John Galsworthy
Auf Englands Pharisäerinsel
John Galsworthy

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Fünfzehntes Kapitel

Die Dame von drüben

Drückend schwül und dunstig war der Morgen; ein Unwetter zog sich zusammen. Antonie war bei ihrer Musik und in dem Zimmer, wo Schelton es versuchte, seine Aufmerksamkeit auf ein Buch zu konzentrieren, konnte er vernehmen, wie sie mit kaltem Zorn die Skalen übte, was sein Gemüt noch mehr verdüsterte . . . Er sah sie erst beim Lunch, und wieder saß sie neben dem Connaisseur. Ihre Wangen waren blaß, aber in ihrem lebhaften Geplauder zu ihrem Nachbar lag etwas Fieberhaftes. Noch immer weigerte sie sich, Schelton zu beachten . . . Er fühlte sich sehr kläglich. Nach dem Lunch, als die meisten bereits von der Tafel aufgestanden waren, entspann sich unter den Zurückgebliebenen eine Unterhaltung über die Nachbarn auf dem Lande . . .

»Natürlich,« meinte Mrs. Dennant, »da wären ja die Foliots; aber sie werden ›geschnitten‹ . . .«

»Ah!« sagte der Connaisseur, »die Foliots – die Foliots – diese Leute – ehm – die – ja, ganz richtig!«

»Wirklich betrübend! Sie sieht recht sanft und lieb aus, wenn sie so einher geritten kommt . . . Und viele Leute, über die weit ärgere Gerüchte im Umlaufe sind, werden dennoch mit Besuchen beehrt,« fuhr Mrs. Dennant mit jener großzügigen Freimütigkeit des Eindringens in zweifelhafte Gegenstände fort, die gewisse Leute auf ganz gewisse Art und Weise sich herausnehmen dürfen; »aber schließlich konnte man sie doch nie einladen, mit irgend jemand zusammenzutreffen . . .«

»Nein,« pflichtete der Connaisseur bei. »Foliot habe ich einst gekannt. Es ist jammerschade! Man sagt, sie wäre ein sehr hübsches Weib gewesen.«

»Oh, nicht so hübsch!« sagte Mrs. Dennant – »ich möchte sagen, eher interessant als hübsch . . .«

Schelton, der die in Rede stehende Dame oberflächlich kannte, bemerkte, daß sie von ihr sprachen, als ob sie der Vergangenheit angehörte. Er blickte nicht zu Antonie hinüber. Wenn es ihn auch ein wenig beängstigte, daß man in ihrer Gegenwart über einen derartigen Gegenstand diskutierte, so war ihm gleichzeitig die Gewißheit doch auch höchst zuwider, daß ihr Antlitz so unbewegt bleiben würde, als ob die Foliot einer ganz separaten Spezies angehörte . . . In der Tat, um ihre Augen lag es wohl wie Neugierde, auf ihren Lippen aber eine leise Ungeduld; sie rollte kleine Brosamen zu Kügelchen. Plötzlich gähnend, murmelte sie fast unhörbar irgend eine Bemerkung und erhob sich. Bei der Tür veranlaßte sie Schelton, stehen zu bleiben.

»Wohin gehst du?«

»Spazieren.«

»Darf ich mitgehen?«

Sie schüttelte ihr Haupt.

»Ich gehe, Toddles abzuholen.«

Schelton öffnete ihr den Türflügel und schritt zum Tisch zurück.

»Ja,« sprach, an seinen Sherry nippend, der Connaisseur, »ich fürchte, auch mit dem jungen Foliot ist alles vorbei . . .«

»Wie schade!« murmelte Mrs. Dennant, und ihr gütiges Angesicht nahm einen etwas verstörten Ausdruck an. »Ich kannte ihn schon, als er noch ein Knabe war. Natürlich, ich halte es für einen großen Fehler von ihm, sie hierher gebracht zu haben. Beim besten Willen nicht imstande sein, sich zu heiraten, macht die Sache noch ungeschickter . . . Oh, ich glaube, er beging einen großen Fehler!«

»Ah!« sagte der Connaisseur, »meinen Sie wohl gar, daß dies einen so großen Unterschied ausmachte? Selbst wenn jener Wie-heißt-er-nur in die Scheidung einwilligte, glaube ich kaum – Sie wissen doch – daß . . .«

»Oh doch! Im Laufe der Zeit würden ziemlich viele Leute sich bereit finden, darüber hinweg zu sehen . . . Aber so, wie alles steht, ist es hoffnungslos, ganz und gar . . . Und höchst peinlich für viele Leute, ihnen begegnen zu müssen! Die Telfords und Butterwicks – beiläufig bemerkt, sie kommen heute Abend zum Diner – leben in ihrer Nachbarschaft, Sie verstehen also . . .«

»Sahen Sie sie je vor – ehm – vor – der Sündflut?« erkundigte sich der Connaisseur. Er öffnete seine Lippen, und diese unerwartete Enthüllung von Zähnen gab ihm eine entfernte Ähnlichkeit mit einer Ziege.

»Ja, ich traf einmal persönlich mit ihr zusammen, bei den Branksomes. Damals hielt ich sie noch für eine ganz charmante Person.«

»Bedauernswerter Kerl,« sprach der Connaisseur. »Wie man sich erzählt, stand er im Begriffe, Meister der Jagdmeute zu werden.«

»Und dort sind auch seine entzückendsten Jagdgehege. Algie, mein Mann, hat oft dort gejagt, und jetzt erzählt man sich, daß nur sein Bruder mit ihm auf die Jagd geht . . . Wirklich, das ist denn doch zu melancholisch! Haben Sie ihn je gekannt, Dick?«

»Foliot?« antwortete Schelton zerstreut. »Nein, lernte ihn nie kennen. Habe bloß sie ein oder zweimal zu Ascot gesehen . . .«

Durch das Fenster konnte er Antonie, ihren Stock hochschwingend, mit ihren scharlachroten Tam-o'-schanter sehen. Und er stand, Gleichgültigkeit heuchelnd, auf. Gerade kam Toddles auf seine Schwester zugesprungen. Arm in Arm gingen sie weg. Sie hatte ihn sicher am Fenster gesehen, ihm aber keinen freundlichen Blick zugeworfen . . .

Schelton fühlte sich kläglicher als je. Er trat hinaus auf den Fahrweg. Ein finsterer, düsterer Baldachin überdachte das All. Die Ulmen ließen ihr schweres, schwärzliches Grün herunterhängen, das gewohnte Rascheln der Espen war verstummt, selbst die Saatkrähen waren still. Eine schwere Gewaltsmacht lag auf dem Herzen der Natur . . . Langsam begann er auf und ab zu schreiten; sein Stolz verbot ihm, ihr zu folgen, und plötzlich setzte er sich auf einen alten Stein nieder, dessen Vorderseite der Landstraße zugewendet war . . . Lange Zeit verweilte er, auf die Ulmen starrend, in dieser Stellung und fragte sich, was er getan habe, und was er tun sollte . . . Und aus irgend einem Grunde bekam er Angst. Ein Gefühl des einsamen Alleinseins, so empfindlich schmerzhaft, bemächtigte sich seiner, so daß er förmlich erschauerte, trotz der schwülen, sengenden Hitze . . . Er blieb da, wo er war, vielleicht eine Stunde allein und sah niemand die Landstraße entlang gehen. Dann erhob sich das Getrappel von Pferdehufen, und zur gleichen Zeit vernahm er aus der entgegengesetzten Richtung ein Automobil sich nähern. Zuerst tauchte eine Reiterin auf. Sie ritt ein graues Pferd, mit dem hoch gehaltenen Kopf und langen Schweif eines Arabers. Nur mit Mühe vermochte sie ihn zu zügeln, je lauter mit jedem Moment das Geschwirr des herankommenden Autos ertönte. Schelton erhob sich; das Auto sauste vorüber . . . Er sah, wie das Pferd sich umdrehte und dann, seine Reiterin gegen das Gatter schleudernd, in den Weggraben taumelte.

Er lief hinzu, aber bevor er das Gatter erreichte, stand die Lady wieder auf den Füßen, das wütend hinten ausschlagende Pferd fest an dem Zügel haltend.

»Sind Sie verletzt?« schrie Schelton atemlos und griff auch nach dem Zügel. »Diese vermaledeiten Autos!«

»Ich weiß es nicht,« sagte sie. »Bitte nicht; er läßt sich von Fremden nicht berühren.«

Schelton ließ den Zaum fahren und beobachtete sie, wie sie das Pferd durch Schmeicheln zu beruhigen suchte. Sie war ziemlich groß, gekleidet in einem grauen Reitanzug, mit einer grauen russischen Mütze auf ihrem Kopf. Und plötzlich erkannte er sie: es war Mrs. Foliot, von der man beim Lunch gesprochen hatte . . .

»Er wird nun ruhiger,« sagte sie, »wollten Sie so freundlich sein, ihn für eine Minute zu halten?«

Sie warf ihm die Zügel zu und lehnte sich an das Gatter. Sie war sehr bleich.

»Ich hoffe nur, daß er Sie nicht verletzte,« sprach Schelton. Er stand ganz nahe bei ihr, konnte sehr gut ihr Gesicht sehen – es war ein merkwürdiges Gesicht mit stark hervortretenden Backenknochen und ein wenig flachgeformt. Etwas Rätselhaftes und, trotz der unwillkürlichen Blässe, seltsam Leidenschaftliches lag in ihren Gesichtszügen. Ihre lächelnden, fest zusammengepreßten Lippen waren farblos; farblos auch ihre grauen, etwas tiefsitzenden Augen von grünlicher Tönung. Und über allem lag blaß die aschfahle Masse ihres unterhalb ihrer grauen Kappe rund aufgewickelten Haares.

»D – Danke!« sagte sie. »Ich werde sofort wieder allright sein. Tut mir leid, viel Aufhebens gemacht zu haben . . .«

Sie biß ihre Lippen und lächelte.

»Sie sind verletzt, ich bin dessen gewiß. Gestatten Sie, daß ich um . . .« stammelte Schelton. »Ich kann leicht Hilfe besorgen.«

»Hilfe!« wiederholte sie mit einem, wie aus Stein gemeißelten Lachen auf ihrem Gesicht; »oh, nicht doch, danke!«

Sie verließ das Gatter, kreuzte die Landstraße; und begab sich zu ihm, wo er das Pferd hielt. Um seine Verlegenheit zu verbergen, blickte Schelton auf die Beine des Pferdes; er gewahrte, daß der Grauschimmel eines zu stützen versuchte. Er ließ seine Hand darüber gleiten.

»Ich fürchte sehr,« sprach er, »daß sich Ihr Pferd sein rechtes Knie verrenkt hat. Es schwillt schon an.«

Wieder lächelte sie.

»Dann sind wir beide Krüppel.«

»Er wird lahm gehen, sobald er sich abgekühlt hat. Möchten Sie ihn nicht hier in den Ställen unterbringen? Ich sollte meinen, es wäre doch am besten für Sie, nach Hause zu fahren.«

»Nein, danke. Wenn ich nur imstande bin, ihn zu reiten, dann kann er mich auch tragen . . . Reichen Sie mir, bitte, die Hand zum Aufsteigen.«

Ihre Stimme klang, als ob sie jemand beleidigt hätte . . . Als er sich von der Untersuchung des Pferdebeines erhob, sah Schelton Antonie und Toddles vor sich. Sie waren durch ein aus den Feldern herausgeleitendes Gitterpförtchen hindurch gegangen.

Der letztere lief sofort auf ihn zu.

»Wir sahen es,« flüsterte er – »das war ein böser Schmiß . . . Kann ich nicht helfen?«

»Halt den Zügel,« antwortete Schelton und sah von einer Lady zur anderen.

Es gibt Augenblicke, in denen sich der Gesichtsausdruck mit schmerzlicher Deutlichkeit auf immer festlegt . . . Ein solcher Moment, war für Schelton gekommen. Diese beiden Gesichter, so nahe beisammen, unter ihrer scharlachroten und grauen Kopfbedeckung, zeigten einen fast grausamen, lebhaften Kontrast . . . Antonie war über und über rot, ihre Augen hatten eine dunkelblaue Farbe angenommen. Ihr Blick stutzenden Zweifels war einem fragenden Gesichtsausdruck gewichen . . .

»Möchten Sie nicht bei uns eintreten und etwas warten? Wir könnten Sie in unserem Brougham nach Hause fahren,« sagte sie.

Noch immer lächelte die Lady namens Mrs. Foliot auf geheimnisvolle Weise; sie stand, sich in die Lippen beißend, mit dem einen Arm über dem Schwanzriemen des Sattels, vor ihnen. Und es war ihr Angesicht, das, in seiner Blässe, mit den spöttisch auf sie gerichteten Augen und dem aschfarbigen Haar den wirkungsvollsten Eindruck auf Schelton machte.

»Oh, nein, besten Dank! Sie sind ungemein gütig . . .«

Aus Antonies Augen war die schüchterne zweifelnde Freundlichkeit gewichen, an ihre Stelle trat unverhohlen Feindseligkeit . . . Mit einem langen kalten Blick auf die beiden, wandte sie sich ab. Mrs. Foliot stieß ein kurzes Lachen hervor und erhob, damit Schelton ihr im Aufsteigen behilflich sei, ihren Fuß. Während er sie emporschwang, vernahm er einen Zischlaut des Schmerzes, doch als er sie anblickte, lächelte sie schon frohgemut.

»Jedenfalls gestatten Sie,« sagte er ungeduldig, »daß ich Sie begleite, um zu sehen, ob nichts geschieht.«

Sie schüttelte ihren Kopf. »Es ist nur zwei Meilen weit. Ich bin nicht aus Zucker gemacht.«

»Nun, dann werde ich Ihnen nachgehen.«

Sie zuckte mit den Achseln und heftete ihre entschlossenen Blicke auf ihn.

»Möchte vielleicht der Junge mit mir gehen?« fragte sie.

Toddles ließ den Kopf des Pferdes fahren.

»Recht gern,« rief er, »warum denn nicht!«

»Dann,« meinte die Lady, »ist es am besten so. Besten Dank für Ihre Güte!«

Sie verneigte sich, lächelte noch einmal auf unergründliche Weise, berührte den Araber mit ihrer Gerte und ritt davon, während Toddles an ihrer Seite einhertrottete.

Unter den Ulmen blieb Schelton mit Antonie zurück. Ein plötzlicher Windstoß lauwarmer Luft blies ihnen ins Gesicht; es war wie eine warnende Botschaft aus den schweren, violetten hochsommerlichen Wolken . . . Von weither rollte leise grollender Donner.

»Ein Sturm ist im Anzuge,« sprach er.

Antonie nickte. Sie war nun blaß und ihr Antlitz wies noch immer jenen kalten beleidigenden Zug auf.

»Ich habe Kopfschmerz,« sagte sie, »ich gehe ins Haus, um mich niederzulegen . . .«

Schelton versuchte zu reden, aber ein Etwas zwang ihn, zu schweigen – es war die Unterwerfung vor dem Kommenden, gleich jener stummen Unterwerfung der Felder und Vögel angesichts des drohenden Ungewitters . . .

Er sah ihr nach und ging zu seinem früheren Sitz zurück. Und die Stille schien zu wachsen, von dem Luftdruck betäubt, hörten die Blumen auf, ihren Wohlgeruch auszuscheiden.

Das ganze lange Haus hinter ihm schien zu schlafen, verlassen zu sein . . . Man vernahm keinen Lärm, kein Gelächter, das Echo keiner Musik, das Klingeln keiner Glocke; die schwüle Hitze hatte es in Schläfrigkeit gehüllt . . . Und diese Stille steigerte die Öde in ihm. Welch unglücklicher Zufall, dieser Unfall der Dame! Wie von der Vorsehung dazu auserlesen, ihm Antonie noch weiter als schon zuvor zu entrücken! Warum bestand die ganze Welt nicht nur aus Makellosen? Von einem furchtbaren Kopfschmerz gequält, begann er auf und ab zu gehen.

»Ich muß ihn los werden,« dachte er. »Ich mache einen längeren Spaziergang – trotz dem Sturme.«

Als er den Fahrweg verließ, stieß er auf Toddles, der in bester Laune zurückkehrte.

»Ich geleitete sie bis nach Hause,« krähte er. »Das war ein schöner Wurf, nicht wahr? Morgen ist sie so lahm wie ein Baum; und so auch das Hottopferd. Riesig heiß!«

Diese Begegnung lehrte Schelton, daß er eine volle Stunde auf dem Steinsitze geruht habe. Und er hatte geglaubt, es wären kaum zehn Minuten gewesen . . . Diese Entdeckung versetzte ihn in Aufregung. Sie schien ihm das Gewichtige seiner elenden Befürchtung einschärfen zu wollen . . . Mit langen Schritten machte er sich auf den Weg – die Augen zu Boden gesenkt, indes der Angstschweiß über sein Gesicht herabströmte . . .



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