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Das Individuum auf der Haustorstufe war über seinen eigenen Knien eingeschlummert. Sein Aussehen verriet keinen größeren Wohlstand, als ein an ihm hängender, verschossener Überzieher und Stofflappen anstatt Fußsocken ihn aufzuweisen vermögen. Schelton bemühte sich, ihn ungesehen zu passieren, aber der Schläfer erwachte.
»Oh, Monsieur, Sie sind es!« sagte er. »Ich erhielt Ihren Brief heute Abend und begab mich unverzüglich hierher.« Er betrachtete sich selbst und kicherte, als wollte er sagen: »Aber in welchem Zustand ich bin!«
Tatsächlich war die Lage des jungen Ausländers noch verzweifelter als gelegentlich ihrer ersten Begegnung, und Schelton lud ihn ein, ihm hinauf zu folgen.
»Sie können wohl begreifen,« stammelte Ferrand, indem er seinem Gastgeber folgte, »daß ich Sie diesmal nicht verfehlen wollte. Wenn man so dran ist, wie ich . . .« und sein Gesicht verzog sich krampfhaft.
»Es freut mich, daß Sie kamen,« sagte Schelton in zweideutigem Ton.
Das Gesicht seines Besuchers wies den Wuchs eines einwöchigen rötlichen Bartes auf; die stark sonngebräunten Wangen verliehen seiner Erscheinung einen robusten Anstrich, ganz im Gegensatz zu dem Anfall von Zittern, der ihn, sobald er eingetreten war, ergriff.
»Setzen Sie sich doch – nehmen Sie Platz,« sprach Schelton. »Sie sind krank!«
Ferrand lächelte.
»Mir fehlt nichts,« sagte er, »bloß schlechte Nahrung . . .«
Schelton ließ ihn auf der Ecke seines Armstuhles sitzen und brachte ihm ein Gläschen Whisky.
»Einen Anzug brauchte ich,« sagte Ferrand, nachdem er ausgetrunken hatte. »Dieser hier ist wirklich nicht mehr zu tragen.«
Diese Behauptung stimmte, und Schelton legte einige Kleidungsstücke in das Badezimmer; dann lud er seinen Besucher ein, sich wie zu Hause zu fühlen. Während der letztere dieser Aufforderung entsprach, genoß Schelton den Luxus der Selbstverleugnung, suchte allerlei Dinge zusammen, die er selbst nicht mehr verwendete, und legte sie in zwei lederne Handtaschen. Nachdem er dies getan, erwartete er die Wiederkehr seines Besuchers.
Endlich tauchte der junge Ausländer wieder auf, wenn auch unrasiert und ohne seinen Schuhen etwas vergeben zu müssen, so doch in anderer Hinsicht mit der vornehmen Gebärde eines überreichen Mannes.
»Man fühlt sich da gleich ein bißchen anders,« sagte er. »Nur fürchte ich, die Schuhe . . .« und indem er seine oder richtiger Scheltons Socken herabzog, wies er Wundgeschwüre in der Größe einer halben Krone dar. »Man kann nicht säen, ohne die eine oder andere Ernte einzuheimsen. Mein Magen ist zusammengeschrumpft,« fügte er ungeniert hinzu. »Um alles kennen zu lernen, muß man leiden. Voyager, c'est plus fort que moi!«Das Reisen lockt mich unwiderstehlich an
Schelton unterließ es, zu bemerken, daß es sich hier auch um eine Methode handeln mochte, die natürliche Abneigung des menschlichen Triebes gegen die Arbeit zu verbergen – es lag so ein Anflug von Pathos, eine Anregung, wie etwa: Gott-weiß-was-da-noch-hätte-sein-mögen, in dem Wesen dieses Kerls.
»Ich habe meine Illusionen längst aufgezehrt,« sagte der junge Ausländer und rauchte seine Zigarette. »Wenn Sie ein paar Mal hart an der Grenze des Verhungerns sind, gehen Ihnen die Augen auf. Savoir, c'est mon métier; mais remarquez ceci, monsieur:Das ist nämlich mein Geschäft, aber beachten Sie folgendes, mein Herr Es sind nicht immer die Geistigen, die Erfolg haben.«
»Wahrscheinlich geben Sie Ihren Posten,« sagte Schelton, »wenn Sie einen solchen finden, bald wieder auf?«
»Sie beschuldigen mich der Unbeständigkeit? Darf ich Ihnen erklären, was ich darüber denke? Ich bin aus Ehrgeiz unbeständig; ich trachte wieder eine unabhängige Stellung zu erlangen. Ich lege meine ganze Seele in meine Versuche, aber sobald ich erkenne, daß ich keine Zukunft in dieser oder jener Richtung habe, gebe ich sie auf und gehe anderswohin . . . Je ne veux pas être rond de cuir,Ich will kein Sklave sein mein Rückgrat brechen lassen, um sechs Pence per Tag erübrigt und nach vierzig Jahren genug erspart zu haben, damit ich die Überreste einer erschöpften Existenz hinauszerren kann . . . Derartiges steckt nicht in meinem Charakter.«
Diese unverblümte Umschreibung der Worte: »Ich werde einer Sache recht bald müde,« drückte er mit einem Gebaren aus, als ob er Schelton Einblick in ein kostbares Geheimnis gewähre.
»Ja, es muß eine harte Lebensschule sein,« pflichtete letzterer widerwillig bei.
Ferrand zuckte mit den Achseln.
»Nicht alles ist von Butter,« entgegnete er, »und oft ist man auch genötigt, keine allzu delikaten Dinge zu begehen. Ich bin auf nichts, außer auf meine Offenherzigkeit stolz.«
Indessen, gleich einem gewiegten Chemiker, brachte er ihm in behutsamen Dosen alles bei, was Schelton für den Augenblick wohl ertragen konnte. ›Ja, ja,‹ schien er zu sprechen, ›du möchtest mir gern einreden, daß du eine vollkommene Lebenserkenntnis besitzest –: keine Moral, keine Vorurteile, keine Illusionen. Du möchtest gerne haben, ich solle meinen, du fühltest dich auf dem Niveau der Gleichheit mit mir: ein menschliches Tier, das sich mit einem andern unterhält, ohne irgendwelche Schranken der Position, des Geldes, der Kleidung und derlei mehr – »ça, c'est un peu trop fort! Du bist wohl die beste Imitation, die mir in deiner Klasse über den Weg lief, trotz deiner unglücklichen Erziehung, und ich bin dir dafür dankbar, aber dir alles zu bekennen, was mir durch den Kopf geht, würde meinen Aussichten bei dir schaden . . . Das kannst du auch kaum von mir erwarten . . .‹
Recht eindrucksvoll sah er – mit seinem Gebaren einer natürlichen, fast sensitiven Affektation – in einem von Scheltons alten Gehröcken mit Schößen aus. Das Zimmer nahm sich gleichfalls aus, als ob es ihn gewohnt wäre, und noch erstaunlicher war das Gefühl der Vertraulichkeit, das er einflößte, wie wenn er ein Teil von Scheltons Seele wäre. Es versetzte ihm förmlich einen Stoß, sich vorzustellen, daß dieser junge, ausländische Vagabund einen solchen Raum in seinen Gedanken einnahm. Die Pose seiner Gliedmaßen und seines Kopfes, unregelmäßig, aber keineswegs plump; seine desillusionierten Lippen; die Rauchringe, die ihnen entstiegen – alles bekundete Rebellion, den Umsturz von Gesetz und Ordnung. Seine dünne, etwas schief sitzende Nase, die rapiden Blicke seiner schielend rollenden, hervorstechenden Augen waren die Schlauheit selbst. Er vertrat die Unzufriedenheit mit dem allgemein Gültigen.
»Wovon ich lebe, wenn ich auf der Walze bin?« sprach er. »Well, da gibt es die Konsulate . . . Diese Methode ist nicht sehr zart, aber wenn sich die Frage des Verhungerns aufwirft, ist vieles erlaubt. Außerdem sind diese Gentlemen doch nur für diesen Zweck geschaffen worden . . . In Paris gibt es eine Koterie deutscher Juden, die vollständig von den Konsuln lebt.« Er zögerte den Bruchteil einer Sekunde und hub dann wieder an: »Ja, Monsieur! Wenn man Dokumente besitzt, die auf einen passen, kann man bei sechs oder sieben Konsuln in einer einzigen Stadt anpochen. Man muß ein oder zwei Sprachen können; aber die meisten dieser Herren beherrschen die Zungen des Landes, das sie vertreten, selbst nicht gerade perfekt . . . Das hieße, Geld unter falschen Vorspiegelungen erlangen? Well, sehr richtig. Aber welcher Unterschied besteht im Grunde zwischen all dem ehrbaren Pack von Direktoren, modischen Ärzten, Arbeitgebern, unsoliden Bauspekulanten, Militaristen, Landpredigern und den Konsuln selbst, die alle doch Geld beziehen und keinerlei Werte dafür geben, und jenen armen Teufeln, die mit weit größerem Risiko dasselbe tun? . . . Notwendigkeit zeugt das Gesetz. Wenn alle diese Gentlemen in meiner Lage wären, meinen Sie, sie würden zögern?«
Scheltons Gesicht blieb bedenklich, Ferrand aber fuhr unverzüglich fort: »Sie haben recht, sie würden zögern, aber aus Furcht, nicht aus Prinzip. Man muß schon in arger Klemme stecken, um diese Unartigkeiten zu verüben. Schauen Sie aber tief genug und bald werden Sie sehen, welche gemeine Dinge täglich von den Hochangesehenen Englands begangen werden – und wahrlich aus keinem zur Hälfte so guten Grund, als es der Mangel an einer Mahlzeit ist . . .«
Auch Schelton griff nach einer Zigarette – auch er bezog seine Einkünfte aus Eigentumstiteln, für die er keinerlei Arbeitswerte erbrachte.
»Ich kann Ihnen ein Beispiel bieten,« sagte Ferrand, »was durch Standhaftigkeit zu erreichen . . . Eines Tages, in einer deutschen Stadt – etant dans la misèreals ich in Not war –, beschloß ich, es beim französischen Konsul zu versuchen. Well, wie Sie wissen, bin ich ein Flamländer, aber von irgendwo mußte ich etwas herausschrauben. Er weigerte sich, mich zu empfangen; ich setzte mich, um auf ihn zu warten. Nach etwa zwei Stunden bellte eine Stimme heraus:
– Ist das Vieh schon weg? und mein Konsul erscheint. – Für Kerle wie dich habe ich nichts, sagte er, fort mit dir.
›Monsieur,‹ antwortete ich, ›ich bin Haut und Knochen . . . Ich bedarf wirklich irgendeiner Unterstützung.‹
– Hinaus mit dir – sagt er –, oder die Polizei wird dich hinauswerfen.
»Ich rühre mich nicht von der Stelle. Noch eine Stunde verstreicht und er kehrt wieder.«
– Noch immer hier? – sagt er. – Man hole einen Schutzmann.
»Der Schutzmann erscheint.«
– Herr Schutzmann – spricht der Konsul – werfen Sie dieses Geschöpf hinaus.
›Herr Schutzmann,‹ sage ich, ›dieses Haus steht auf exterritorialem französischen Grund!‹ Selbstredend hatte ich damit gerechnet. Auch hat man in Deutschland diejenigen, die die Geschäfte der Franzosen führen, nicht allzu lieb.
– Er hat recht, sagte der Schutzmann; – ich kann da nichts tun.
– Sie verweigern seine Abführung?
– Absolut.
»Und er ging weg.«
– Was glaubst du denn eigentlich durch dein Hierbleiben zu erreichen? fragt mein Konsul.
›Ich habe weder zu essen noch zu trinken und auch nicht, wo ich schlafen könnte,‹ sagte ich.
– Für wieviel wirst du weggehen?
›Für zehn Mark.‹
– Da hast du sie; und nun hinaus mit dir!
»Lassen Sie mich es Ihnen sagen, Monsieur, man darf keine dünne Haut haben, wenn man einen Konsul ausbeuten will!«
Langsam rollten seine gelben Finger den Stummel seiner Zigarette, seine ironischen Lippen zuckten. Schelton gedachte seiner eigenen Lebensunkenntnis. Er konnte sich nicht erinnern, je an einer Mahlzeit Mangel gelitten zu haben . . .
»Ich glaube,« sagte er matt, »Sie haben in Ihrem Leben oft Hunger gelitten?« Denn da er sich stets so vorzüglich sättigen konnte, fesselte ihn die Vorstellung des Hungers bei anderen.
Ferrand lächelte.
»Vier Tage ist meine längste Hungerperiode,« sprach er. »Sie werden mir diese Geschichte vielleicht nicht glauben . . . Es war in Paris und ich hatte mein Geld beim Wettrennen verspielt. Ich erwartete welches von zu Hause, es kam aber nicht. Vier Tage und Nächte lebte ich damals von Wasser. Mein Anzug war hochelegant und ich besaß sogar Juwelen; aber ich brachte es nicht über mich, sie zu versetzen. Am meisten litt ich bei dem Gedanken, daß die Leute meine Lage erraten könnten. Sie erkennen mich jetzt wohl nicht wieder?«
»Wie alt waren Sie damals?« fragte Schelton.
»Siebzehn; merkwürdig, wie man in diesem Alter noch ist . . .«
Wie im Aufblitzen eines Innenblickes sah Schelton den gutgekleideten Jüngling mit sensitivem, glatten Gesicht, fortwährend in den Straßen von Paris umherlaufend, aus Angst, daß die Leute den Zustand seines Magens erkennen könnten. Die Erzählung war ein wertvoller Kommentar. Doch seine Gedanken wurden brüsk unterbrochen; als er in Ferrands Antlitz blickte, sah er mit Bestürzung, daß Tränen über dessen Wangen rollten.
»Ich habe schon zu viel gelitten,« stammelte er, »jetzt liegt mir gar nichts mehr daran, was aus mir wird . . .«
Schelton war fassungslos; er wünschte, ihm einige Worte der Sympathie zu sagen, aber als Engländer konnte er seine Augen nur abwenden.
»Auch für Sie kommt ein Wendepunkt,« sagte er schließlich.
»Ah! Wer einmal mein Leben durchlebt hat,« brach sein Besucher verzweifelt aus, »der erwartet nichts Gutes mehr. Mein Herz ist in Fetzen . . . Finden Sie mir doch etwas in dieser Menagerie des Daseins, das wert wäre, sich ihr zu erhalten.«
Wenn auch tief gerührt, konnte Schelton sich doch nur hin und her bewegen auf seinem Sessel. Er war eine Beute des Rasseninstinkts, vielleicht sogar einer tief eingewurzelten Überzartheit der Seele, die es ihm verbot, seine Gefühlsregungen zu entblößen, wie sie auch vor der Enthüllung derselben durch andere Leute zurückschreckte. Er konnte sie noch leidlich auf der Bühne ertragen, konnte sie in einem Buch ertragen, aber im wahren Leben konnte er sie nicht ertragen. Als Ferrand ihn mit einer Ledertasche in jeder Hand verlassen hatte, setzte er sich hin und teilte Antonie mit:
». . . Der arme Kerl brach förmlich zusammen und saß, weinend wie ein Kind, vor mir, und statt mich zu dauern, fühlte ich mich wie zu Stein werden. Je mehr ich ihm mein Mitgefühl erweisen wollte, desto schroffer ward ich. Ist es Angst vor der Lächerlichkeit, um die Eigenwürde, oder Rücksichtnahme auf andere, die uns daran hindert, unsere Gefühle zu bekunden?«
Er fuhr fort, ihr von den vier Tagen Hunger zu erzählen, die Ferrand lieber erlitt, als sich zu einem Pfandleiher zu begeben; und als er, ehe er ihn adressierte, den Brief durchlas, stiegen die Gesichter der drei Damen rund um das schneeige Tischtuch vor ihm auf – Antonies Antlitz, so lieblich und gelassen und windfrisch; das Gesicht ihrer Mutter, ein bißchen faltig von Zeit und Wetter; das der Jungfer-Tante, ein wenig allzu schmal – und ihm schien, als ob sie sich – behende und doch schicklich – zu ihm beugten; und die Worte: »Das ist ziemlich hübsch!« erklangen in seinen Ohren. Er ging hinaus, um den Brief abzusenden. Und er stellte eine Postanweisung für fünf Schilling an den kleinen Barbier Carolan aus, als Belohnung dafür, daß er Ferrand seinen Zettel übergab. Er unterließ es, dieser Spende seine Adresse beizufügen, er hätte nicht sagen mögen, ob aus Zartgefühl oder Vorsicht. Ohne Zweifel jedoch fühlte er sich beschämt und erfreut, als er durch Ferrand die folgende Antwort erhielt:
3 Blank Row
Westminster.
»Jeder Seele von edler Herkunft verdanken wir die Humanität. Tausend Dank. Heute Morgen erhielt ich Ihre Postanweisung; von nun an wird Ihr Herz von mir über alles Lob erhaben gestellt werden.