelte mit einem anderen herum, – »das da ist von Lady Glengow: ›Joshua Creed . . .‹ Wäre mir recht lieb, wenn Sie's läsen, da Sie so gütig zu mir gewesen sind.«

»Möchten Sie sich eine Pfeife stopfen?«

»Besten Dank, Sir,« erwiderte der greise Herrschaftsdiener und füllte seinen Tonkopf aus Scheltons Beutel. Dann begann er, zwischen Finger und Daumen einen Vorderzahn haltend, ihn zuerst zu betasten und rüttelte denselben mit einer Art melancholischen Stolzes hin und her.

»Mein Zahn fällt bald aus,« sagte er; »aber für einen Mann in meinem Alter erfreue ich mich noch einer ziemlich festen Gesundheit . . .«

»Wie alt sind Sie?«

»Zweiundsiebzig! Mit Ausnahme meines Hustens und meines Bruches, wie auch dieses Jammers hier« – er fuhr sich mit der Hand über sein Gesicht – »kann ich mich nicht beklagen . . . Schließlich hat jeder etwas, scheint's. Ich glaube, für mein Alter bin ich fast ein Wunder.«

Trotz seinem Mitleid hätte Schelton viel darum gegeben, hell auflachen zu können.

»Zweiundsiebzig!« sagte er. »Ja, ein sehr hohes Alter. Sie erinnern sich wohl des alten Englands von ehedazumal, wo es noch ganz anders zuging, als heute?«

»Ah!« sagte lebhaft der greise Herrschaftsdiener, »damals gab es noch die Gentry.Stand der Gebildeten und Besitzenden ohne Adelstitel in England; dazugezählt werden auch die Grundbesitzer, Gelehrten, Juristen, Offiziere, Geistlichen usw. Erinnere mich ihrer noch, wie sie zu Newmarket – mein Geburtsort, Sir – hinuntertrabten, mit ihrem eigenen Gespann. Damals gab's noch nicht so viele Schacherer und Händler in England . . . Auch gab's zu jener Zeit viel mehr von dem, was man die Milch menschlicher Güte und des Wohlwollens nennen möcht', in den Leuten – nichts von den riesigen Warenhäusern, da war vielmehr jedermann ein kleiner Besitzer. Und keiner wartete so begierig darauf, seinem Nebenmenschen die Kehle abzuschneiden, wie man so sagt . . . Und dann bedenken Sie doch den heutigen Brotpreis! Oh, du lieber Himmel, ein Laib Brot ist heut nicht ein Viertel von dem, was er war!«

»Und sind die Menschen heute glücklicher, als sie damals waren?« fragte Schelton.

Der greise Herrschaftsdiener sog an seiner Pfeife.

»Nein,« antwortete er und schüttelte seinen alten Kopf; »der Geist der Zufriedenheit ist verloren gegangen . . . Ich sehe, wie die Leute nach allen Seiten hin rennen, dahin, dorthin, Bücher lesen, und Dinge ergründen; aber sie sind nicht mehr so selbstgenügsam, wie sie es einst waren . . .«

»Ist's möglich?« dachte Schelton.

»Nein,« wiederholte der Greis, nochmals an seiner Pfeife schmauchend und nun eine mächtige Menge Rauch vor sich blasend, – »ich sehe nicht so viel Glück rings um mich herum, auch nicht mehr denselben guten, lieben Ausdruck in den Gesichtern . . . Ist auch nicht denkbar! Schauen Sie sich nur diese Automobile an. Man sagt, daß die Pferde allmählich verschwinden werden . . .« Und von seiner eigenen Folgerung wie vom Donner gerührt, saß er geraume Zeit schweigend, nur beschäftigt mit dem Anzünden und Wiederanzünden seiner Pfeife.

Das Mädchen am äußersten Ende der Bank rührte und räusperte sich, spuckte aus und sank wieder in sich zusammen. Ihre Bewegung löste einen Geruch muffiger Kleider aus. Der Polizist war näher gekommen und blickte forschend auf diese drei schlecht zusammengehörenden Gesichter herab. Sein Blick war, ehe er Schelton bemerkte, von jovialer Verachtung erfüllt, dann wurde er durch Neugierde modifiziert.

»Auch bei der Polizei gibt's gute Menschen,« sagte der greise Herrschaftsdiener, als der Konstabler vorübergegangen war, – »es gibt, wie Sie sehen können, ganz gute Menschen bei der Polizei. Aber dann gibt's auch solche, die einen wie ein Stück Schmutz behandeln – eine gräulich ordinäre Menschenklasse . . . Oh, meine Güte, ja, so ist's nun einmal. Sehen Sie nur, daß ein armer Teufel am Boden liegt, dann glauben sie, mit ihm so reden zu können, wie es ihnen beliebt . . . Ich selbst gebe ihnen keine Gelegenheit, mich zu quälen. Ich halte mich ganz für mich selbst und spreche höflich zu der ganzen Welt. Man muß ihnen unter Umständen sogar die Schuhriemen lösen, denn, du lieber Himmel, oh weh, wenn sie gegen einen unwirsch werden – es gibt welche darunter, die eine gräßlich gewissenlose Menschenart sind . . .«

»Wollen Sie die ganze Nacht hier zubringen?«

»Heut Nacht ist's recht schön und warm,« erwiderte der greise Herrschaftsdiener. »Ich sagte dem Mann jenes gemeinen Nachtasyls, ich sagte zu ihm: ›Ich will nichts mehr mit Ihnen zu tun haben!‹ Mein ganzes Leben lang war mein Motto: Aufrichtigkeit und Ehrlichkeit. Ich will mit diesen niederträchtigen Kerlen« – er machte eine vernichtende Geste – »nichts mehr zu tun haben,« nachdem sie mich so gemein behandelten, mir meine Sachen wegnahmen . . . Morgen miete ich mir eine Kammer. Für drei Schillinge die Woche kann ich doch eine Kammer bekommen, glauben Sie nicht auch, Sir? Well, dann werde ich gut dran sein. Fürchte mich jetzt nicht mehr, mein Gemüt ist beruhigt. Wenn ich mich nur über Wasser halten kann, mehr verlange ich ja ohnehin nicht . . . Und ich denke, es wird mir dabei ganz erstklassig ergehen . . .« Und er starrte Schelton an. Diesen überzeugte der Ausdruck seiner Augen und die halbeingeschüchterte Zuversicht der Stimme davon, daß der Alte in Wahrheit in banger Furcht ob seiner Gegenwart und Zukunft lebte. »So lang ich mich nur über Wasser halten kann,« sprach er nochmals, »brauch' ich kein Arbeitshaus und verliere auch nicht meine Ehrbarkeit . . .«

»Nein,« dachte Schelton und saß einige Zeit schweigend, ohne ein Wort zu äußern. »Wenn es Ihnen möglich sein sollte,« sprach er endlich, »dann suchen Sie mich auf. Hier ist meine Visitkarte.«

Mit einem Ruck kam der greise Herrschaftsdiener wieder zu sich; er war eingenickt.

»Besten Dank, Sir! Ich werde so frei sein,« sagte er mit jämmerlicher Bereitwilligkeit. »Ah so, bei Belgravia? Oh, kenne mich dort gut aus . . . Lebte in jener Gegend bei einem Gentleman namens Bateson – vielleicht kannten Sie ihn? Er ist nun gestorben – der honourable Bateson . . . Dank, Sir – ich werde sicher kommen.« Und hastig nach seinem abgenutzten Hut greifend, barg er Scheltons Visitkarte mühsam unter seinen Zeugnissen. Eine Minute später begann er aufs neue einzunicken . . .

Der Polizist ging zum zweitenmal vorüber. Seine Augen schienen zu fragen: »Was wohl dieser Stutzer da mit diesen zwei Heruntergekommenen zu tun haben mag?« Und Schelton fing seinen Blick auf.

»Aha!« dachte er, »so muß es sein, ganz genau so . . . Du weißt nicht, was du von mir zu denken hast – ein Mann in meiner Lebensposition sitzt da auf dieser Bank! Armer Teufel! Deine Tage damit verbringen zu müssen, um deine Mitmenschen herumzuschnüffeln und zu spionieren! Armer Teufel! Aber du bist dir dessen, ein armer Teufel zu sein, nicht bewußt, und so bist du denn auch keiner . . .«

Der Mann auf der nächsten Bank schneuzte sich – ein schrilles und mißbilligendes Schneuzen.

Abermals schritt der Polizist vorüber. Und als er sah, daß die beiden sozial tieferstehenden Geschöpfe schliefen, sprach er Schelton an:

»Sir, auf diesen Bänken ist es nicht ganz geheuer,« sagte er, »man kann nie wissen, neben wen man zu sitzen kommt . . . Wäre ich Sie, Sir, ich würde mich davon machen – wenn Sie nicht etwa die Nacht hier verbringen wollen, nicht dazu Lust haben.« Und er lachte, als ob er einen vortrefflichen Witz geäußert hätte.

Schelton blickte ihn an und spürte ein heftiges Verlangen zu fragen: »Warum gerade ich nicht?« Aber er empfand plötzlich, daß es höchst merkwürdig geklungen hätte. »Außerdem,« dachte er, »werde ich mich nur verkühlen . . .« Und er verließ, ohne ein Wort zu reden, den Sitz und schritt fürbaß, seinen Gemächern entgegen.



 << zurück weiter >>