John Galsworthy
Auf Englands Pharisäerinsel
John Galsworthy

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Viertes Kapitel

Die Theatervorstellung

Schelton entfernte sich; er hatte sich einem Alpdruck hingegeben. »Jener alte Schauspieler war wohl betrunken,« dachte er, »und ohne Zweifel ein Ire; immerhin, es mag viel Wahres in dem sein, was er sagte. Auch ich bin ein Pharisäer, wie alle übrigen, die nicht in der Hölle des Daseins schmachten . . . Meine Ehrsamkeit ist bloßes Zufallsglück. Was wäre aus mir geworden, wenn ich in dieser Art von Leben zur Welt gekommen wäre?« Und er starrte auf einen Menschenstrom, der sich aus Geschäftshäusern ergoß und versuchte es, die Maske ihrer ernsten, hoffährtigen Gesichter zu durchdringen. Wenn man diese Herren und Damen in jenen Abgrund würfe, in den er geblickt hatte, entstiege ihm auch nur ein einziger wieder? Aber die geistige Anstrengung, sie sich dort unten vorzustellen, war eine zu ungeheuerliche Zumutung; das alles lag ihnen so fern – so lächerlich fern . . .

Ein ganz besonderes Paar, ein hoher, eleganter Herr und seine Frau schritten, Seite an Seite, in wohlerzogenem Schweigen, mitten in all dem Schmutz und der rasselnden Eile dieser düsteren, albernen und galgenhumorvollen Straßen; wahrscheinlich hatten sie irgend einen Gegenstand gekauft, der ihnen Freude bereitete. In ihrem Betragen lag nichts Störendes; sie schienen sich um die vorübergehenden anderen Leute so gar nicht zu kümmern. Der Herr hatte die feine Solidität der Schultern und des Wuchses, jene glänzende platte Einfassung ins Pharisäertum, die den Engländern eigen ist, die Pferde, Schußwaffen, Galagewänder und gespickte Geldbeutel besitzen. Seine Gemahlin heftete ihre Augen auf die Erde; und wenn sie, ihr Kinn gemächlich im Pelze eingebettet, etwas redete, dann vernahm Schelton ihre gleichmäßige und unaufgeregte Stimme trotz all dem Wirbel des Straßenverkehres. Sie war voller Muße, genau im Ausdrucke, als ob sie sich nie beeilt, nie erschöpft, leidenschaftlich erregt oder gar gefürchtet hätte. Ihr Gespräch drehte sich, wie das so vieler Dutzend anderer eleganter Paare, die von ihren Landsitzen in der Provinz gekommen waren und London überfielen, um die Probleme: Wo werden wir speisen? Welches Theater werden wir besuchen? Wen haben wir besucht? und was sollen wir einkaufen? Und Schelton wußte, daß von einem Ende des Tages bis zum andern, ja sogar bis ins Bett, dies ihre Gesprächsgegenstände bildeten.

Sie alle gehörten zu jenen besterzogenen Leuten, die er in den schmucken Cottages auf dem Lande angetroffen und deren Lebensweise als ganz wohlberechtigt gefunden hatte, wenn auch, allerdings, mit einem unbestimmten Unbehagen auf dem Grunde seiner Seele. So war zum Beispiel Antonies Landhaus von ihnen voll gewesen. Sie gehörten jenen besterzogenen Leuten an, die viele Werke der Wohltätigkeit unterstützten, jedermann kannten, ein klares, kaltes Urteil besaßen, wie auch eine beträchtliche Unduldsamkeit allem Gebaren gegenüber, das ihnen als »unmöglich« erschien, für Moralverstöße, Etikettenfehler, wie Unehrenhaftigkeit, Leidenschaft, unkluge Sympathie (von alledem ausgenommen war ihnen nur eine kanonische Klasse von Objekten – die legitimen Leiden sagen wir zum Beispiel ihrer eigenen Familien und ihrer Klasse). Wie gesund sie dabei waren!

In Scheltons Geist bohrte die Erinnerung an jene Spelunke, in der er gewesen, wie Gift. Er war sich bewußt, daß er in seiner eigenen, wohlgepflegten Figur, in der gemessenen Dreistigkeit seines Ganges, jenem Paare ähnelte, das er apostrophierte. »Ach!« dachte er, »wie vulgär ist doch unsere feine Lebensart!« Aber er schenkte seinem eigenen Gefühlsausbruch kaum Glauben. All diese Leute waren so ausnehmend gesittet, sie benahmen sich so artig und so sehr vor Gesundheit strotzend, daß er wirklich nicht zu begreifen vermochte, was ihn eigentlich zum Zorne reizte. Was fand er denn an ihnen auszusetzen? Sie erfüllten doch ihre Pflichten, hatten einen guten Appetit, ein reines Gewissen, also den gesamten Hausrat eines vorzüglichen englischen Staatskörpers; es fehlten ihnen bloß – die Fühler, ein Mangel, an dem, so hatte er irgendwo gelesen, Pflanzen und Tiere litten, die kein Bedürfnis mehr besaßen, jene zu gebrauchen. Irgendeine seltsame Nationaleigenschaft, nur das Handgreifliche und materiell Nützliche zu sehen, hatte in dieser vornehmen Gesellschaft Englands die Fähigkeit zerstört, schwache, jedoch deutliche Lichtstrahlen oder Wohlgerüche aufzunehmen, die von rechts oder links auf sie eindrangen.

Jetzt blickte die Dame zu ihrem Gemahl auf. Das Licht einer sanften, einem Besitzer angehörigen Zuneigung strahlte in ihren kalten, grauen Augen und erhellte mit züchtigem Anstand ihre vom Winde ein wenig geröteten Züge. Und der Gatte blickte herab auf sie – kalt, praktisch, beschirmend. Sie waren einander sehr ähnlich. Unzweifelhaft sah er auch so aus, wenn er sich ihr in schneeweißen Hemdärmeln präsentierte, damit sie ihm die Schleife seiner weißen Krawatte gerade ziehe; auch sie sah so aus, wenn sie allabendlich, vor dem lebensgroßen Spiegel stehend, seine Geschenke auf ihrem Busen befestigte. Gelassen, schicklich, gütig!

Schelton ging an ihnen vorüber und schritt hinter einem zweiten, weniger distinguierten Paar einher, das als ebenso selbstverständlichen Tatbestand und frei von jeglichem dummem Zeug eine gegenseitige Abneigung an den Tag legte, wie das erstere Paar seine ungetrübte Behaglichkeit bekundete. Jene Abneigung war genau so gesund wie diese Behaglichkeit und erzeugte in Schelton dieselbe Empfindung. Es war gleich einem Anklopfen an eine nie sich öffnende Tür, wie das Betrachten in ein und demselben Kreis, bei regelmäßiger Wiederkehr, – Paar auf Paar, alle einander gleich. Nirgends ragten die Köpfe, Zehen, Eckwinkel ihrer Seelen hervor. Alle ertrunken im See ihrer Umgebung; da trotzte kein Bein der Luft, kein Arm tauchte, dem Himmelsgewölbe zuwinkend, naß und nackt empor. Ob Ladenmenschen, Aristokraten, Arbeiter, Beamte – lauter ehrenwerte Individuen. Und er selbst – so ehrsam wie nur irgend jemand . . .

Übel gelaunt kehrte er nach seinen Gemächern zurück, und mit dem Ungestüm, das ihn immer auszeichnete, wenn er dabei war, eine unkluge Sache zu begehen, griff er zur Feder und schüttete vor Antonie einige seiner Eindrücke aus:

». . . Gemein, nur das ist das Wort, mein Lieb; wir sind so gemein, das ist es, woran wir in England leiden, Herzog wie Mistbauer, das ganze Menschengeschlecht – so gemein wie Raupen. Unser eigen Hab und Gut und unser eigenes Wohlbefinden uns zu sichern, mit unserer Sympathie nur laut einer bestimmten Norm zögernd herauszurücken, damit wir uns selbst nicht weh tun mögen, um das dreht sich bei uns alles. In der menschlichen Natur steckt ein gewisses Etwas, das schrecklich abstoßend ist; und je gesünder die Leute sind, »desto abstoßender scheinen sie mir zu sein . . .«

Er hielt inne und biß in die Feder. Besaß er einen Bekannten, der ihm, da er in solchem Stil schrieb, nicht geraten hätte, einen Arzt zu konsultieren? Wie könnte sich die Welt um ihre Achse drehen, wie könnte die Gesellschaft bestehen ohne gesunden Menschenverstand, praktische Tüchtigkeit und Mangel an übertriebener Gefühlsduselei?

Er blickte aus dem offenen Fenster hinaus. Unten auf der Straße rückte ein Lakai die Reisedecke in einem Wagen über den Knien einer Dame zurecht und die geziemende Unbeweglichkeit beider Gesichter, die ihm deutlich sichtbar waren, ähnelten Teilen irgendeiner wohlgeölten Maschine.

Er stand auf und durchmaß den Raum. Seine Zimmer, in dem engen, von Belgravia umzäunten Square gelegen, waren unverändert geblieben, seit der Tod seines Vaters ihn zu einem bemittelten Manne gemacht hatte. Gewählt wegen ihrer zentralen Lage, waren sie höchst gemischt eingerichtet. Sie sahen keineswegs armselig aus, allein eine genaue Prüfung enthüllte, daß alles mehr oder weniger beschädigt war, und es gab absolut nichts, was bekundete, daß jemand sich für ihre Einrichtung sonderlich interessiert hätte. Seine Habseligkeiten bestanden aus Zufälligem, aus wertvollen Geschenken, oder aus aufs Geratewohl angeschafften Erwerbungen eines momentan dringenden Bedarfes. Natürlich, nichts war muffig, aber alles war einigermaßen staubig, wie einem Menschen gehörend, der nie seinen Diener zurechtwies. Vor allem war nichts vorhanden, was auf irgendwelche Eigenliebelei, Steckenpferde des Besitzers hätte schließen lassen.

Drei Tage später hatte er ihre Antwort auf seinen Brief.

». . . Ich glaube nicht, daß ich verstehe, was Du darunter meinst: ›je gesünder die Leute sind, desto abstoßender scheinen sie mir zu sein.‹ Man muß doch gesund sein, um sich vollkommen wohl und munter zu fühlen, oder etwa nicht? Ich habe krankhafte Menschen nicht gern. Nachdem ich Deinen Brief gelesen, mußte ich auf dem elenden Klavier hier spielen, denn er betrübte mich. Ich habe seit neulich eine prächtige Menge Tennis gespielt, kriegte endlich den Handrücken-Hebetriebschlag zuwege – also hurra! . . .«

In autokratisch-selbstbewußter Schreibart abgefaßt, brachte ihm dieselbe Post auch noch das folgende Billet:

»Lieber BirdZu deutsch: Vogel (so lautete auf der Universität Scheltons Spitzname)!

»Meine Frau ist zu ihren Verwandten gereist, so daß ich auf einige Tage en garçon bin. Wenn Du nichts Besseres zu tun weißt, dann komme und speise heute Abend um sieben bei mir und gehe mit ins Theater. Eine Ewigkeit ist verflossen, seit ich Dich gesehen habe.

Wie immer Dein

B. M. Halidome.«

Schelton hatte tatsächlich nichts Besseres vor, denn die wohlbestellten Diners seines Freundes Halidome waren stets sehr unterhaltender Art. Darum ging er um sieben nach Chester-Square. Sein Freund war in seinem Studierzimmer und las beim Lichte einer elektrischen Lampe im Matthew Arnold.Englischer Schriftsteller (1822-88) An den Wänden des Zimmers hingen kostspielige Radierungen, von einem soliden und untrüglichen Kunstgeschmack angeordnet. Von dem Schnitzwerk des Kaminsimses bis zu den Einbänden der Bücher, von den wundersam farbigen Meerschaumpfeifen bis zu den metallisch getriebenen Feuergeräten, alles wies – wenn auch nicht anmaßenden – Luxus, Ordnung und Vollendung dar, wie sie bezeichnend sind für ein Leben, das vollständig auf die Formel einer Fingerprobe gebracht ist. Hier war alles mit kundiger Auswahl gesammelt worden. Als Schelton eintrat, erhob sich der Kunstsammler, eine edle Mannesgestalt, glatt rasiert, mit dunklem Haar, einer römischen Nase, ruhigen Augen und mit der ziemlich gewichtigen Würde einer Haltung, die von der Gewißheit stammt, stets unbedingt im Recht zu sein.

Er faßte Schelton beim Rockaufschlag, zog ihn in den Radius der Lampe, wo er ihn prüfend betrachtete und langsam anlächelte. »Freut mich, alter Bursche, dich zu sehen. Mir gefällt dein Bart recht gut,« sagte er munter und kurz angebunden; und vielleicht hätte nichts besser seine Begabung, selbständige Urteile zu fällen, die Schelton höchst bewundernswert fand, in dessen Augen zusammenfassen können. Er entschuldigte sich gar nicht ob der Geringheit der Tafel, die aus nur acht Gängen und drei Weinsorten bestehend, von einem Oberdiener und einem Lakai serviert, nach derselben Vorzüglichkeit schmeckte, von der auch die Möbel Kunde gaben. In der Tat, er entschuldigte sich nie, außer mit jovialer Schroffheit, die ärger als die Missetat selbst war. Das anmutige und beträchtliche Gewicht seiner Abneigungen und Zustimmungen reizten Schelton; er empfand Ironie und fühlte sich doch auch unbedeutend. Aber wohl wegen seines Verständnisses für die solide, menschliche und gesunde Eigenart des Egoismus seines Freundes oder bloß auch um der Tatsache willen, daß diese Freundschaft sich so lange erhalten hatte, hielt er mit seinen recht gemischten Empfindungen an sich.

»Ganz beiläufig: ich gratuliere dir, alter Bursche,« sagte Halidome, während sie zum Theater fuhren. In seinen Gratulationen stak keine vulgäre Überstürzung, nicht mehr als in seinem ganzen wurstigen Wesen. »Über alle Maßen nette Leute, die Dennants.«

Ein Gefühl, als habe er ein Siegel auf die Wahl seines Herzens gelegt, kam über Schelton.

»In welche Gegend gedenkst du zu ziehen? Komm' zu uns herunter und wohne neben uns. Dort unten gibt's famose Häuschen und wirklich auch eine ganz famose Nachbarschaft. Advokatur schon stehen gelassen? Solltest trotzdem etwas tun; sonst wird einem fatal zumute, wenn man so gar nichts zu tun hat . . . Bird, ich sage dir, ich habe eine Idee für dich: Kandidiere für den Gemeinderat!«

Aber ehe Schelton antworten konnte, hatten sie das Theater erreicht und verwendeten ihre Energien darauf, von seitwärts zu ihren Sperrsitzen vorzudringen. Er hatte noch Zeit, seine Nachbarn Revue passieren zu lassen, bevor die Vorstellung begann. Neben ihm saß eine Dame mit breiten, gesunden Schultern, in prächtiger Vorurteilslosigkeit zur Schau gestellt; jenseits von ihr, rotwangig, mit kraftlosem gelbgrauen Schnurrbart und Kahlkopf, ein Ehegatte; über ihn hinaus wieder zwei Männer, die er zu Eton gekannt hatte. Einer von ihnen hatte ein glattrasiertes Gesicht, dunkles Haar und ein wetterfestes Aussehen. Sein kleiner Mund mit der über der unteren vorgeschobenen Oberlippe, den ein wenig über die achtsamen Augen niederhängenden Lidern, verliehen ihm einen satirischen, zugleich resoluten Ausdruck. »Ich halte dich, wenn es sein muß, an deinem Schweif fest, du Teufel,« schien er zu sagen, als ob er fortwährend damit beschäftigt wäre, irgendeinen Fuchs zu fangen. Des anderen Glotzaugen ruhten mit höhnischem Lächeln auf Schelton; sein dichtes, glattgekämmtes Haar, wie mit Wasser gebürstet und in der Mitte geteilt, sein netter Schnurrbart und das bewundernswerte Jackett, ließen jene Art von Dandytum vermuten, die das weibliche Geschlecht verschmäht. Nach Wiedererkennung dieses alten Schulkameraden, wandte Schelton sich Halidome zu, der geradeaus auf den Vorhang vor sich starrte, nachdem er durch ein kräftiges Räuspern seine Luftröhre gereinigt hatte. Antonies Worte: »Ich habe krankhafte Menschen nicht gern« gingen im Kopfe ihres Verlobten herum. Nun, wie dem auch sei, jedenfalls waren alle diese Personen gesund. Sie sahen aus, als ob sie den Naturgewalten darin Trotz geboten hätten, sie auch, nur mit einem Funken von irgendetwas außer der Gesundheit zu begaben. Soeben ging der Vorhang in die Höhe.

Langsam, widerwillig, denn er war von vertrauensseliger Veranlagung, erkannte Schelton, daß das Stück eines jener Meisterwerke des modernen Dramas war, dessen Charaktertypen nach dem Prinzipe entworfen sind, daß die Menschen für die Moral, statt daß die Moral von den Menschen geschaffen, und er beobachtete, wie sich das Stück mit all seinem sorgfältig ausgearbeiteten Zwischenspiel von Ernst und Scherz entfaltete.

Der Angelpunkt der ganzen Handlung war eine verheiratete Frau, die voller Sehnsucht war, ihren Gatten los zu werden; und vor Scheltons Augen wurde eine Anzahl sinnreich und geschickt erdachter Szenen mit hunderterlei Gründen enthüllt, warum ihr Wunsch unrecht und unzweckmäßig wäre. Diese Gründe ergossen sich hauptsächlich aus dem Munde eines guterhaltenen ältlichen Gentlemans, der die Rolle einer Art von Großjobber in Moralfragen zu spielen schien. Er wandte sich Halidome zu und flüsterte:

»Kannst du jenes alte Weib ertragen?«

Verwundert richtete sein Freund seine hellen Augen auf ihn.

»Welches alte Weib?«

»Ja nun, den alten Dummkopf, mit seiner seichten Plattheit!«

Halidomes Miene nahm einen frostigen Ausdruck an, er war ein wenig betroffen, als ob seine eigene Person angegriffen wäre.

»Du meinst Pirbright?« sagte er. »Ich halte ihn für famos.«

So abgewiesen, wandte sich Schelton der Vorstellung zu. Er fühlte sich – in einem der Parkettsitze seines Freundes sitzend, wie es nun doch der Fall war – eines Verstoßes gegen die guten Sitten schuldig, und natürlicherweise machte er sich nun daran, kritischer als je, auf diese Vorstellung zu achten. Wieder kamen ihm Antonies Worte: »Ich habe krankhafte Menschen nicht gern« in den Sinn; und sie schienen ihm ein plötzliches helles Licht auf dieses Theaterstück zu werfen. Es war tatsächlich durchaus gesund, normal.

Nun war die Krisis eingetreten.

Die Szene stellte einen Salon dar, von elektrischen Glühlampen matt erleuchtet, mit einer Katze (Schelton konnte nicht unterscheiden, ob sie eine lebende oder künstliche war), die auf einem Fußteppich schlief.

Der Gatte, ein kurz und stark untersetzter, gesunder Mann in schwarzem Gesellschaftsanzug nippte des öfteren von seinem Gläschen ungemischten Kognaks. Er stellte seinen Tumbler nieder und entzündete bedächtig ein Streichhölzchen; und dann brannte er sich mit noch größerer, vorbedachter Überlegung eine Zigarette mit goldigem Mundstück an . . .

Schelton war kein unerfahrener Theaterbesucher. Er änderte die Lage seiner Ellbogen, denn er fühlte, daß sich bald etwas Außergewöhnliches ereignen würde. Und sobald das Streichhölzchen ordnungsgemäß ins Feuer geworfen war, lehnte er sich in seinem Sitz vor.

Der Gatte goß sich noch etwas Kognak ein, trank ihn in einem Zuge herunter und schritt auf die Tür zu; und dann, dem Publikum zugewendet, als ob er es in das Geheimnis eines ungeheuerlichen Entschlusses einweihen wollte, paffte er eine Rauchwolke wider dasselbe. Er verließ das Zimmer, kehrte wieder, und füllte abermals sein Glas.

Nun trat eine Dame, bleichen Angesichtes und schwarzäugig – seine Gattin – auf. Der Gatte kreuzte die Bühne und blieb vor dem Kaminfeuer stehen, mit gespreizten Beinen, in einer Stellung, von der Schelton schon früher unbestimmt gefühlt hatte, daß er sie einnehmen würde. Er sprach:

»Komm herein und schließ die Tür.«

Plötzlich gewahrte Schelton, daß er sich Angesicht zu Angesicht mit einem jener stummen Momente befand, in dem zwei Menschen sich ihren unauslöschlichen Haß erklären – den Haß, der der Geschlechtsintimität zweier schlecht zueinander passenden Wesen zugrunde liegt . . . Und er erinnerte sich plötzlich einer Szene, der er einst in einem Restaurant beiwohnte. Er erinnerte sich mit äußerster Genauigkeit, wie da Frau und Mann saßen, einander anblickend über den schmalen weißen Lappen hinweg, auf dem zum Schmucke eine Kerze mit fahlen Schatten und eine dünne, grüne Vase voll gelber Blumen standen . . . Er erinnerte sich des merkwürdigen verachtenden Zornes in ihren Stimmen, verhalten, so daß nur wenige Worte ihn erreichen konnten . . . Er erinnerte sich des gefühllosen Ekels in ihren Augen . . . Und vor allem erinnerte er sich des Eindruckes bei dem Gedanken, daß diese Art von Szene sich auch an jedem anderen Tag zwischen ihnen abspielte und auch weiterhin sich zutragen würde. Und als er seinen Überzieher anzog und seine Zeche beglich, da hatte er sich gefragt: ›Warum, im Namen des einfachsten Anstandes, fahren wir fort, miteinander zu leben?‹ Und während er den zwei zankenden Schauspielern auf der Bühne zuhörte, dachte er nun: ›Was ist all dieses Gerede wert? Es liegt zwischen ihnen etwas vor, das durch Worte nicht ausgedrückt werden kann.‹

Nach dem Akt fiel der Vorhang, und er blickte auf die Dame neben ihm. Sie zuckte mit den Achseln ihrem Gatten zu; dessen Gesicht sah gesund und ärgerlich drein.

»Diese krankhaften Frauen mißfallen mir,« sprach dieser vernehmlich, aber da er Scheltons Blick auffing, drehte er sich in seinem Sitz rechtwinkelig zur Seite und ließ ironisch einen schnüffelnden Ton der Nase hören.

Das Antlitz des – von Schelton weiter entfernt sitzenden – Freundes war gesetzt, wie immer satirisch und mit einer Maske hohnvoller Neugierde bedeckt, als ob er etwas vernommen hätte, das ihm nun nicht wenig mißfiel. Der glotzäugige Herr gähnte. Schelton wandte sich zu Halidome:

»Kannst du derartigen Unsinn ertragen?« sagte er.

»Nein; mir ist diese Szene denn doch ein klein wenig zu scharf,« antwortete sein Freund.

Schelton rückte hin und her; wie gern hätte er doch gesagt, daß sie ihm nicht genug scharf sei.

»Ich wette, was du willst,« sprach er, »ich weiß schon jetzt, was nun kommt. Man wird den alten Esel – wie heißt er nur? – bei Koteletten und Champagner schmausen sehen, um sich zu einer seiner Gemahlin zu haltenden Gardinenpredigt zu ermutigen. Er wird – ich kenne ihn – ihr zeigen, wie krankhaft ihre Gefühle sind, ihre Hand ergreifen und sagen: ›Teure Lady, gibt es, außer der guten Meinung der Gesellschaft, noch irgend etwas in dieser traurigen Welt zu wahren?‹ Und er wird sich den Anschein geben, sich selber darob auszulachen, weil er solches sagte. Aber du wirst ausgezeichnet gut sehen, daß sein altes Ehegespons ihm glaubt. Und dann versetzt er sie in einen Zustand von Zuständen, der wohl nicht ihre eigene, aber seine Auffassungsweise darbietet und ihr zeigt, daß der einzige Weg des Heiles und der Erlösung darin liegt, ihren Ehegatten zu küssen.« Und Schelton verzog förmlich grinsend sein Gesicht. »Jedenfalls wette ich, was du willst, daß er ihre Hand nimmt und spricht: ›Teure Lady‹.«

Halidome wandte ihm die seinen Augen unverhohlen entstrahlende Mißbilligung zu und meinte abermalig mit trockenem Nachdruck:

»Ich halte Pirbrights Rolle für famos!«

Allein das, was Schelton prophezeit hatte, trat doch, sogar unter dem donnernden Applaus des ganzen Hauses ein.



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