John Galsworthy
Auf Englands Pharisäerinsel
John Galsworthy

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Fünftes Kapitel

Holm Oaks

Holm Oaks lag nur ein klein wenig hinter der Landstraße – ein altes adliges Herrenhaus, dem Pompe abhold, vielmehr ganz nahe bei den dazugehörigen Schuppen, Ställen und ummauerten Gärten gelegen, gleich einer gütigen Mutter. Lang, mit flachem Dach, rotem Anstrich, hatte es Fenster aus der Zeit der Königin Anne, in deren rautenförmigen, weißeingerahmten Scheiben die Sonnenstrahlen glitzerten.

Auf seiner Vorderseite stand ein Saum von Ulmen, des von allen Bäumen in seinem tieferen Sinn grundsätzlichsten Baumes, der die Weite des Rasenplatzes zwischen dem bekiesten Fahrweg und der Landstraße einfaßte. Und diese Ulmen waren die Nestorte von Krähen – den häufigsten aller Vögel. Eine riesige Espe – ein empfängliches Wesen – zitterte und bebte dort drüben; damit entschuldigte sie ihr Auftreten in solch unerschütterlicher Umgebung . . . Einmal im Jahre ward sie von einem Kuckuck aufgesucht, der kam, um sich über alle festen Lebensregeln lustig zu machen, aber nie lange verweilte. Denn Knaben, die über seine Immoralität erbost waren, bewarfen ihn mit Steinen.

Das in der Senkung sich aufhäufende Dorf hatte seine Furcht vor Automobilen noch nicht eingebüßt. Um dessen Gruppe von flachgesichtigen Landhäuschen mit giebelgekrönten Dächern schwebte ununterbrochen der Duft von Heu, Dünger und Rosen; gerade jetzt störte seine dienstfertige Beständigkeit der Wohlgeruch von Linden . . . Jenseits der Senkung wieder verwahrte eine viereckig getürmte Kirche innerhalb grauer Mauern die Matrikel der Dorfgemeinde, die Geburten, Sterbefälle und Trauungen – sogar die Geburten von Bastarden, selbst die Todesfälle von Selbstmördern! Und sie schien, um die Finger des Herrenhauses zu ergreifen, über die Häupter der minderen Nachbarn eine unsichtbare Hand auszustrecken . . . Wohlanständig und diskret sahen die zwei Dächer, unter Ausschluß all der armseligen Wohnhäuser, einander in die Augen und schienen sich zu einer Verschwörung, diese zu verdecken, vereinigt zu haben.

Den ganzen langen Weg von Oxford hatte die Julisonne sein Gesicht verbrannt; und doch war Schelton blaß, als er den Fahrweg herauf kam und die Glocke läutete.

»Mrs. Dennant zu Hause, Dobson?« fragte er den gravitätischen Haushofmeister, der als alter Gesindevorstand, der er war, noch seine farbigen Hosen trug. Denn noch war es nicht ganz zwölf Uhr, und während des Vormittags erachtete er die farbigen Hosen als eine unverletzliche Unterscheidung zwischen den Lakaien und sich.

»Mrs. Dennant,« antwortete diese Standesperson, das runde und haarlose Gesicht erhebend, während auf dem Munde jenes apologetische Aufwerfen der Lippen erschien, das von einem Leben in Gemeinschaft besserer Familien kommt – »Mrs. Dennant ist ins Dorf gegangen, Sir. Aber Fräulein Antonie ist im Frühstückszimmer.«

Schelton kreuzte den hochgetäfelten, tief gedeckten Vorraum, durch dessen Hintergrund der freie glatte Rasenplatz, ein Anblick heiterer Klarheit, sichtbar war. Er stieg sechs breite, niedere Stufen empor und blieb nun stehen . . . Aus dem Innern eines Zimmers drangen die Töne einer Skala; er stand stille, eine Beute seiner Rührung, und in seinen Ohren vermengten sich die Notenklänge mit dem Pochen seines Herzens . . . Leise drückte er die Türklinke auf, ein regungsloses Lächeln auf seinen Lippen.

Antonie saß vor dem Piano. Ihr Haupt bewegte sich ruckweise hin und her zu den Bewegungen ihrer Finger und ihre schmächtigen, monoton sich rührenden Füße drückten die Pedalzüge nieder. Kurz vorher hatte sie Tennis gespielt, denn ein Schlagnetz und Tam-o'-shanter lagen am Boden. Gekleidet war sie in ein blaues Röckchen und cremefarbige Bluse, die ohne Kragen ihren Hals umgab. Ihr Antlitz war stark gerötet und wies ein kleines Stirnrunzeln dar. Während ihre Finger die Klaviertasten entlang jagten, schwankte ihr Hals, und um ihre Arme bebte und schmiegte sich die Seide.

Scheltons Augen blickten wie gebannt auf die stillen, zählenden Lippen, auf das blonde Haar rings um die Stirn, die dunklen, der Nase zu seitlich geneigten Augenbrauen, auf die Wangen ohne Grübchen, mit den leisen Fingermalen unterhalb der eisbläulichen Augen, auf das ganze, ihm noch ferne, süße, sonnberührte und doch so eisige Angesicht.

Sie wandte ihr Haupt und rief, aufspringend, aus:

»Dick! Welcher Spaß!« Sie reichte ihm ihre beiden Hände, doch ihr lächelndes Antlitz sagte sehr deutlich: ›Oh, bitte, nur nicht sentimental!‹

»Freut es dich nicht, mich zu sehen?« murmelte fast unvernehmlich, Schelton.

»Freut mich sehr, außerordentlich! Wie komisch du bist, Dick! . . . als ob du es nicht wüßtest! . . . Ei, du hast dir den Bart abrasiert! Mutter und Sybil gingen ins Dorf, zu Mrs. Hopkins. Wollen wir ausgehen? Thea und die Jungens spielen Tennis. So fidel, daß du gekommen bist!« Fangend hob sie den Tam-o'-shanter auf und befestigte ihn mit Stecknadeln auf ihrem Haar. Fast so groß wie Schelton, sah sie sogar noch größer aus, da sie die Arme hoch hielt und die losen Ärmel, die Fingerbewegungen begleitend, wie Flügel zitterten. »Vor Lunch könnten wir noch ein Spiel machen . . . Du kannst dir mein zweites Schlagnetz nehmen.«

»Ich habe kein Kostüm mit,« sagte Schelton bestürzt.

Ihr ruhiger Blick überflog seine Gestalt.

»Nimm alles Nötige vom alten Bernard! Er hat mehr davon, als er braucht. Ich warte auf dich.« Sie schwang ihr Schlagnetz, betrachte Schelton und rief: »Nur schnell!« Und schon war sie entschwunden.

Schelton lief die Stiege hinan und kleidete sich in jener Ungemütlichkeit an, die alle Männer befällt, die sich anderer Leute Kleider anlegen. Als er herunter kam, befand sie sich im Vorraum, eine Melodie summend und sich auf dem Schuhabsatz herumdrehend; ihr Lächeln zeigte alle ihre perlartigen oberen Zähne. Er fing sie bei ihrem Ärmel und flüsterte:

»Antonie!«

In ihre Wangen schoß das Blut; sie sah über ihre Schulter auf ihn zurück.

»Komm nur mit, lieber Dick!« schrie sie; und die Glastürflügel aufwerfend, rannte sie in den Garten.

Schelton folgte ihr.

Das hohe Netzwerk eines Gestüts teilte den Tennisspielplatz. Ein Steineichenkamm beschattete die eine Ecke, und seine dichte dunkle Folie verlieh der grünen Glätte der Szene einen ganz unerwarteten Tiefgrund. Als Schelton und Antonie sich näherten, hielt Bernard Dennant im Spiele inne, und herzlich ergriff er Scheltons Hand. Auf der entfernteren Seite des Netzes schlenderte Thea, in gekürztem Röckchen, warf ihr langes blondes Haar zurück und, sich vor der Sonne schützend, kam sie zu ihnen herangeschlendert. Der Schiedsrichter, ein kleiner zwölfjähriger Knabe, lag quiekend auf dem Bauche und neckte einen Schäferhund. Schelton bückte sich und riß ihn bei den Haaren.

»Halloh, Toddles! Junger Halunke, du!«

Insgesamt umstanden sie Schelton und in ihren Augen leuchtete eine rücksichts- und mitleidslose Frage; in ihren Nasenwinkeln lag etwas Feilschendes und Argwöhnendes, als ob ihm irgendein feiner, durchdringender Duft entströmte, der Neugierde und Mißbilligung erregte.

Als die Spielgänge vorbei waren, und die Mädchen in der doppelten Hängematte unterhalb der Steineiche ausruhten, ging Schelton mit Bernard zu dem Gestüt hinüber, um dort nach den verlorenen Bällen zu suchen.

»Du, hör' mal, mein lieber Bursch,« sagte sein alter Schulkollege und lächelte dabei trocken, »dir wird die Hausmutter noch gehörig den Kopf waschen.«

»Den Kopf waschen?« murmelte Schelton.

»Mir ist nicht viel bekannt, aber laut einigen Redensarten, die sie fallen ließ, scheint's, daß du in deinen Briefen an Antonie über recht merkwürdige Dinge geschrieben hast . . .« Und abermals betrachtete er Schelton mit seinem trockenen Lächeln.

»Merkwürdige Dinge?« sprach letzterer ärgerlich. »Wie meinst du das?«

»Oh, frage mich nicht . . . Die Hausmutter glaubt, sie sei schlecht daran – unschlüssig, oder wie man's halt nennen will. Du sollst ihr gesagt haben, daß die gesellschaftlichen Verhältnisse nicht so sind, wie sie sein sollten . . . Das ist eine böse Sache, versteh mich wohl . . . und er schüttelte, noch immer lächelnd, den Kopf.

Schelton senkte seine Augen.

»Well, sie sind es wirklich nicht!« sagte er.

»Oh, schon recht und gut! Aber, mein lieber Junge, bring deine Philosophie nicht hierher!«

»Philosophie!« sprach Schelton verlegen.

»Gestatte uns doch gütigst, ein oder zwei heilige Vorurteile zu bewahren.«

»Heilige! Nichts ist heilig, außer . . .« Aber Schelton beendete seine Bemerkung nicht. »Ich verstehe nicht . . .« sagte er.

»Ideale und derlei Dinge! Mein Lieber, du hast unterhalb der Wasserlinie der ›praktischen Politik‹ gehandelt, das ist dein Pech und eigentlich das Ganze, was mit dir los ist.« Er hob, plötzlich sich bückend, den letzten Ball auf. »Dort ist die Familienmutter!« Schelton sah Mrs. Dennant mit ihrer zweiten Tochter Sybil über den Rasenplatz einherkommen.

Zur Zeit, da sie die Steineiche wieder erreichten, hatten sich die drei Mädchen, Arm in Arm wandelnd, schon nach dem Hause zurück begeben, und Mrs. Dennant stand, in einem grauen Kleid, ganz allein dort und sprach zu einem Untergärtner. Ihre Hände, umschlossen von gelbbraunen Stulphandschuhen, hielten ein Körbchen, das den bärtigen Gärtnergehilfen vor der strengen, aber reichlichen Saumlinie ihrer zufällig ganz zweckmäßig aussehenden Schoß eine achtungsvolle Distanz wahren ließ. Aufrecht auf seinen Schenkeln saß der Schäferhund, betrachtete ihre zwei Gesichter und spitzte die Ohren in dem Bemühen, die Unterschiede des einen von dem anderen dieser beiden Zweifüßler vollauf zu würdigen.

»Danke sehr, das genügt, Bunyan. Ach, Dick! Entzückt, Sie wieder bei uns zu sehen, endlich!«

In seinem Verkehr mit Mrs. Dennant übersah Schelton nie, die typischen Merkmale ihrer Persönlichkeit wahrzunehmen. Ihm kam immer so vor, sehr vielen Damen gleich ihr begegnet zu sein. Doch er empfand, daß ihre unbestreitbare Eigenart von einem entindividualisierten Beigeschmack war, sie sozusagen für ihre ganze Klasse einstand. Wirklich dachte sie stets, daß es für eine Dame unschicklich wäre, für sich selbst einzustehen; dennoch war sie durch und durch ein Charakter. Hochgewachsen, mit ein klein wenig gebogener Nase, langem schrägen Kinn und einem selbstbewußten, wohlwollenden Mund, der vielleicht zu viele Zähne entblößte – und wenn auch mager, so war sie doch keineswegs unkörperlich. Der Akzent ihrer Sprache bekundete schon ihre Abstammung. Es war eine Art Hinausziehen der Worte, das vulgäre Nebensächlichkeiten, wie die Betonung, mißachtete, sich auf einige Silben stützte und das Schluß-g stets verschmähte – also in der Tat, der ganz eigenartige Akzent der englischen Aristokratie, der die Freuden des Lebens vorbedacht steigert.

Schelton wußte, daß sie sich für Vieles interessierte. Wirklich müßig war sie nie. Weder am frühen Morgen, wo ihr – um 7 Uhr – ihr Kammermädchen eine kleine porzellanene Teekanne mit einem einzigen Biskuit brachte und dazu ihr Schoßhündchen Tops; noch bis elf Uhr nachts, um welche Zeit sie sich noch eigenhändig eine Wachskerze in einem silbernen Leuchter anzündete und, diesen in der einen Hand und in der anderen den neuesten Roman, oder, noch lieber, eines jener entzückenden Bücher, geschrieben von bedeutenden Persönlichkeiten über noch bedeutendere Persönlichkeiten, denen sie dereinst begegnet waren – ihren Kindern und Gästen eine gute Nacht wünschte. Nein! Mit photographischen Aufnahmen, dem Vorsitz in einem lokalen Frauenverein, den Besuchen bei den vornehmen Reichen, der Aufsicht über die Armen, mit all ihrer Blumenzucht und Lektüre, war sie immerdar beschäftigt. Und indem sie alle ihre Ansichten so nett in Ordnung hielt, daß sich keinerlei ausländische Gedanken in sie verirren konnten, war sie auch niemals müßig. Die Mitteilungen, die sie all jenen Quellen verdankte, waren beides: unermeßlich und vielseitig. Nie aber hätte sie ihnen gestattet, ihre so ziemlich ungewürzten Meinungen zu beeinflussen, die samt und sonders irgend einer Schüssel entstammten, in die sie und ihre ganze Klasse nicht mehr als ihre Finger getunkt hatten.

Er hatte sie ganz gern. Niemand konnte anders, als sie lieb haben. War sie doch so gütig, von solch vornehmer Eigenart, die einen auf die Idee bringen konnte, sie sei aus dünnem, vortrefflichem und nützlichem Porzellan. Auch duftete sie – wohl nicht von Verbene, Veilchen oder jenen Parfümen, die Frauen sonst so lieb sind, sondern von garnichts! es war als ob sie gegen jede Verlockung durch falschen Prunk von vornherein Stellung genommen hätte. In ihrem Verkehr mit Personen, die ihr ›nicht ganz angemessen‹ waren – von dieser Kategorie schloß sie den Ortsgeistlichen, obwohl sein Vater noch ein Schnittwarenhändler gewesen, aus –, schien ihre aus guter Familie stammende vornehme, nicht zudringliche und mit bedeutendem praktischen Verstand durchsetzte Lebensart förmlich unaufhörlich zu murmeln: »Ich bin ich und du – well, wer bist eigentlich du, nicht wahr?« Aber in dieser Haltung lag kein erhabenes Selbstbewußtsein, denn in der Tat, sie war keine bloß durchschnittliche Dame. Es lag einfach so, daß sie nicht anders konnte, hatte sich doch alle ihre ganze Anverwandtschaft ebenso gegeben. Ihre Ammen hatten, über deren Wiegen gebeugt, ihnen, ihrem Organismus etwas eingeblasen, was sie späterhin auf immer daran hinderte, tief und klar Atem zu schöpfen. Und wie erst ihre Umgangsart! Ah, ihre Manieren – sie verbargen das innere Weib so sehr, daß unwillkürlich ein Zweifel über dessen Vorhandensein zurückblieb!

Schelton lauschte der gütigen Lebhaftigkeit, mit der sie sich über den Untergärtner ausließ.

»Armer Bunyan! Vor sechs Monaten verlor er seine Gattin . . . Im Anfang ertrug er es ganz gut, jetzt aber wird er wirklich unglücklich. Ich habe alles getan, was ich konnte, ihn ein bißchen aufzurütteln. Es macht mich selbst so melancholisch, ihn trübsinnig vor mir zu sehen . . . Und die Art, wie er die neuen Rosenstöcke verstümmelt, mein lieber Dick! Ich fürchte sehr, er wird noch ein ganzer Narr. Werde ihn noch entlassen müssen, den armen Kerl!«

Es war klar, daß sie mit Bunyan sympathisierte oder ihn eigentlich für berechtigt erachtete, sich ein klein wenig einem ja an sich ganz zuträglichen Gram hinzugeben, da der Verlust einer Gattin als eine kanonische und gesetzmäßige Gramesursache gilt. Aber nur keine Übertreibung! Oh, nur das nicht!

»Ich teilte ihm auch mit, ich würde seinen Lohn steigern,« seufzte sie. »Sonst war er immer solch ein ausgezeichneter Gärtner! Das erinnert mich daran, mein teurer Dick – ich möchte Einiges mit Ihnen besprechen . . . Gehen wir zum Lunch hinein?«

Ihr Notizbüchlein, in dem sie sich Mrs. Hopkins Angelegenheit notiert hatte, zu Rate ziehend, eilte sie Schelton voraus, dem Hause zu.

Es war etwas spät an jenem Nachmittag, als Schelton den ›Kopf gewaschen‹ bekam. Doch durch die momentane Abwesenheit von Antonie hypnotisiert, schien ihm das Ganze nicht gar so ernst.

»Nun, Dick,« hatte die ehrenwerte Mrs. Dennant gesagt, und zwar in ihrer entschiedensten Wortdehnung, »ich halte es für durchaus unrichtig, daß Sie Antonies Kopf mit allerlei Ideen anfüllen!«

»Ideen?« murmelte Schelton verwirrt.

»Wir alle wissen,« fuhr Mrs. Dennant fort, »daß die Verhältnisse nicht immer so sind, wie sie sein sollten.«

Schelton sah sie an. Sie saß an ihrem Schreibtisch und fertigte in ihren großen, losen Zügen eine Einladung an einen Bischof zum Diner aus. Sie legte nicht die leiseste Spur von Verlegenheit an den Tag, und doch konnte Schelton nicht umhin, ein gewisses Gefühl von innerer Erschütterung zu empfinden. Wenn sogar sie – selbst sie! – der Meinung war, daß die Verhältnisse nicht so seien, wie sie sein sollten – dann mußte es schon sehr schlecht um die Verhältnisse bestellt sein!

»Verhältnisse!« sprach er unvernehmlich.

Gütig, aber auch streng blickte Mrs. Dennant ihn an, mit Augen, die ihn an die einer Häsin erinnerten.

»Wissen Sie, sie zeigte mir einige Ihrer Briefe . . . Well, bei mir hilft Ihnen keinerlei Leugnen, nichts, mein lieber Dick! Sie haben seit einiger Zeit zu viel nachgedacht, gegrübelt.«

Schelton begriff, daß er ihr unrecht getan hatte. Sie, die ›Verhältnisse‹ genau so behandelte wie Untergärtner – legte sie einfach zur Seite, wenn sie Anzeichen darwiesen, sich Extremen hingeben zu wollen . . .

»Tut mir leid, aber ich kann nicht anders,« antwortete er.

»Mein lieber Junge, auf diese Weise werden Sie nie vorwärts kommen. Nun, ich will bloß, daß Sie mir versprechen, nicht mehr über derlei Dinge zu Antonie zu reden.«

Schelton hob seine Augenbrauen.

»Oh, Sie wissen schon, wie ich das meine!«

Er sah, es würde das faktisch ihr Gefühl für Ton und Anstand verletzen, wollte er sie etwa fragen, was sie unter ›Verhältnisse‹ verstünde. Es wäre auch grausam gewesen, sie zu zwingen, der Oberflächlichkeit ihres Wesens zu entsagen!

Darum sprach er: »Ganz richtig!«

Zu seinem höchsten Erstaunen brachte sie, in jenem merkwürdigen und pathetischen Erröten von Frauen, die ihre Jugend hinter sich haben, errötend und wortdehnend nun folgendes heraus:

»Was die Armen anbelangt . . . und die Verbrecher . . . und die unvernünftigen Ehen – beiläufig bemerkt: jene Hochzeit fand statt, wissen Sie davon?«

Schelton beugte sein Haupt. Mutterschaft, das war zu viel für sie . . . In ihrer mütterlichen Verwirrung hatte sie nun den Sprachverstoß begangen, mit so riesig vielen Worten die ›Verhältnisse‹ zu berühren.

›Erkennt sie wirklich nicht die Komik,‹ dachte er, ›die darin besteht, daß der eine Engländer an einer Goldtafel speist, der andere aber im Rinnstein sein Mahl verzehrt? oder daß zwei gesetzlich verheiratete Menschen in vollständigster Uneinigkeit in ihrem Eheverkehr fortfahren – pour encourager les autresum die andern zu ermutigen – und dabei einerseits zu Jesus Christus beten, andererseits auf ihre Gesetzansprüche bestehen? oder die Verachtung, die Ausländern in England bloß darum gezollt wird, weil sie Ausländer sind? oder was denkt sie über den Krieg? oder über alles das, was in England ebenso unendlich spaßig ist?‹ Allein er ließ ihr eine gewisse Summe von Gerechtigkeit widerfahren, indem er doch anerkannte, daß all diese Paradoxe ihr nur natürlich erschienen, da sie ihr ganzes Leben damit verbracht hatte, es zu versuchen, jene Komik in all den Dingen des englischen sozialen Lebens nicht zu bemerken.

Allein Antonie stand lächelnd im Türrahmen. Strahlend und fröhlich und doch auch grollend, sah sie aus, als ob sie wüßte, daß man von ihr gesprochen hatte. Sie ließ sich an Scheltons Seite nieder und begann, ihn wegen des jugendlichen Ausländers, von dem er ihr erzählte, auszufragen. Und ihre Augen ließen Zweifel in ihm aufsteigen, ob sie auch die Komik begreife, die darin liegt, daß ein Mensch andere begönnern kann.

»Aber, ich glaube halt doch, daß er in Wirklichkeit ein recht anständiger Mensch ist,« sagte sie dann – »ich meine, daß alle die Sachen, die er dir erzählte, nur . . .«

»Anständig!« antwortete er und konnte dabei nicht still sitzen. »Tatsächlich, ich verstehe nicht, was dieses Wort besagt.«

Ihre Augen umwölkten sich. ›Wie kannst du nur so reden, Dick?‹ schienen sie ihn zu fragen.

Schelton streichelte ihren Ärmel.

»Erzähle uns doch von Mr. Crocker,« sagte sie, ohne dieser Liebkosung zu achten.

»Ein Verrückter!« sagte er.

»Verrückter! Wieso? Laut seinen Briefen betrug er sich prächtig.«

»Nun ja,«sprach, ziemlich beschämt, Schelton; »in Wirklichkeit ist er nicht im Geringsten verrückt – das heißt, ich wünschte, ich wäre nur halb so verrückt . . .«

»Wer ist närrisch?« fragte Mrs. Dennant hinter dem Aschenkrug, – »Tom Crocker? Ach ja! Ich kannte seine Mutter. Sie war eine Springer.«

»Legte er die Strecke in einer Woche zurück?« fragte Thea, die mit einem Kätzchen im Fenster erschien.

»Mir nicht bekannt,« war Schelton zu antworten genötigt.

Thea warf ihr Haar zurück.

»Das muß ich doch als höchst nachlässig von Ihnen bezeichnen, sich nicht um eine solch wichtige Sache erkundigt zu haben.«

Antonie runzelte die Stirn.

»Du hast dich tatsächlich sehr lieb gegenüber jenem jungen Ausländer benommen, Dick,« murmelte sie, mit einem Lächeln zu Schelton. »Wie gern möchten wir ihn hier sehen . . .«

Aber Schelton schüttelte den Kopf.

»Mich dünkt,« äußerte er, »daß ich für ihn so wenig, als ich nur konnte, tat . . .«

Wieder nahm ihr Antlitz einen nachdenklichen Ausdruck an, als ob seine Worte ihr ein Frösteln verursachten.

»Ich weiß nicht, was du mehr für ihn hättest tun können,« antwortete sie.

Ein heißer Wunsch, ihrem innersten Wesen ganz nahe zu kommen, halb Angst, halb Schmerz; ein Gefühl der Nutzlosigkeit und Vereitelung; ein innerlich zehrendes Feuer ließ ihn empfinden, als ob eine Flamme an seinem Herzen leckte . . .



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