John Galsworthy
Auf Englands Pharisäerinsel
John Galsworthy

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Dreizehntes Kapitel

Der Fluß

Gegen Ende August nahm Schelton eines Tages Antonie zu einer Bootfahrt auf dem Flusse mit – auf dem Flusse, der wie leise säuselnde Musik das Land liebkost; jenem Flusse des Schilfrohres und der Pappeln, der silbernen Schwanensegel, der Sonne, des Mondes und Gehölzes und der weißen schlummernden Wolken . . . Auf dem die Kuckucke und der Wind und das Wehr immerwährend singen; und wo in dem Aufblitzen nackter Körper, dem Spiele von Wasserlilienblättern, gespenstischen Baumstrünken und inmitten der Zwielichtgesichter knorrig verflochtener Baumwurzeln – Pan noch einmal aufersteht . . .

Die von Schelton gewählte Flußstrecke war noch unberührt von sonstigen Barkassen, Champagnerflaschen und lärmendem Gelächter. Sie war noch unzivilisiert und von jenen vermenschlichenden Einflüssen nur selten heimgesucht. Langsam ruderte er, still und in Gedanken vertieft, Antonie beobachtend, das Boot fort . . . Eine ihm ungewohnte Abgespanntheit haftete ihrem Wesen an. Unter ihren Augen lagen Schatten, als ob sie nicht geschlafen hätte; sanft glühte ein Rot auf ihren Wangen, unter ihrer Bluse schien es hell zu leuchten in goldigem Strahlenglanze . . . Sie hieß Schelton in die Riedpflanzen rudern und pflückte zwei rundliche Lilien, die wie Schiffe gegen das leise strömende Gewässer einhersegelten.

»Bring doch das Boot in den Schatten, bitte,« sagte sie, »mir ist zu heiß in der Sonne . . .«

Der Rand ihres Leinenhutes schützte ihr Gesicht vor der Sonne, aber ihr Haupt sank herab wie Blumenkelche am Mittag.

Schelton gewahrte, daß, wie ein allzu heißer Tag die eisige Frische einer nördlichen Pflanze erblassen läßt, ihr die Hitze wirklich wehe tat. Er hob und senkte die Wrickriemen, die Wellen rauschten und in ernstem Diminuendo schwammen sie, bis sie die Ufer berührten.

Das Boot schoß in eine buchtige Spalte, und Schelton erhaschte sich an den Zweigen eines überhängenden Baumes. Das Skiff ruhte, und in rebellischer Vibration gewann es, wie ein lebendes Wesen, sein Gleichgewicht wieder . . .

»Wie würde ich es hassen, in London zu leben,« sagte Antonie plötzlich, »die dortigen Armenviertel müssen grauenhaft sein . . . Wie traurig, daß es derartige Orte gibt! Aber es ist zwecklos, darüber viel nachzudenken.«

»Nein,« antwortete Schelton langsam, »ich meine auch, es hilft nichts . . .«

»Am unteren Ende von Cross Eaton befinden sich einige armselige Landhäuser. Ich ging eines Tages mit Miß Truecote hin. Die Leute dort wollen sich nicht selbst helfen. Es ist so entmutigend, Leuten zu helfen, die sich nicht selbst helfen wollen.«

Sie lehnte ihre Ellenbogen auf ihre Knie und blickte, ihr Kinn in ihre Hände schmiegend, zu Schelton auf. Rings um sie hing ein Zeltgewinde von weichem, dichtem Blätterwuchs, und unten war das Wasser so dunkel gefärbt in grüner Brechung der Lichtstrahlen. Weidenzweige schwangen sich oberhalb des Bootes, liebkosten Antonies Arme und Schulter; nur ihr Antlitz und Haar waren frei.

»So entmutigend,« wiederholte sie.

Eine düstere Stille trat ein. Antonie schien in nachdenklichen Gedanken versunken.

»Auch quälende Zweifel können da nicht helfen,« meinte sie plötzlich. »Wie kann vom Zweifeln etwas Gutes kommen? Die Hauptsache ist doch, Siege zu erringen.«

»Siege?« fragte Schelton und setzte hinzu: »Mir wäre es lieber, eine Sache zu verstehen, als sie zu erobern.«

Er war aufgestanden, griff nach einem im Wuchs verkümmerten Zweig und legte das Boot dem Ufer zu schräg auf die Kante.

»Wie kannst du es nur so heftig ins Gleiten bringen, Dick? So unvorsichtig könnte nur noch Ferrand handeln . . .«

»Eine solch schlechte Meinung hast du also von ihm?« fragte Schelton. Er fühlte sich dicht am Rande einer Entdeckung.

Sie begrub ihr Kinn tiefer in ihren Händen.

»Zuerst hatte ich ihn ganz gern,« sagte sie. »Ich hielt ihn eben für anders, als er ist. Ich dachte, er könne doch nicht wirklich . . .«

»Wirklich, was sein?«

Antonie antwortete nicht.

»Ich weiß es selbst nicht,« sagte sie endlich. »Ich kann es mir nicht erklären . . . Ich dachte . . .«

Schelton stand, sich an dem Zweige haltend, noch immer aufrecht da. Eine Unermeßlichkeit von winzigen Wellen wurde durch das Schwanken des Bootes befreit.

»Du dachtest – was?« fragte er.

Er hätte doch unbedingt wahrnehmen sollen, wie ihr Angesicht jünger, kindlicher, selbst schüchtern ward. Mit glatter, voller und jugendlicher Stimme sagte sie:

»Weißt du, Dick, ich glaube daran, daß man probieren muß . . . Ich weiß, ich probiere oft nicht einmal halb so viel, als ich sollte. Es führt zu nichts Gutem, fortwährend nachzudenken . . . Wenn man allzuviel nachdenkt, so kommt einem alles so vermischt vor, als ob es nichts Festes mehr gäbe, woran man sich anhalten könnte . . . Und nichts hasse ich so sehr, wie dieses Gefühl . . . Es ist, als ob man nicht mehr wüßte, was Recht und Unrecht ist! Manchmal denke ich nach und ich grüble nach – und es führt doch alles zu nichts, ist nur eine Zeitvergeudung – und am Ende dünkt einem noch, als ob man irgendwie unrecht getan hätte . . .«

Schelton runzelte die Stirn.

»Was keine Feuertaufe durchmacht, ist nutzlos,« sagte er, ließ den Zweig fahren und setzte sich. Befreit von seiner Hemmung, steuerte das Boot hinaus und der Strömung entgegen. »Aber was wolltest du über Ferrand sagen?«

»Ich lag gestern die ganze Nacht wach und fragte mich fortwährend verwundert, was dich ihn so lieb haben läßt? Er ist doch so bitterböse; ich fühle mich durch ihn bedrückt, unglücklich . . . Er scheint nie und mit nichts zufrieden zu sein . . . Und er verachtet« – ihre Züge nahmen einen harten Ausdruck an – »ich meine, er haßt uns alle!«

»So würde ich, wenn ich er wäre,« sagte Schelton unwillkürlich.

Das Boot trieb in der Strömung dahin und über ihre Gesichter huschten glitzernde Schimmer des Sonnenlichtes. Antonie nahm wieder das Wort.

»Mir kommt es so vor, als ob er unaufhörlich auf dunkle Dinge schaute . . . auch als ob . . . daß er . . . Lust und Vergnügen allzu gern genießt . . . Ich dachte – zuerst dachte ich,« stammelte sie, »daß wir ihm eine Wohltat erweisen würden . . .«

»Wir ihm eine Wohltat erweisen! Haha!«

Eine aufgescheuchte Wasserratte schwamm stromaufwärts um ihr Leben. Und Schelton erkannte nun, daß er eine furchtbare Sache begangen hatte. Mit einem einzigen Ruck hatte er Antonie in ein Geheimnis eingeweiht, das er bisher nicht einmal sich selbst gestand – das Geheimnis, daß ihre Augen nicht seine Augen, ihre Art der Anschauung von Leben und Dingen nicht die seine sei, noch je sein würde . . . Rasch dämpfte er sein Gelächter bis zur Unvernehmbarkeit. Antonie hatte ihren Blick gesenkt. Wieder gewann ihr Gesicht seine frühere Mattigkeit, aber heftig hob und senkte sich der Busen ihres Kleides. Schelton beobachtete sie, zermarterte sein Hirn nach Entschuldigungen für jenes verhängnisvolle Lachen. Er vermochte keine zu finden. Es war darin ein kleines Stück Wahrheit gelegen gewesen . . . Nahe am Ufer ruderte er langsam, in der ununterbrochen währenden Stille des Flusses dahin.

Erstorben war die Brise, kein Fisch kam an die Oberfläche. Außer der verlorenen Musik der Lerchen, pfiffen keine Vögel. Nur aus dem benachbarten Wald gurrte, ganz allein, eine einzelne Taube.

Sie blieben nicht mehr lange in dem Boote.

Auf der Heimreise im zweirädrigen Ponywägelchen stießen sie, als sie um eine Eckwendung der Landstraße bogen, auf Ferrand, der mit seinem Pince-nez, eine Zigarette zwischen den Fingern haltend mit einem Landstreicher plauderte, der im Straßendamm hockte. Der junge Ausländer erkannte sie und lüftete sofort seinen Hut.

»Da hast du ihn,« sagte Schelton, den Gruß erwidernd.

Antonie verneigte sich.

»Oh!« rief sie, als sie außer Hörweite waren, aus, »wie froh wäre ich, wenn er uns verließe! Ich kann seinen Anblick nicht ertragen. Mir ist's immer, als ob ich in ein finsteres Dunkel starrte . . .«



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