John Galsworthy
Auf Englands Pharisäerinsel
John Galsworthy

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Zweites Kapitel

Ein englischer Landpfarrer

Schelton setzte die Fußtour mit seinem Studienkollegen fort und Mittwoch Abend, vier Tage nachdem sie sich zusammengetan hatten, erreichten sie das Dorf Dowdenhame. Den ganzen langen Tag führte die Landstraße durch Weideland mit grünen Hecken und schwer behangenen Ulmen. Ein oder zweimal unterbrach sie die Monotonie, indem sie die Strecke neben dem Schleppweg einer Abflußrinne einschlugen, die, fest verstopft von Wasserlilienpflanzen und hell erglänzendem Unkraut, schwerfällig die Felder entlang brütete. In einer ihrer ironischen Launen hatte die Natur einen grauen und eisenharten Deckmantel über die sanfte Üppigkeit des Landes geworfen. Von der Morgendämmerung bis zum Einbruch der Dunkelheit rührte sich nichts in der stählernen Ferne des Firmaments. In den Heckenzäunen toste ein kalter Wind und ließ die Zweige der Ulmen erbeben. Das Vieh – gesprenkelt, buntscheckig, rötlichbraun oder weiß – graste weiter mit einer Art von Wonnegrunzen über sein Geburtsvorrecht. Auf einer Wiese nahe bei der Kanalröhre sah Schelton fünf Elstern, und um etwa fünf Uhr begann es zu regnen.

Es fiel ein beständiger, kaltlächelnd stichelnder Regen, von dem Crocker, prüfend das Firmament überblickend, erklärte, er würde in einer Minute vorbei sein. Jedoch, er war keineswegs in einer Minute vorbei; bald waren sie bis auf die Haut durchnäßt. Schelton war müde, und es wurmte ihn sehr, daß sein Gefährte, der ebenfalls ermüdet war, eigentlich lebhafter ward. Seine Gedanken kehrten immer wieder zu Ferrand zurück: ›Nun erlebe auch ich etwas derartiges, was er mir beschrieb – weiter und weiter zu walzen, selbst wenn man ganz erschöpft ist, bis man ein Abendbrot und ein Lager erstehen kann . . .‹ Und in verdrießlicher Laune fuhr er fort, den Kot zu durchpflügen und warf dem empörenden Crocker, dessen eine Ferse sich aufgerieben hatte und der gräßlich humpelte, wütende Blicke zu. Wie eine Eingebung dämmerte es in ihm auf, daß für drei Viertel der ganzen Welt das Leben, ohne Möglichkeit einer anderen Alternative, tagtäglich nur physische Erschöpfung bedeutete, und daß, sobald sie aus irgendeiner außerhalb ihres Machtbereiches liegenden Ursache sich nicht mehr solcherart erschöpfen konnten, sie an den Bettelstab gebracht oder zum Hungertode verurteilt waren. »Und dann nennen wir, die wir die Bedeutung des Wortes Erschöpfung gar nicht kennen, jene die ›Müßiggänger und Taugenichtse‹,« sprach er laut.

Es war nach neun und dunkel, als sie Dowdenhame erreichten. Die Straße gewährte ihnen keinerlei Nachtlager, und während sie darüber debattierten, wohin sie gehen sollten, kamen sie an der Kirche mit ihrem vierkantigen Turm vorüber. Daneben stand ein Wohnhaus, das sicherlich eine Pfarrei der englischen Landeskirche war.

»Wie wär's,« sagte Crocker und lehnte seine Arme auf das Gitter, »wenn wir ihn fragten, an wen wir uns wenden sollen?« Und ohne Scheltons Antwort abzuwarten, zog er die Klingel.

Die Tür ward vom Pfarrer selbst geöffnet. Ein blutarmer und glattrasierter Mann, dessen hohle Wangen und knochige Hände an einen unausgesetzten Daseinskampf gemahnten. Asketisch wohlwollend blickten seine grauen Augen, ein blasses und gespenstisches Lächeln kräuselte die Kurven seiner dünnen Lippen.

»Womit kann ich dienen?« fragte er. »Eine Herberge? Ja, da haben wir die ›Zum blauen Schachbrett‹, aber ich fürchte, sie ist schon geschlossen. Die Leute gehen zeitlich zu Bett bei uns, wie ich wohl sagen darf . . .« Und seine Augen schienen über die Hürde nachzusinnen, der diese feuchten Schäflein angehörten. »Sind Sie beide vielleicht Studenten von Oxford?« fragte er, als ob dies etwas Licht in die Sache brächte. »Von Mary's? Wirklich? Ich selbst bin von Paul's. Ladyman – Billington Ladyman, möglich daß Sie sich meines jüngsten Bruders noch erinnern. Wenn Sie sich ohne Bettlaken behelfen wollen, könnte ich Ihnen bei mir ein Zimmer geben . . . Meine Haushälterin hat zwei Tage Urlaub; dummer Weise hat sie die Schlüssel mitgenommen.«

Freudig nahm Schelton an. Er fühlte, daß die Modulation in des Pfarrers Stimme seinem Stand eigen war, er aber keineswegs den Gönner spielen wollte.

»Ich erwarte, daß Sie hungrig sind nach Ihrer Walze. Ich fürchte aber sehr, daß – eh – nichts als Brot im Hause ist. Ich kann Ihnen Wasser kochen; heiße Limonade ist noch immer besser als nichts . . .«

Er geleitete sie in die Küche, machte Feuer und stellte einen Kessel zum Kochen auf. Nachdem er sie verlassen hatte, damit sie ihre durchnäßten Kleider abstreifen konnten, kehrte er mit alten, grünlichen Röcken, einigen Stoffpantoffeln und Decken zurück. Eingehüllt in diese, ihre Gläser tragend, folgten ihm die Wanderer nach dem Studierzimmer, wo er, den Büchern auf dem Tische nach zu urteilen, bei etwas bedenklichem Lampenlicht an seiner Predigt gearbeitet zu haben schien.

»Wir verursachen Ihnen eine Menge Ungemach,« sagte Schelton, »Sie sind allzu gütig . . .«

»Keineswegs,« antwortete der Pfarrer, »ich bedauere nur, daß nichts im Hause ist . . .«

Es war ein wirklich düsterer Kontrast zwischen der Üppigkeit des Landes, das sie durchschritten hatten, und des Pfarrers Stimme, die von blutleeren, wenn schon selbstgefälligen Lippen ertönte, klang herzlich pathetisch. Diese seine Stimme war höchst eigentümlich; sie schien an eine intime Bekanntschaft mit Fleischigem und doch Zartem zu gemahnen, eine Verachtung für das vulgäre Bedürfnis nach Geld auszudrücken, während jedoch die ganze Zeit seine Augen – diese wässerigen, asketischen Augen – so klar wie mit Worten sprachen: »Ach, wenn ich nur wüßte, wie es sich fühlt, ein oder zwei Pfund Sterling bloß einmal oder so im Jahre sich ersparen zu können!«

Alles im Zimmer war wegen seiner Billigkeit angeschafft worden. Da gab es keine Luxusgegenstände und auch nicht genügend Unentbehrliches. Es war freudlos und kahl, die Decke geborsten, die Tapeten verschossen und jene Bücher – jene gekünstelt schmucken, glänzenden Bücher mit fetten Rückeneinbänden und ihnen eingestanzten Wappenzeichen – stachen in der sie umgebenden Dürftigkeit um so mehr hervor.

»Mein Vorgänger,« sagte der Pfarrer, »ließ alles im Hause zugrunde gehen. Wie man mir erzählte, hat der arme Kerl einen furchtbaren Daseinskampf gehabt. Unglücklicherweise steht nichts Besseres in unseren Tagen in Aussicht, da die Pfründe so tief gesunken ist! Er war dazu noch ein verheirateter Mann – große Familie!«

Crocker, der seine dampfende Limonade ausgetrunken hatte, lächelte und nickte schon in seinem Sessel. Mit seinem schwarzen, am Hals eng zugeknöpften Anzug, seinen langen Beinen, die in die Decke gehüllt und gegen die schwache Flamme des neuangezündeten Feuers ausgestreckt waren, sah er etwas mürrisch drein. Anderseits hatte Schelton sein Müdigkeitsgefühl verloren. Die Sonderbarkeit des Ortes regte seine Gehirntätigkeit an. Er warf immer wieder verstohlene Blicke auf die Knappheit rings um ihn. Das Zimmer, der Pfarrer, die Möbel, ja selbst das Kaminfeuer machten auf ihn den Eindruck von Beinen, die ihren Hosen entwachsen waren. Und doch unterlag all dieser Armseligkeit des Gemäldes ein sonderbares Etwas, etwas so Überhebendes und Akademisches, das aller Sympathie trotzte. Es war wohl seine Nervosität, die ihn sagen ließ:

»Ah! warum solch große Familie haben?«

Eine schwache Röte stieg in die Wangen des Pfarrers; ihr Vorhandensein kam ziemlich überraschend. Crocker gluckste, wie ein schlafender Mensch gluckst, der sich verpflichtet fühlt, zu bekunden, daß er nicht schläft.

»Ein großes Unglück,« murmelte der Pfarrer, »gewiß, in vielen Fällen . . .«

Schelton hätte nun gern das Gesprächsthema geändert, aber in diesem Augenblick schnarchte der unglückliche Crocker. Als Mann der Tat war er endgültig eingeschlafen.

»Mich will es schier bedünken,« sprach Schelton eilends, als er sah, wie sich die Augenbrauen des Pfarrers bei dem schnarchenden Geräusche, emporzogen, »daß es Das ist, was man auch ein großes Unrecht nennen könnte.«

»Ach du mein Gott! Aber wieso kann es ein Unrecht sein?«

Schelton begriff, daß er auf irgendeine Weise seine Behauptung rechtfertigen müsse.

»Ich weiß nicht,« sagte er, »man hört von einer solchen Menge von Fällen – von großen Familien der anglikanischen Geistlichen . . . Ich habe selbst zwei Onkel, die . . .«

Auf dem Gesichte des Pfarrers zog sich ein neuer Ausdruck zusammen. Sein Mund hatte sich streng gespannt, und sein Kinn trat leicht zurück. ›Ja, gewiß, nun sieht er wie ein Maulesel aus!‹ dachte Schelton. Auch die Augen waren härter, grauer und papageienhafter geworden. Schelton hatte sein Gesicht nicht mehr gerne.

»Möglich, daß Sie und ich,« sagte der Pfarrer, »daß wir uns in solchen Angelegenheiten nicht verständigen können.«

Schelton fühlte sich zerknirscht.

»Immerhin möchte ich meinerseits eine Frage an Sie richten,« sagte der Pfarrer, als ob er darauf erpicht wäre, Schelton auf dessen niederen Niveau entgegen zu kommen: »Wie rechtfertigen Sie dann die Ehe, wenn diese nicht den Naturgesetzen entsprechen soll?«

»Ich kann nur das sagen, was ich persönlich empfinde.«

»Mein werter Herr, Sie vergessen, daß das höchste Glück einer Frau in ihrer Mutterschaft besteht.«

»Ich sollte meinen, daß diese Wonne durch allzu oftmalige Wiederholung stark ihres Reizes beraubt wird . . . Mutterschaft ist Mutterschaft, ob für eins oder ein Dutzend.«

»Ich befürchte sehr,« antwortete der Pfarrer ungeduldig, obwohl er sich noch immer auf dem niederen Niveau seines Gastes verhielt, »daß Ihre Theorien nicht darauf angelegt sind, die Erde dicht zu bevölkern . . .«

»Haben Sie je in London gewohnt?« fragte Schelton. »In mir läßt diese Stadt immer Zweifel darüber aufsteigen, ob wir überhaupt ein Recht haben, Kinder in die Welt zu setzen.«

»Sicherlich,« sprach der Pfarrer mit wunderbarer Zurückhaltung; und die Knochen seiner Finger krachten in dem Griffe, mit dem er seinen Sessel festhielt, »übersehen Sie dabei die Pflicht gegenüber England, Ihrem Vaterland. Das nationale Wachstum geht allem anderen voran!«

»In der Beurteilung dieser Sache gibt es zwei Standpunkte. Alles hängt davon ab, was man aus seinem Vaterland zu machen, was man ihm zu werden wünscht . . .«

»Wahrhaft, ich wußte gar nicht,« sagte der Pfarrer – und nun kroch der Fanatismus in sein Lächeln – »daß über einen solchen Gegenstand noch Zweifel obwalten können.«

Je mehr Schelton aber zu empfinden vermeinte, daß ihm Befehle bezüglich seiner Anschauungen erteilt würden, desto polemischer ward er natürlich – ganz abgesehen von den Hauptpunkten des Gegenstandes, dem er früher kaum ein tieferes Nachdenken gewidmet hatte.

»Ich glaube wohl, ich mag unrecht haben,« sagte er und heftete seine Augen auf die Decke, in die seine Beine eingewickelt waren; – »aber es scheint mir doch mindestens eine offene Frage zu sein, ob es für unser Vaterland, für England, besser ist, so dicht bevölkert zu sein, daß es ganz unfähig wird, sich selbst zu erhalten.«

»Eines ist sicher,« sagte der Pfarrer, dessen Gesicht wieder seine Blässe gewann, »Sie sind wohl, der reinen Abstammung nach, kein Vollblut-Engländer?«

Diese Redensart übte auf Schelton einen geheimnisvollen Eindruck aus. Einem Impulse widerstrebend, zu entdecken, was er wirklich sei, antwortete er hastig:

»Ganz natürlich bin ich keiner!«

Nun verfolgte der Pfarrer seinen Triumph weiter. Er änderte den Standpunkt der ganzen Diskussion, indem er, statt von dem Scheltons, von seinem eigenen aus, gravitätisch bemerkte:

»Eines ist sicher, Sie müssen doch einsehen, daß Ihre Theorie auf Unsittlichkeit begründet ist . . . Sie ist, wenn ich so sagen darf, ausschweifend – ja sogar gottlos.«

Allein Schelton, der unter der Erregung über seine eigene Unredlichkeit arg litt, antwortete ihm hitzig:

»Sir, warum wollen Sie es nicht gleich hysterisch, ungesund nennen?« So viel ich weiß, wird jede Meinung, die der Majorität zuwiderläuft, so gescholten.«

»Well,« entgegnete der Pfarrer, dessen Augen starrsinnig versuchen zu wollen schienen, Schelton seinem Willen gefügig zu machen, »da muß ich schon sagen, Ihre Ideen scheinen mir in der Tat ausschweifend und ungesund zugleich zu sein. Ist doch die Fortpflanzung durch Kinder der Ehe als höchste Pflicht auferlegt!«

Schelton beugte sich über seine Decke, aber der Pfarrer lächelte nicht.

»Wir leben in sehr gefährlichen Zeiten,« sprach er, »und es bereitet mir immer Schmerz, wenn ein Mann Ihrer Stellung im Leben solchen Ideengängen Vorschub leistet . . .«

»Die,« sagte Schelton, »die der Schuh nicht drückt, machen da irgend ein Moralgesetz und zwingen es denen auf, die der Schuh drückt.«

»Das göttliche Gesetz ward nie gemacht« entgegnete der Pfarrer, »es ward uns offenbart.«

»Ach so!« sagte Schelton, »ich bitte um Entschuldigung!«

Er lief ernstlich Gefahr, die delikate Lage, in der er sich befand, zu vergessen. ›Er will mir seine Ansichten mit Gewalt beibringen,‹ dachte er. Und es schien ihm, daß das Gesicht des Pfarrers nun noch mehr einem Maulesel glich, seine Betonung noch überhebender, seine Augen noch diktatorischer geworden waren. In diesem Argument mit ihm die Oberhand zu bekommen, kam ihm nun als von höchster Wichtigkeit vor, während es in Wahrheit von keinerlei Wichtigkeit war. Was indessen wichtig war, war die Tatsache, daß sie in nichts je übereinzustimmen vermochten.

Doch plötzlich hatte Crocker zu schnarchen aufgehört. Sein Kopf war so tief herabgesunken, daß statt des Schnarchens ein merkwürdiges Pfeifen sich hören ließ. Beide, Schelton und der Pfarrer, betrachteten ihn, und dieser Anblick ernüchterte sie.

»Ihr Freund scheint sehr müde zu sein,« sprach der Pfarrer.

Schelton vergaß all seinen Ärger, denn plötzlich kam ihm sein Gastgeber doch recht rührend vor: Diese sackartigen Kleidungsstücke, hohlen Wangen und die leicht gerötete Nase, die man durch mangelhafte Lufteinziehung bekommt . . . Alles in allem, er war ja doch ein gütiger, gastfreundlicher Kerl!

Der gütige Kerl erhob sich und trat, seine Hände auf den Rücken gelegt, vor das verlöschende Feuer. Lange Jahrhunderte der Autorität lagen hinter ihm. Es mochte wohl nur ein bloßer Zufall sein, daß der Kaminsims brüchig und moderig, die Schüreisen verbogen und verbraucht, seine Wäsche um die Manschetten herum abgenützt, abgerieben war.

»Ich habe keineswegs die Absicht, Ihnen etwas aufzuzwingen,« sagte er, »aber worin Sie mir ganz und gar im Unrecht zu sein scheinen, das ist dieser Punkt: Sie übersehen, daß Ihre Ideen in den Frauen jene laxen Anschauungen über das Familienleben begünstigen, die heutzutage leider so vorherrschend geworden sind in der Gesellschaft!«

In Schelton entstanden Gedanken an Antonie mit ihren lauteren Augen, an den Anflug von Sommersprossen auf ihrer rosigweißen Haut, an das zurückgetürmte blonde Haar – und jenes Wort »lax« klang ihm geradezu lächerlich. Und vor ihm erstanden auch jene Frauen, die er gewohnt war, mit zwei oder drei kleinen Kindern sich in den Londoner Straßen herumschleppen zu sehen; Frauen, gebeugt unter der Last von Kindern, die sie nirgends unterbringen konnten zur Wartung und Pflege; Frauen, die mit noch ungeborenen Kindern zur Arbeit gingen; blutarm aussehende Frauen, geldarme Mütter seiner eigenen Klasse, mit fünf, sechs und auch noch viel mehr Kindern, alle die Opfer der Heiligkeit der Ehe – und wieder schien das Wort »lax« so lächerlich zu sein!

»Wir werden doch nicht zu dem Zwecke geboren, um etwa das zu betätigen, was man schließlich nur nennen könnte . . .«

»Gesunden Menschenverstand?« murmelte Schelton zu sich.

»Unsere geilen, sündhaften Begierden,« sprach der Pfarrer streng.

»Sir, das alles mag ja ganz richtig gewesen sein für die alte Generation unserer Großmütter. Aber England ist heute allzu dicht bevölkert . . . Ich kann nicht einsehen, warum die Menschen nicht wohlbedacht und bewußt auch die Bevölkerungszunahme regeln sollten, nach ihren eigenen vernünftigen Einsichten und Entschließungen?«

»Solch eine Moralauffassung,« sagte der Pfarrer und blickte mit einem geisterhaften Lächeln auf Crocker, »ist mir gänzlich unverständlich . . .«

Crockers Pfeifen nahm an Ton und Mannigfaltigkeit zu.

»Was mir bis in die Seele verhaßt ist,« sagte Schelton, »ist die Art, in der wir Männer bestimmen, was die Frau zu erdulden habe und in der wir sie dann unmoralisch, dekadent oder wie immer schelten, wenn sie mit unseren Ansichten nicht eins ist.«

»Mr. Schelton,« sprach der Pfarrer, »ich glaube, wir können all das ruhig der Fügung Gottes überlassen.«

Schelton schwieg still.

»Die Probleme der Moral,« sagte der Pfarrer prompt, »hat Gott stets in die Hände der Männer, nicht in die der Frauen gelegt. Wir sind nun einmal das Vernunftgeschlecht.«

Starrköpfig warf Schelton ein:

»Ganz gewiß sind wir die größeren Humbugs, wenn dies dasselbe ist . . .«

»Das ist denn doch zu arg!« brach, einigermaßen in die Hitze gebracht, der Pfarrer aus.

»Ich bedauere, Sir! Aber wie können Sie von den heutigen Frauen erwarten, daß sie dieselben Ansichten hegen sollen, wie unsere Großmütter? Schon durch unseren Unternehmungs- und Handelsgeist haben wir Männer für sie ganz andere Verhältnisse herbeigeführt. Und doch versuchen wir, um unserer Behaglichkeit willen, die Frauen auf jener Stufe zu erhalten, auf der sie einst standen. Es sind immerdar diejenigen Männer, die am meisten auf die Wahrung ihrer Behaglichkeit« – in seinem warmen Eifer bemerkte er gar nicht den Sarkasmus, den der Ausdruck »Behaglichkeit« in diesem Zimmer barg – »erpicht sind, die auch die ersten sind, den Frauen vorzuwerfen, die alten Moralbegriffe aufzugeben . . .«

Der Pfarrer erbebte förmlich vor ungeduldiger Ironie.

»Alte Moralbegriffe! neue Moralbegriffe!« sagte er. »Recht eigenartige Worte . . .«

»Verzeihen Sie,« erklärte Schelton, »ich bilde mir ein, wir sprechen von der üblichen Moral? Von einer neuen wahren Moral zu reden, das geziemt kaum einem Mann unter einer Million.«

Die Augen seines Gastgebers zogen sich stark zusammen.

»Ich meine,« sprach er – und seine Stimme klang, als ob er sie in der Bemühung, auf seinen Zuhörer Eindruck zu machen, zusammengepreßt hätte – »daß jedweder Mann von höherer Bildung, der aufrichtig bemüht ist, Gott zu dienen, das Recht hat, mit aller Demut – ich sage: mit Demut – von sich zu behaupten, daß er die Gebote der Moral befolgt.«

Schelton stand auf dem Sprunge, eine bittere Äußerung zu tun; doch er hielt an sich. ›Ja, so bin ich . . .,‹ dachte er, ›versuche, wie ein altes Weib, das letzte Wort zu haben . . .

In diesem Augenblick ward ein jämmerliches Miauen vernehmlich. Der Pfarrer schritt zur Tür.

»Entschuldigen Sie mich für einen Augenblick! Ich fürchte, eine meiner Katzen ist draußen in der Nässe . . . Eine Minute später kehrte er mit einer feuchten Katze in seinen Armen zurück. »Sie brechen doch immer wieder aus,« bemerkte er zu Schelton, mit einem Lächeln auf seinem, durch das Bücken wie von Röte übergossenen Gesicht. Und zerstreut versetzte er, während ihm ein Regentropfen über die Nase lief, der tropfenden Katze einen leichten Schlag. »Armes Miezchen!, du armes Miezchen!« Der Klang jenes bedauernden: »Armes Miezchen!« der in seiner verrückten Übertreibung unmöglich hätte menschenfreundlicher sein können, das Warmherzige jenes Lächelns, das wie das Lächeln der Güte selber war, all das spukte in Scheltons Geist, bis er endlich in einen tiefen Schlaf versank.



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