John Galsworthy
Auf Englands Pharisäerinsel
John Galsworthy

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Erster Teil
In der Weltstadt London

Erstes Kapitel

Die gute Gesellschaft

An dem Bücherstande des Bahnhofes der Dover-Station stand ein stiller, wohlgekleideter Mann mit braunem Gesicht und kurzem, blondem Bärtchen, namens Schelton. Er war im Begriffe, nach London zu reisen und hatte seine Reisetasche in die Ecke eines Waggons dritter Klasse gelegt.

Nach seiner langen Fahrt klang ihm die weich-vokalische Stimme des Verkäufers, der den neuesten Roman anpries, recht angenehm; angenehm auch die selbstbewußten Antworten eines bärtigen Schaffners, wie selbst das plumpe Abschiednehmen eines Ehemannes von seiner Gattin. Packträger, ihre Handkarren antreibend; die graufarbige Dämmerung der Station; und der gutmütig törichte Humor, der an Leuten, Atmosphäre und Stimmengewirr haftete, all dies gewährte ihm ein trautes Gefühl, als wäre er schon zu Hause. Mittlerweile schwankte er zwischen dem Ankauf eines Buches, betitelt »Markt Harborough«, das er schon gelesen hatte, aber auch zum zweiten Male sicherlich genießen würde, und der »Französischen Revolution« von Carlyle, einem Buche, das er noch nie gelesen hatte, von dem er aber zweifelte, daß es ihm Vergnügen bereiten würde. Er fühlte, er sollte das letztere kaufen, konnte es aber auch nicht über sich gewinnen, dem ersteren zu entsagen. Während er noch zauderte, begann sich sein Coupé zu füllen; und so nahm er, rasch beide Bücher kaufend, einen Platz ein, von dem aus er seine Fahrgastrechte zu verteidigen vermochte. ›Nichts,‹ dachte er im Selbstgespräche, ›zeigt besser, was Leute wirklich sind, als das Reisen.‹

Der Waggon war fast voll; und nachdem er seine Reisetasche auf den Rechen gelegt hatte, nahm er seinen Sitz ein. Gerade im Momente, als der Zug sich in Bewegung setzte, kletterte noch ein Passagier, ein Mädchen mit bleichem Angesicht, herein.

›Ich war ein Narr, dritter Klasse zu fahren,‹ dachte Schelton und betrachtete, über eine Zeitung hinweg blickend, seine Nachbarn.

Es waren ihrer sieben. In der entferntesten Ecke saß ein greiser Landmann; seine leere Pfeife, deren Kopf herabhing, stand wie ein Stiel seines Gesichtes hervor, das triefäugig verdunkelt war von der Schmiere der Nichtigkeit wie sie auf jenen Gesichtern wächst, die ihr Leben im Strome harter Tatsachen verbringen. Neben ihm diskutierte ein rotwangiger, schwerschulteriger Mann mit einer grauhaarigen Person, deren Gesicht scharfgeschnittene Züge aufwies, über den Zustand ihrer Gärten. Und Schelton beobachtete ihre Augen, bis er inne ward, welch wunderbarer Ausdruck in ihnen lugte – eine behutsame Freundlichkeit, ein gemeinsames Mißtrauen; und daß ihre Stimmen, so fröhlich, ja jovial sie auch erklangen, fortwährend auf der Hut zu sein trachteten. Sein Blick wandte sich ab und prallte fast zurück vor dem halbrömischen, etwas verdrießlichen, aber höchst selbstzufriedenen Gesicht einer wohlbeleibten Dame in schwarzgrauem Kostüm, die das »Strand-Magazine« las, während ihre andere geschmeidige, plumpe Hand, befreit von ihrem schwarzen Handschuh und mit einem dicken Uhr-Bracelet geschmückt, auf ihrem Schoß ruhte. Eine jüngere, hellwangige und selbstbewußte Frauensperson saß neben ihr und betrachtete das blasse Mädchen, das soeben gekommen war.

›An diesem Mädchen ist ein gewisses Etwas,‹ dachte Schelton, ›was den andern nicht behagt.‹ Aus ihren braunen Augen sprach sicher scheue Furcht, ihr Kleid war nach ausländischer Mode geschnitten. Plötzlich traf ihn der Streifblick eines anderen Augenpaares; diese Augen, hervorstehend blau, starrten mit einer Art durchtriebener Verschmitztheit über einer dünnen, schiefhängenden Nase und waren im Nu wieder abgewandt. Sie machten auf Schelton den Eindruck, daß er beurteilt, verhöhnt, verführt und in irgend etwas eingeweiht werde. Er senkte seinen eigenen Blick nicht. Dieses sanguinische Gesicht mit seinem zweitägig unrasierten, rötlichen Bart, der langen Nase, den vollen Lippen, auf denen Ironie lag, gab ihm zu denken. ›Ein zynisches Gesicht,‹ dachte er; und dann durchfuhr es ihn: ›aber auch sensitiv, gefühlvoll!‹ und wieder: ›doch allzu zynisch.‹

Der junge Mann, dem es gehörte, saß mit an den Knieen geöffneten Beinen da, seine staubigen Hosenenden und Stiefel schräg unterhalb des Sitzes geworfen; seine gelben Fingerspitzen zogen sich krampfhaft zusammen, als ob er Zigaretten rollte. Ein sonderbares Gebaren des absoluten Losgelöstseins von seiner Umgebung lag in dieser jugendlichen, schäbigen Gestalt und nicht das kleinste Gepäckstückchen füllte den Rechen über seinem Kopfe.

Neben dieser wild-barbarischen Persönlichkeit saß das scheue Mädchen. Es war möglich, daß der Mangel an Äußerlichkeit in seinem Wesen sie veranlaßte, ihn zu ihrem Vertrauten zu erküren.

»Monsieur,« fragte sie, »sprechen Sie Französisch?«

»Vollkommen.«

»Könnten Sie mir also sagen, wo man Billete löst?«

Der junge Mann schüttelte seinen Kopf.

»Nein,« sagte er, »ich bin ein Ausländer.«

Das Mädchen seufzte.

»Aber was wünschten Sie eigentlich, Ma'moiselle?«

Das Mädchen antwortete nicht und schlang ihre Hände um einen alten Reisesack auf ihrem Schoße. Im Coupé war schwüle Ruhe eingetreten – eine Ruhe, wie sie etwa Tiere bei der ersten Annäherung einer Gefahr befällt. Aller Augen waren auf die Gestalten der beiden Ausländer gerichtet.

»Ja,« eröffnete der Mann mit dem roten Gesicht das Gespräch, »er war ein wenig angetrunken an jenem Abend – der alte Tom.«

»Ah!« antwortete sein Nachbar, »er hat es ja so wollen . . .«

Irgend etwas schien ihren Blick gegenseitigen Mißtrauens behoben zu haben. Die plumpe, geschmeidige Hand der Dame mit der römischen Nase krümmte sich krampfhaft; und diese Regung stimmte mit dem Gefühle überein, das Scheltons Herz in Aufregung versetzte. Es war fast so, als ob Hand und Herz sich fürchteten, um etwas gebeten zu werden.

»Monsieur,« sagte das Mädchen mit einem Beben in ihrer Stimme, »ich bin höchst unglücklich; könnten Sie mir raten, was ich tun soll? Ich hatte kein Geld für ein Billet.«

In dem Antlitz des ausländischen Jünglings flammte es auf.

»Ja?« sagte er; »nun – so etwas kann jedem passieren, natürlicherweise . . .«

»Was wird mit mir geschehen?« seufzte das Mädchen.

»Verlieren Sie nur nicht den Mut, Ma'moiselle!« Der junge Mann ließ seine Augen von links nach rechts schweifen und auf Schelton ruhen. »Obgleich ich noch keinen Ausweg für Sie sehen kann.«

»O, Monsieur!« seufzte das Mädchen. Und wenn es auch klar war, daß außer Schelton niemand wußte, was die beiden sprachen, verbreitete sich dennoch eine fröstelnde Atmosphäre im Waggon.

»Ich wollte, ich könnte Ihnen helfen,« sprach der ausländische Jüngling; »unglücklicherweise . . .« Er zuckte mit den Achseln, und wieder kehrten seine Augen zu Schelton zurück.

Dieser steckte die Hand in seine Tasche.

»Kann ich von irgendwelchem Nutzen sein?« fragte er in englischer Sprache.

»Gewiß, Sir! Sie könnten dieser jungen Dame die denkbar größte Gefälligkeit erweisen, wenn Sie ihr das Geld für ein Fahrbillet leihen wollten!«

Schelton zog einen SovereignEnglisches Pfund Sterling, etwa 20 Mark, 24 Kronen hervor, den der junge Mann an sich nahm. Indem er ihn dem Mädchen reichte, sagte er:

»Tausend Dank dafür – voilà une belle action!«das ist eine edle Handlung!

Besorgnisse, die gelegentliches Wohltun begleiten, stiegen in Schelton empor und ließen ihn nichts Gutes ahnen. Er fühlte sich beschämt, sie zu hegen und auch, sie nicht zu hegen, und er warf verstohlene Blicke auf diesen jungen Ausländer, der jetzt zu dem Mädchen in einer Sprache sprach, die er nicht verstand. Obgleich seinem ganzen Wesen nach ein Vagabund, bekundete des Burschen Gesicht doch einen scharfsinnigen Geist, Seelenstärke und Ironie, wie sie auf dem Gesichte eines Durchschnittsmenschen nicht zu finden sind.

Als er sich von jenen abwandte und den anderen Reisenden zukehrte, war Schelton sich eines inneren Aufruhrs, einer Geringschätzung und eines Mißtrauens bewußt, deren Sinn er sich nicht erklären konnte. Mit halbgeschlossenen Augen zurückgelehnt, versuchte er, diese neuartige Empfindung zu diagnostizieren. Es brachte ihn förmlich außer Fassung, daß die Gesichter und das Benehmen seiner Nachbarn all dessen ermangelten, was er aufgreifen und insgeheim hätte schmähen können. Sie alle fuhren in ihrem bewundernswerten, ihnen gelinde bewußt werdenden Phlegma fort, sich zu unterhalten; und doch wußte er bestimmt, so gut, als ob jeder es ihm privat zugeflüstert hätte, daß jener zweideutige Vorfall sie erschütterte. Ihre Schicklichkeitsbegriffe waren in Verwirrung geraten – etwas für ihre Behaglichkeit Gefährliches und Zerstörendes hatte sich ereignet, und dies war unverzeihlich. Jeder hatte eine besondere Art – humorvoll oder philosophisch, verachtend, sauertöpfisch oder verschlagen – wodurch er seinen Groll zeigte. Aber in blitzartiger innerer Selbstbeobachtung erkannte Schelton, daß jenes Gefühl auf dem Grunde ihres und seines eigenen Geistes ganz dasselbe war. Eben weil er ihren Unwillen teilte, war er über sie und sich selbst erbost.

Er blickte auf die plumpe, geschmeidige Hand der Frau mit der römischen Nase. Die Isoliertheit und das Wohlgefallen ihrer blassen Haut, der Zug passiver Selbstgerechtsamkeit in ihrer Krümmung, der affektierte Abstand des fetten kleinen Fingers von den anderen, hatten eine unberechenbare Wichtigkeit angenommen. All dies verkörperte das Werturteil seiner Mitreisenden, das Urteil der englischen guten Gesellschaft. Denn er wußte, mochte es für einen kulturell gebildeten Geist noch so abstoßend sein – jede Versammlung von acht Personen enthält in England, selbst in einem Coupé dritter Klasse, den Kern der guten Gesellschaft.

Aber als Verliebter, der sich erst neulich verlobte, besaß Schelton das Recht, von jedwedem Unmut verschont zu bleiben. Und so lenkte er seine Gedanken wieder auf das Abbild jenes kühlen, blonden Gesichtes, der raschen Bewegungen und des strahlenden Lächelns, das ihn in der Prüfungszeit seines Exils immer im Geiste verfolgte. Er nahm den letzten Brief seiner Verlobten vor, doch die Stimme des jungen Ausländers, der ihn in fließendem Französisch ansprach, veranlaßte ihn, den Brief rasch wieder einzustecken.

»Dem, was sie mir sagt, Sir,« sprach er und bückte sich nach vorn, damit das Mädchen ihn nicht hören könne, »entnehme ich, daß ihr Los ein recht unglückliches ist. Ich möchte ihr nur allzu gerne helfen, aber, wie Sie sehen« – und er machte eine Geste, wodurch Schelton wahrnahm, daß er seinen Überrock veräußert hatte – »ich bin kein Rothschild. Sie wurde von dem Manne, der sie unter einem Eheversprechen nach Dover brachte, im Stiche gelassen. Sehen Sie nur« – und durch ein subtiles Aufflackern seiner Augen markierte er, wie die zwei Damen sich von der jungen Französin sachte weggerückt hatten – »wie sie sich in acht nehmen, sie nicht einmal mit ihren Kleidern zu streifen. Das müssen höchst tugendhafte Damen sein. Was für eine feine Sache, diese Tugend, Sir! und noch ausgezeichneter, es positiv zu wissen, daß man sie besitzt, besonders dann, wenn es nicht wahrscheinlich ist, je in Versuchung zu geraten . . .«

Schelton war außerstande, ein Lächeln zu unterdrücken; und wenn er lächelte, wurde sein Antlitz milder.

»Bemerkten Sie nicht immer,« fuhr der jugendliche Ausländer fort, »daß diejenigen, die laut Temperament und Umständen am schlechtesten geeignet sind, ein Urteil zu fällen, gewöhnlich die ersten sind, über andere zu urteilen? Die Urteile der guten Gesellschaft sind immer kindisch, wenn man sieht, daß diese zum größten Teil aus Individuen besteht, die nie Pulver rochen. Und bedenken Sie auch das: die viel Geld haben, liefen wahrlich allzuviel Gefahr, sich davon trennen zu müssen, beschuldigten sie die Geldlosen nicht immer, Spitzbuben und Schwachköpfe zu sein!«

Schelton erbebte; und nicht nur ob dieses Ausbruches einer tiefen Weltanschauung bei dem ihm völlig Unbekannten in so armseliger Kleidung, sondern noch mehr darüber, daß hier seine eigenen Privatgedanken, in seltsame Worte gekleidet, zum Vorschein kamen. Indem er seine Empfänglichkeit für Ungewöhnliches durch die merkwürdige Anziehung ersetzte, mit der dieser junge Mann ihn erfüllte, sagte er:

»Ich nehme an, Sie sind ein Fremder bei uns hier?«

»Ich bin schon früher sieben Monate in England gewesen, aber noch nie in London,« antwortete der andere. »Ich hoffe, mich dort nützlich machen zu können – es wäre hohe Zeit dazu!« Eine Sekunde lag ein bitteres und pathetisches Lächeln auf seinen Lippen. »Es wird nicht meine Schuld sein, wenn es mir mißlingt. Sie sind Engländer, Sir?«

Schelton nickte.

»Verzeihen Sie meine Frage . . . Ihrer Stimme fehlt Etwas, das ich sonst bei Engländern fast immer bemerkte: so eine Art von – comment cela s'appellewie man sagt – hochmütigem Eigendünkel, der der größten Eigenschaft Ihrer Nation entströmt.«

»Und welche ist dies?« fragte Schelton lächelnd.

»Selbstgefälligkeit!« erwiderte der jugendliche Ausländer.

»Selbstgefälligkeit!« wiederholte Schelton; »nennen Sie das eine große Eigenschaft?«

»Monsieur, eigentlich sollte ich sagen, ein großer Fehler in einem sonst immerhin großen Volk. Sie sind gewiß die am höchsten zivilisierte Nation der Erde, leiden aber nicht wenig an dieser Tatsache. Wäre ich ein englischer Geistlicher, mein sehnlichster Wunsch würde sein, das Herz dieser Selbstgefälligkeit zu durchbohren.«

Schelton lehnte sich zurück und überdachte diese impertinente Zumutung.

»Hm!« sagte er schließlich, »Sie wären sehr unpopulär. Ich glaube kaum, daß wir Engländer mehr ein Kikerikivolk sind als andere Nationen . . .«

Der junge Ausländer machte ein Zeichen, wie um diese Meinung zu bekräftigen.

»In der Tat,« meinte er dann, »es handelt sich um eine hinlänglich weitverbreitete Krankheit. Schauen Sie sich nur diese Leute hier an« – und mit einem raschen Blick wies er auf die übrigen Insassen des Coupés, sämtlich höchst mittelmäßige Personen –, »was haben sie geleistet, das sie berechtigte, ihre tugendsame Nase über diejenigen zu rümpfen, die nicht auf ihren Wegen wandeln? Vielleicht ist es anders mit jenem alten Bauern, mag sein – denkt er doch überhaupt nicht! –, aber blicken Sie doch auf jene zwei, die mit ihren Stupiditäten über die Preislage von Hopfen, die Aussichten der Kartoffelernte, wie 's Georg geht und mit tausenderlei derartigen Dingen beschäftigt sind – betrachten Sie nur ihre Gesichter! Ich stamme selbst von der Bourgeoisie ab – hat diese je Beweise einer Eigenschaft geliefert, die ihr das Recht gäbe, sich auf unseren Rücken zu setzen? Keine Angst! Außer Kartoffeln versteht sie nichts, und was sie nicht begreift, fürchtet und verachtet sie – es gibt Millionen dieser Brut . . . Voilà la Société!Das ist die Gesellschaft! Die einzige Eigenschaft, die diese Leute zu besitzen bekunden, ist ihre Feigheit . . . Ich ward von Jesuiten erzogen,« schloß er; »dadurch eignete ich mir eine besondere Denkart an . . .«

Unter gewöhnlichen Umständen hätte Schelton im wohlerzogenen Stimmfall gemurmelt: ›Ah! wirklich!‹ und in den Spalten des »Daily Telegraph« Zuflucht gesucht. Anstatt dies zu tun, blickte er jetzt aus irgendeinem Grund, den er nicht begriff, den jungen Fremdling an und fragte:

»Warum sagen Sie all das zu mir?«

Der Strolch – denn nach seinen Schuhen zu urteilen, konnte er kaum Besseres sein – zögerte mit der Antwort.

»Wenn man, wie ich, viel auf Reisen war,« sagte er dann, wie fest entschlossen, die Wahrheit zu sprechen, »erlangt man einen feinen Instinkt der Auslese, zu wem und wie man zu reden hat. Es ist die Notwendigkeit, die ein Gesetz formuliert; will man leben, so muß man allerlei Dinge erlernen, um dem Leben ein Gesicht schneiden zu können . . .«

Schelton, der selbst einen gewissen Scharfsinn besaß, konnte nicht anders, als den ihn ehrenden Sinn dieser Worte zu erfassen. Es war, wie wenn jemand sagte: ›Ich brauche nicht zu befürchten, daß auch Sie mich mißverstehen und für einen Schurken halten, bloß weil ich die menschliche Natur studiere.‹

»Kann für das arme Mädel sonst nichts getan werden?«

Seine neue Bekanntschaft zuckte mit den Achseln.

»Ein zerbrochener Krug,« sprach er; »ihr ist nicht mehr zu helfen. Sie geht nach London zu einer Base und hofft, bei ihr Aufnahme zu finden. Sie haben ihr die Mittel gegeben, damit sie hinkommt – das ist alles, was Sie für sie tun können, Was aus ihr wird – läßt sich ja denken . . .«

Mit ernster Miene sagte Schelton:

»Oh! das ist aber entsetzlich! Wäre sie nicht zu bewegen, zurück nach Hause, zu ihrer Familie zu fahren? Gern würde ich –«

Der fremde Landstreicher schüttelte seinen Kopf.

»Mon cher Monsieur«, sagte er, »Sie haben augenscheinlich noch keine Gelegenheit gehabt, zu erfahren, was das ist: eine ›Familie‹. Die ›Familie‹ hat schadhaft gewordene Waren nicht lieb; sie hat nichts mehr gemein mit Söhnen, deren Hände in einer Schalterkasse untertauchten, oder mit Töchtern, die nicht mehr zu verheiraten sind. Was zum Teufel könnten sie mit ihr auch anfangen? Viel besser, ihr einen Stein um den Hals hängen und sie gleich ertrinken lassen. Die ganze liebe Welt ist wohl christlich, aber Christ und guter Samariter sind nicht dasselbe.«

Schelton blickte auf das Mädchen, das regungslos, die Hände über die Reisetasche gekreuzt, da saß, und eine wilde Empörung über die ungerechten Wellenschläge des Lebens stieg in ihm auf.

»Ja,« meinte der junge Ausländer, als ob er alle seine Gedanken läse, »was man so Tugend nennt, ist fast immer nur Glück.« Er rollte seine Augen, als ob er sagen wollte: ›Ach ja! diese konventionellen Lügen! Auf alle Fälle huldige man ihnen – aber man blähe sich nicht wie ein Pfau auf, weil man sie konserviert. Meine Freunde, das Ganze ist nichts als Feigheit und Glück – nur Feigheit und Glück!‹

»Hören Sie einmal,« sagte Schelton, »ich will ihr meine Adresse geben, und wenn sie zu ihrer Familie zurückzukehren wünscht, möge sie mir schreiben.«

»Sie wird nie zurückkehren wollen; sie wird nie den Mut dazu haben.«

Schelton fing den kriecherischen Blick aus des Mädchens Augen auf; in den mutlos schmachtenden Lippen lag etwas Sinnliches und die Überzeugung, daß des jungen Mannes Worte wahr seien, bemächtigte sich seiner.

›Ich tue wohl besser daran, wenn ich ihnen nicht meine Privatadresse gebe,‹ dachte er, einen flüchtigen Blick auf die Gesichter ihm gegenüber werfend. Und er schrieb folgendes nieder: ›Richard Paramor Schelton, per Adresse von Paramor und Herring, in Lincoln's Inn Fields.‹

»Sehr gütig von Ihnen, Sir. Mein Name ist Louis Ferrand; gegenwärtig ohne Adresse. Ich werde es ihr beibringen; in diesem Augenblick ist sie fast wie betäubt . . .«

Schelton wandte sich wieder der Lektüre seiner Zeitung zu, war aber viel zu aufgeregt, um lesen zu können; in seinen Ohren tönten immerfort die Worte des jungen Landstreichers. Er hob seine Augen. Die plumpe Hand der Dame mit der römischen Nase lag noch auf ihrem Schoße; sie stak wieder in dem Gehäuse ihres schwarzen Handschuhs mit weißer Stickerei. Ihr stirnrunzelnder, finsterer Blick war argwöhnisch auf ihn gerichtet, als ob er ihr Anstandsgefühl verletzt hätte.

»Er hat nichts von mir bekommen,« sagte die Stimme des rotgesichtigen Mannes, ein Gespräch über Steuerkommissäre beendend. Der Zug ließ einen lauten Pfiff vernehmen, und Schelton kam abermals auf seine Zeitung zurück. Diesmal kreuzte er die Beine, fest entschlossen, sich den neuesten Mordfall des Tages zu Gemüte zu führen; aber wieder ertappte er sich dabei, wie er das langnasige, spöttische Antlitz des Landstreichers betrachtete. ›Dieser Kerl‹ durchfuhr es ihn, ›hat zehnmal mehr als ich gesehen und erlebt, obgleich er um rund zehn Jahre jünger sein muß.‹

Um sich zu zerstreuen, wandte er sich dem Landschaftsbilde mit seinen Aprilwolken, schmucken Rainhecken und allerlei einfachen Schlupfwinkeln für das Getier zu. Allein sonderbare Gedanken befielen ihn, und er war mit sich selbst unzufrieden. Die geführte Unterhaltung, die Persönlichkeit dieses jugendlichen Ausländers regten ihn innerlich mächtig auf.

Es war ihm zumute, wie beim Aufbruch zu einer neuen Reise durch die Gefilde der Gedanken.



 << zurück weiter >>