John Galsworthy
Auf Englands Pharisäerinsel
John Galsworthy

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Fünfzehntes Kapitel

Von Pfahl zu Pfahl

Täglich wurde für Schelton das Warten in London auf das Kommen des Juli unerträglicher und wäre es nicht um Ferrands willen gewesen, der noch immer zum Frühstück kam, so hätte er die Metropole längst verlassen. Am 1. Juni stellte sich derselbe etwas später ein, als es seine Gewohnheit war, und teilte ihm mit, daß er durch einen Freund von einer Stellung als Dolmetsch in einem Hotel zu Folkestone vernommen habe.

»Wenn ich bloß das Geld zur Bestreitung der ersten Bedürfnisse hätte,« sagte er und blätterte mit seinen gelben Fingern rasch in einer Sammlung von schmierigen Dokumenten, als ob er auf der Suche nach seiner eigenen Identität wäre, »so würde ich gleich heute abreisen . . . Dieses London verdüstert meinen Geist.«

»Sind Sie dessen auch gewiß, die Stellung wirklich zu bekommen?« fragte Schelton.

»Ich glaube, ja,« antwortete der junge Ausländer. »Ich besitze mehrere, sehr gute Zeugnisse.«

Schelton konnte nicht umhin, einen höchst zweideutigen Blick auf die Dokumente in seinen Händen zu werfen. Ferrands gekräuselte Lippen unterhalb des wieder im Entstehen begriffenen rötlichen Schnurrbartes verzogen sich. Scheltons Blick tat ihm weh.

»Sie meinen wohl, daß es so arg wie Diebstahl sei, falsche Dokumente zu haben . . . Nein, nein, ich werde nie zum Dieb werden – hätte schon viele Gelegenheiten dazu gehabt,« sprach er mit Stolz und Bitterkeit. »So etwas liegt nicht in meinem Charakter. Ich schädige bewußt nie einen Menschen . . . Das da« – er berührte die Dokumente – »ist freilich nicht delikat gehandelt, schädigt aber niemand . . . Wenn man kein Geld hat, muß man sich Zeugnisse verschaffen. Nur sie schützen vor dem Verhungern. Unsere gesellschaftliche Ordnung behält die Hilfslosen vortrefflich im Auge . . . Sie tritt Menschen nie mit Füßen, außer wenn sie schon am Boden liegen . . .«

Er sah Schelton an. Und diesem schien sein Blick zu sagen: ›Auch du hast mich zu dem gemacht, was ich bin; nun mußt du mit mir vorlieb nehmen!‹

»Aber wir haben doch Arbeitshäuser,« bemerkte Schelton schließlich.

»Arbeitshäuser!« entgegnete Ferrand; – »gewiß, die sind da: es sind sogar wahre Paläste . . . Allein lassen Sie mich Ihnen eines sagen: mich würde man auf die Dauer nie in solche gräßliche Häuser, wie es Ihre englischen Arbeitshäuser sind, hineinbringen. Sie reißen einem das Herz aus dem Leibe.«

»Ich habe stets gemeint,« sprach Schelton kalt, »daß unser System der Armenfürsorge besser wäre, als das aller anderen Länder?«

Ferrand beugte sich in seinem Sessel vor, stützte den Ellbogen auf sein Knie – seine Lieblingshaltung, wenn er dessen, was er behaupten wollte, unbedingt sicher war.

»Well,« erwiderte er, »es sei immerhin erlaubt, von seinem Vaterland gut zu denken. Aber aufrichtig gesagt, ich habe jene Häuser stets wieder mit weniger Kraft und ohne Lebensmut verlassen, so oft ich sie betrat. Und ich kann Ihnen auch sagen, warum.« Seine Lippen verloren den bitteren Zug, und er ward im Handumdrehen ein Künstler, der das Resultat seiner Erfahrung zum Ausdruck brachte. »Die Engländer geben ihr Geld sehr bereitwillig für Armenfürsorgezwecke; sie haben auch prachtvolle Armenhäuser, sich selbst hochachtende Beamte, aber – bei den Engländern fehlt der Geist der Gastfreundschaft . . . Der Grund ist klar: sie hegen einen Abscheu vor den Hilfsbedürftigen! Man fordert uns auf, ins Arbeitshaus zu gehen; sind wir aber drinnen, so behandelt man uns ja eigentlich, wie es sich gebührt, aber doch so, als ob wir bloße Nummern wären, Verbrecher, schon unter jeder Verachtung stünden – als ob wir jemand eine persönliche Unbill zugefügt hätten. Und sind wir wieder draußen, so fühlen wir natürlicherweise, daß wir erniedrigt wurden.

Schelton biß sich in die Lippen.

»Wie viel Geld brauchten Sie für ein Reisebillet und um ein neues Leben zu beginnen?« fragte er.

Die nervöse Geste, die Ferrand bei dieser Wendung entfuhr, verriet, inwiefern selbst die unabhängigsten Denker sich äußerst abhängig fühlen, wenn sie kein Geld in ihren Taschen haben. Er nahm den Geldschein entgegen, den Schelton ihm anbot.

»Tausend Dank!« sagte er. »Ich werde es nie vergessen, was Sie für mich getan haben . . .« und Schelton konnte nicht umhin, zu fühlen, daß hinter seinem Lebewohlgestammel aufrichtige Rührung lag.

Er stand am Fenster und beobachtete, wie Ferrand einen neuen Lebensanlauf in der Welt nahm. Dann sah er zurück, auf sein eigenes, gemächliches Zimmer mit der großen Zahl von Gegenständen, die sich irgendwie aufgehäuft hatten – auf die Photographien zahlloser Freunde, die alten Armstühle, auf den überreichen Vorrat farbiger Pfeifen. Mit dem Abschiedsdruck von des Ausländers feuchter Hand hatte sich eine gewaltige Ruhelosigkeit seiner bemächtigt. Das Warten in London war ihm fernerhin unerträglich.

Er nahm seinen Hut, und ohne sich um die eingeschlagene Richtung zu bekümmern, spazierte er zum Fluß. Es war ein klarer, heller Tag mit rauhem Wind, der vor sich her Sprühregen trieb. An einem solchen Tag war es, daß Schelton sich unversehens in der Little Blank-Street fand.

»Wie es wohl dem kleinen Franzosen gehen mag, den ich seinerzeit sah?« dachte er. Wäre schöneres Wetter gewesen, so wäre er einfach auf der anderen Seite an dem Hause vorübergegangen. Nun aber trat er ein und klopfte an das Pförtchen im Torweg.

Haus Nr. 3 in Little Blank-Street hatte seine fliesenbelegte Trostlosigkeit um nichts gemildert. Dasselbe zerzauste Weib beantwortete seine Erkundigung. Ja, Carolan sei stets zu Hause; er gehe überhaupt nie aus – scheine sich nicht auf die Straße zu trauen! Auf ihren Ruf erschien der kleine Franzose mit einer Pünktlichkeit, als ob er ein Zauberlehrling wäre. Sein Gesicht war so gelb wie ein Goldstück.

»Ah! Monsieur, Sie sind es! hüstelte er.

»Ja,« sagte Schelton; »und wie geht es Ihnen?«

»Bin seit fünf Tagen aus dem Spital,« murmelte kaum vernehmlich der kleine Franzose, und klopfte an seine Brust; »eine Krise dieser schlechten Atmosphäre . . . Ich lebe hier wie in einer Kiste eingeschlossen. Da ich aus dem Süden stamme, schadet mir das. Monsieur, wenn ich irgend etwas für Sie leisten kann, soll es mir eine Freude sein . . .«

»Nichts,« erwiderte Schelton. »Ich ging an dem Hause vorbei und dachte mir, ich müsse einmal sehen, wie's Ihnen geht.«

»Kommen Sie in die Küche, Monsieur. Es ist niemand dort. Brrr! Il fait un froid étonnant!«Es ist erstaunlich kalt!

»Was für eine Art von Kunden haben Sie gegenwärtig?« fragte Schelton, während sie in die Küche eintraten.

»Immer die gleiche Klientel,« antwortete der kleine Mann. »Natürlich nicht so zahlreich, da es Sommer ist.«

»Könnten Sie sich keine bessere Existenzgrundlage verschaffen?«

Die Krähenfüße des Barbiers erstrahlten ironisch.

»Als ich nach London kam,« sagte er, »gewann ich einen Posten in einer Ihrer staatlichen Anstalten. Ich dachte, nun hätte ich mein Glück gemacht. Aber stellen Sie sich nur vor, Monsieur, an diesem geheiligten Ort war ich genötigt, zum Preise von zehn für einen Penny zu rasieren! Es ist wahr, hier zahlen sie mir zur Hälfte überhaupt nicht, aber wenn ich bezahlt bekomme, dann bin ich bezahlt. In diesem Klima, und da ich auch noch poitrinairebrustkrank bin, macht man keine weiteren Experimente . . . Ich werde meine Tage hier beenden . . . Haben Sie jenen jungen Mann, für den Sie sich interessierten, wiedergesehen? Wir haben nun wieder einen solchen da! Er hat einen Geist, wie ich ihn einst besaß – il fait de la philosophie, wie ich es tue –, und Sie werden sehen, Monsieur, ich werde ihn fertig kriegen. Was man in dieser Welt braucht, das ist Geist. Aber der Geist ruiniert einen!«

Schelton blickte von der Seite auf den kleinen Mann mit seinem sardonischen, gelben, halbtoten Gesicht; und das Mißverhältnis, aus seinem Mund das Wort »Geist« zu vernehmen, berührte ihn so schneidend bitter, daß er lächelte mit einem Lächeln, in dem mehr Mitleid war, als ein Tränenstrom auszudrücken vermocht hätte.

»Wollen wir uns nicht setzen?« sprach er und bot ihm eine Zigarette an.

»Merci, Monsieur, mir stets ein großes Vergnügen, eine gute Zigarette zu rauchen . . . Erinnern Sie sich noch des alten Schauspielers, der Ihnen eine Jeremiade zum Besten gab? Well, er ist schon tot. Ich war der einzige an seinem Bett; un vrai drôle. War auch einer, der zu viel Geist besaß . . . Und Sie werden sehen, Monsieur, jener junge Mann, für den Sie sich so sehr interessieren, er wird in irgendeinem Spital verenden, in diesem oder jenem Loch, oder vielleicht sogar auf der Landstraße – nachdem ihm in irgendeiner kalten Nacht just einmal zu oft die Augen zufielen . . . Und alles, weil es ein Etwas in ihm gibt, das ihn sich nicht mit dem Bestehenden versöhnen läßt, weil er eben glaubt, die Verhältnisse sollten besser und gerechter sein . . . II n'y a rien de plus tragique!«Es gibt nichts tragischeres

»Nach allen Ihren Ansichten zu urteilen,« sagte Schelton, und plötzlich schien ihm das Gespräch eine doch allzu persönliche Wendung genommen zu haben, »erachten Sie auch die Rebellion auf irgendeine Weise für unheilvoll.«

»Ah!« antwortete der kleine Mann mit dem Eifer eines Menschen, dessen Ideal es ist, unter der Sonnenplane eines Cafés zu sitzen und über das Drunter und Drüber des Lebens zu plaudern, »da werfen Sie ein gewaltiges Problem auf! Eine Rebellion zu machen, das birgt immer die Wahrscheinlichkeit in sich, eigentlich niemand zu helfen und sich selbst zu schaden. Dafür sorgt schon das Gesetz der Majorität . . . Aber ich möchte Ihre Aufmerksamkeit« – er hielt inne, als ob es eine große Entdeckung wäre, den Rauch durch seine Nase zu blasen – »auf dieses lenken: Wer da rebelliert, der tut es, weil er aller Wahrscheinlichkeit nach durch seine Natur gezwungen ist, zu rebellieren! Das ist eines der positivsten Dinge im Leben . . . Auf jeden Fall ist es nötig, zu vermeiden, zwischen zwei Stühle zu fallen – was immer höchst unverzeihlich ist,« schloß er selbstgefällig.

Schelton dachte unwillkürlich, wohl nie einen Mann gesehen zu haben, der mehr danach aussah, zwischen zwei Stühlen gefallen zu sein. Er besaß jedoch genügend Verständnis, um zu empfinden, daß die intellektuelle Rebellion des kleinen Barbiers und die ihr logisch entsprechende Aktion, nur eine in weitem Bogen vom Ziele ablenkende Beziehung zu einander hatten.

»Meiner Veranlagung gemäß,« fuhr der kleine Mann fort, »bin ich Optimist. Gerade infolgedessen bin ich der Gegenwart gegenüber schwarzer Pessimist . . . Ich habe stets Ideale gehegt. Da ich mich nun auf immer von ihnen abgeschnitten fühle, bleibt mir nichts anderes übrig, als zu klagen. Sich über alles Mögliche zu beklagen, ist höchst angenehm, Monsieur!«

Schelton fragte sich verwundert, worin diese Ideale bestanden haben mochten; doch er hatte keine Antwort auf diese Frage bereit. So nickte er denn und hielt abermals seine Zigaretten hin, denn der kleine Mann hatte, gleich einem echten Südländer, die erste schon, nur halb angeraucht, weggeworfen.

»Das größte Vergnügen im Leben,« fuhr der Franzose mit einer Verbeugung fort, »ist es, ein Weilchen zu einem Wesen zu sprechen, das fähig ist, einen zu verstehen . . . Gegenwärtig haben wir, seit jener alte Schauspieler gestorben ist, keinen solchen Menschen hier. Ah! das war ein Mann, der die Rebellion in Menschengestalt verkörperte! Für ihn war die Rebellion das, was für andere Männer das Geldverdienen ist, c'était son métier!das war sein Geschäft Als er zur aktiven Rebellion nicht mehr fähig war, betätigte er sie auch noch – indem er sich betrank . . . Zuletzt war dies seine einzige tragische Methode, sich gegen die englische Gesellschaftsordnung aufzulehnen. Eine interessante Persönlichkeit, je le regrette beaucoup.ich vermisse ihn sehr Aber, wie Sie sehen, starb er in großer Not und Elend, ohne eine Seele an seiner Seite, die ihm ein Wort des Abschiedes gespendet hätte . . . Denn ich, Monsieur, wie Sie wohl verstehen werden, zähle ja doch nicht mehr mit . . . Er starb im Trunke. C'était un homme!«

Schelton hatte den kleinen Mann fortwährend angestarrt. Eilig setzte der Barbier hinzu:

»Es ist schwierig, ein solches Ende zu machen – hat doch jeder seine Momente der Schwäche . . .«

»Jawohl,« pflichtete Schelton bei, »jedermann hat sie, tatsächlich.«

Mit zynischer Zurückhaltung betrachtete ihn der kleine Barbier.

»Oh!« sagte er, »hauptsächlich sind diese Dinge für die Entbehrenden von Wichtigkeit. Hat man Geld, dann liegt an all dieser Sache weniger . . .«

Er zuckte mit den Achseln. Zwischen seinen Krähenfüßen machte sich ein Lächeln breit. Er gab ein Zeichen mit der Hand, als ob er den Gegenstand für erledigt halte.

Über Schelton kam ein Gefühl der Entlarvung.

»So glauben Sie also,« sagte er, »daß die Unzufriedenheit nur den gesellschaftlich Enterbten eigentümlich ist?«

»Monsieur,« antwortete der kleine Barbier, »ein Plutokrat weiß nur zu gut, daß es, wenn er diese Galeere hier beträte, keinen Hund auf der Straße gäbe, der mehr verloren wäre als er.«

Schelton erhob sich.

»Es hat zu regnen aufgehört . . . Ich hoffe, daß Sie sich bald besser erholen. Vielleicht nehmen Sie das – in Erinnerung an jenen alten Schauspieler,« und er ließ einen Sovereign in die Hand des kleinen Franzosen gleiten.

Letzterer verbeugte sich.

»Wann immer Sie vorbei kommen, Monsieur,« sagte er diensteifrig, »wird es mich beglücken, Sie bei mir zu sehen.«

Und Schelton ging fort. »Kein Hund auf der Straße wäre rascher verloren,« grübelte er, »was er wohl damit gemeint haben mag?«

Ein Etwas von jenem Gefühl eines »verlorenen Hundes« hatte sich seines Geistes bemächtigt. Noch ein Monat dieser Wartezeit; – und alle Lieblichkeit sehnender Erwartung würde getötet, ja selbst seine Liebe mochte in ihm getötet sein . . . In der Aufregung seiner Sinne und Nerven, verursacht durch das abspannende Warten, erschien ihm alles, was ihn umgab, allzu lebendig. Alles wirkte überlebensgroß; gleichwie die Kunst, – deren Wahrheiten, zu stark für den täglichen Gebrauch, eben deshalb bei »gesunden« Leuten höchst unbeliebt sind . . . Wie Knochen in einem abgelebten Gesicht zutage treten, so ragte das den Dingen zugrunde liegende Wesen bis an die Oberfläche hervor. Die Gemeinheit und das unerträgliche Verhältnis der nüchtern harten Tatsachen des Lebens wurden dem Engländer allzu wahrnehmbar . . . Irgend ein Bedürfnis nach Hilfe, ein Instinkt trieb ihn nach Kensington, denn nun befand er sich vor dem Hause seiner Mutter. Die Vorsehung schien es darauf angelegt zu haben, ihn von Pfahl zu Pfahl zu schleudern.

Mrs. Schelton weilte in der Stadt, und obgleich es schon der erste Juni war, saß sie, ihre Füße wärmend, noch immer vor dem Kamin. Ihr Gesicht mit seiner angenehmen Farbe wies ebenso, wie das des kleinen Barbiers, Krähenfüße auf. Nur rührten sie vom Optimismus, nicht von der Rebellion her . . . Als sie ihren Sohn sah, lächelte sie, und die Runzeln rund um ihre Augen zwinkerten vor Lebenskraft.

»Well, mein lieber Junge,« sagte sie, »das ist sehr lieb, daß du kommst. Und wie geht's dem süßen Mädchen?«

»Sehr gut, danke,« antwortete Schelton.

»Sie muß doch so lieb sein!«

»Mutter,« stammelte Schelton, »ich verzichte . . .«

»Verzichten? Worauf verzichtest du, mein lieber Dick? Du siehst so gequält aus! Komm her, setz' dich zu mir und lass uns recht gemütlich plaudern. Sei fröhlich!« Und mit seitwärts geneigtem Kopf blickte Mrs. Schelton in nicht zu unterdrückender Zärtlichkeit auf ihren Sohn.

»Mutter,« sagte Schelton, der gerade angesichts ihres Optimismus noch nie, seit Anbeginn seiner Prüfungszeit, sich so jämmerlich niedergeschlagen gefühlt hatte, »ich kann nicht länger so wartend hier herumgehen.«

»Mein lieber Junge, was ist denn geschehen?«

»Alles steht schlecht!«

»Schlecht?« schrie Mrs. Schelton. »Ach was, erzähle mir doch alles!«

Aber Schelton schüttelte den Kopf.

»Du hast doch gewiß keinen Streit gehabt . . .«

Mrs. Schelton hielt inne. Diese Frage klang doch zu vulgär – man hätte sie an einen Stallknecht richten können, aber nicht an ihren Sohn . . .

»Nein,« sagte Schelton, und seine Antwort ertönte wie ein schweres Ächzen.

»Weißt du, mein lieber alter Dick,« murmelte seine Mutter, »mir schaut das Ganze ein bißchen toll aus.«

»Ich weiß, es sieht verrückt aus.«

»Hör' doch einmal!« sagte Mrs. Schelton und nahm seine Hand zwischen ihre eigenen. »Du bist doch sonst nie so gewesen.«

»Nein,« sagte Schelton und lachte. »Ich war sonst nie so . . .«

Mrs. Schelton schmiegte sich fest an ihren Chudda-Schal.

»Oh,« meinte sie nun mit gänzlich unmotiviert fröhlichem Mitgefühl, »ich weiß ganz genau, wie du empfindest!«

Schelton hielt sich den Kopf und starrte auf das Kaminfeuer, das, wie das Gesicht seiner Mutter, leicht beweglich war und hell aufflackerte.

»Aber ihr habt euch beide doch so lieb,« fing sie aufs neue an. »Solch ein süßes Mädchen!«

»Du verstehst mich nicht . . .,« murmelte Schelton düster. »Nicht sie ist schuld – es ist eigentlich nichts – ich – bin es – selbst!«

Wieder ergriff Mrs. Schelton seine Hand und preßte sie diesmal an ihre weiche warme Wange, die die Spannkraft der Jugend bereits eingebüßt hatte.

»Oh!« rief sie wieder aus, »ich verstehe dich gut . . . Ich weiß ganz genau, was du empfindest.«

Aber Schelton ersah aus dem starren Glanz ihrer Augen, daß sie keinen Begriff davon besaß. Um ihm Gerechtigkeit widerfahren zu lassen – er war doch nicht so närrisch, zu versuchen, ihr einen zu geben. Mrs. Schelton seufzte.

»Es wäre so lieb von dir, wenn du morgen früh aufwachtest und andere Gedanken hättest. Wenn ich du wäre, mein Liebling, dann machte ich einen guten langen Spaziergang und nähme darauf ein türkisches Bad. Und dann würde ich ihr gleich schreiben und ihr alles sagen, und du wirst schon sehen, wie schön sich alles von selbst regeln wird.« Und im Enthusiasmus ihres mütterlichen Rates stand Mrs. Schelton auf und faltete, ihre kleine eigentlich noch so jugendliche Gestalt ein wenig reckend, ihre Hände. »Nicht wahr, du tust mir das zuliebe, mein lieber guter Dick! Du wirst schon sehen, wie herzig alles ausgehen wird!« Schelton lächelte; er hatte nicht das Herz, diese Vision zu verscheuchen. »Und übermittle ihr meine innigste Liebe und sage ihr, daß ich die Hochzeit gar nicht erwarten kann . . . Nun aber, mein lieber Junge, du versprichst mir, daß du das tun wirst?«

Und Schelton sprach: »Ich werde darüber nachdenken.«

Mrs. Schelten hatte sich erhoben und stand, trotz ihrem Hüftweh, mit einem Fuß auf dem Feuergitter.

»Sei nur immer recht fröhlich!« rief sie ihm zu. Ihre Augen schimmerten wie von ihrem Mitgefühl berauscht.

Eine wundervolle Frau! Nur daß der – ihr über alles Gute und Böse hinweghelfende – Optimismus sich nicht auf ihren Sohn vererbte.

Er war an diesem Tage von Pfahl zu Pfahl geworfen worden. Von dem französischen Barbier, dessen Intellekt nichts ohne Widerspruch annahm und dessen kleine Finger den ganzen Tag arbeiten mußten, um sich vor einem vorzeitigen Hungertod zu schützen, zu seiner Mutter, deren Intellekt alles und jedes gedankenlos aufnahm, was ihr in genügend strahlendem Glühlicht dargeboten ward und die bis zu ihrem Tode keinen Finger zu rühren brauchte, um sich am Leben zu erhalten. Als Schelton seine Gemächer erreichte, schrieb er an Antonie:

»Ich kann nicht länger in London herum warten. Ich begebe mich nach Bideford und beginne eine Fußwanderung. Ich will mich bis Oxford durcharbeiten und dort bleiben, bis ich nach Holm Oaks kommen darf. Ich werde Dir meine Adresse senden; bitte, schreib wie gewöhnlich.«

Er nahm alle Photographien, die er von ihr besaß – es waren Amateuraufnahmen von Mrs. Dennant – zusammen und packte sie in die Tasche seiner Jagdjoppe. Darunter gab es ein Bild, auf dem sie gerade unterhalb ihres kleinen Bruders stand, der oben auf einer Mauer saß. In ihren halbgeschlossenen Augen, auf ihrem runden Hals und sanft geneigten Kinn lag etwas Kühles und Behutsames, das den kleinen Tunichtgut oberhalb ihres Kopfes treu beschützte. Dieses Bild ließ er draußen, um es, so regelmäßig wie ein Mensch seine Gebete sagt, täglich zu bewundern.

 



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