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Neuntes Kapitel

Am andern Morgen – es war trübes Märzwetter – kam Andrees vom Kirchhof her nach dem Heidehof. Er war etwas erkältet; sonst schienen ihm die Stunden im Watt nicht geschadet zu haben. Gegen Mittag wollte er nach Flackelholm zurück. Er berichtete kurz, daß er mit Franz eine Unterredung gehabt, und daß sie beschlossen hätten, den Versuch zu machen, wieder als Vettern miteinander zu verkehren.

»Ich hoffe,« sagte Heim, »daß er nach diesem Ereignis von der Pachtung zurücktreten wird.«

»Er deutete so etwas an; aber ich gehe jetzt nicht darauf ein, da er körperlich ganz gebrochen ist. Er kann seine Füße nicht ansetzen und hat große Schmerzen.«

»Was denkst du also zu thun?«

»Ich gehe wieder nach Flackelholm, baue das Haus und mache Hochzeit.«

»Sehr gut,« sagte Heim, und Eva nickte.

»Nun möchte ich gerne,« sagte Andrees, »daß du mit mir nach Strandigerhof kämest und ihn besuchtest; ich glaube, es würde ihn freuen. Er sagte, du hättest diesen ganzen Winter kein Wort mit ihm geredet und wärest ihm absichtlich aus dem Weg gegangen.«

»Kann ich zu ihm gehen,« rief Heim, »wenn er den ganzen Eschenwinkel ruiniert?«

»Er deutete mir an, daß er sehr wenig Freundlichkeit im Leben empfangen hätte, auch hier in der Heimat nicht, auch von dir nicht! Gehst du mit? Dann sind die drei Getreuen wieder bei einander.«

Heim kehrte sich rund um: »Eva! Meinen Sonntagsrock! Seit ich mit dir über die Heide ging, machte ich nicht wieder einen so schönen Gang.«

Andrees sah ihm nach: »Der ist glücklich! Er hat jetzt die Arbeit, die ihm zusagt: Bauer und Schriftsteller.«

Eva lachte: »Mit dem Bauer ist es eine bedenkliche Sache; der Bauer bin ich. Aber ich bin doch sehr glücklich. Sehen Sie, Andrees, viele Männer sinken zusammen, wenn sie verheiratet sind. Vorher haben sie den Kopf voll von Plänen; da wollen sie viel erreichen; nachher aber, wenn die Frau da ist und gar die Kinder, meinen sie, sie haben genug gethan und werden gewöhnliche, langweilige oder gar verdrießliche Menschen.«

»Ich will mir's merken.«

»Bitte! Aber Heim ... Heim ist seitdem fleißiger geworden. Nun schreibt er.«

Sie deutete auf den Schreibtisch, wo die großen gelben Bücher standen, die jetzt aber in Reih und Glied zurückgestellt waren, als hätten sie ihre Arbeit verrichtet, und sagte: »Er hat sich mit großem Fleiß mit den Urkunden der Landesgeschichte beschäftigt; Sie wissen, er hat ein gutes Talent für Sprachen und Geschichte. Beim Dänischen konnte Nachbar Haller ihm behilflich sein; doch liest er es jetzt schon flink weg. Und nun, als er so las und wieder las, sind die alten gemalten Bilder lebendig geworden; die toten Menschen haben die Augen aufgeschlagen, die Dörfer und Heideflächen haben sich mit Menschen belebt, die lange schon schlafen.«

»Es ist fast etwas Unheimliches mit dieser Gabe.«

Eva nickte. Dann hob sie lebhaft den Kopf. »Nachdem Sie nun hiervon gesprochen haben, Herr Strandiger, müssen wir noch von etwas Anderem reden.«

Er sah sie fragend an: »Von Ingeborg?«

»Nun also von Ingeborg.«

»Ingeborg,« sagte er langsam, »war nicht ganz frei von Franz, obgleich sie ihm damals auf der Heide so wacker widerstanden hat. Er ist ein Strandiger, wie ich, und mir in manchem ähnlich; ja er ist rascher, gewandter und ansehnlicher als ich. So mag es erklärlich sein. Jetzt aber ist sie ganz mein, alles Zaudern hat bei ihr ein Ende und bei mir erst recht; im Juni ist Hochzeit.«

»Ihr werdet auf Flackelholm wohnen?«

»Ja, wenigstens diesen Sommer. Das wird gut sein für mich, für Ingeborg und für Flackelholm; später wird sich dann etwas Anderes für uns finden. Übrigens hat Reimer Witt große Lust, nachher als mein Verwalter auf Flackelholm zu bleiben; aber seine Frau hat keine Neigung dazu, auch macht der Schulbesuch der Kinder Schwierigkeit.«

»Das war dies Thema! Haben Sie nicht sonst etwas zu sagen, oder zu fragen oder vielleicht zu sehen? Sie waren während fünf Monate nicht in unserm Hause.«

Er sah fast ein wenig verlegen in ihr lächelndes Gesicht. Da endlich besann er sich: »Ach, der Junge! Der Erstgeborene! Verzeihen Sie!«

»Schwer zu verzeihen, Herr Strandiger! Aber ich will Ihnen das Kind doch zeigen.«

Als sie ging, erschien Heim, den Rock noch in der Hand, in Eile. »Komm' mit,« sagte er und führte ihn in das lange Zimmer ans Fenster.

Da fuhr die Kutsche vom Hof, mit Koffern beladen, den regendurchweichten Sandweg hinauf. Es saß niemand darin als die alte Hobooken: die hielt ihren Auszug. An der Wand des Schulhauses standen zehn oder zwölf Kinder in der Reihe und ließen das Märzwasser, das vom Strohdach leckte, auf ihre Pantoffeln und Schuhe träufeln. Sie sahen einander an, und allmählich, wie ihnen der Mut wuchs und der Wagen vorwärts fuhr, löste sich die Reihe auf, während sie riefen: »Kein Erbarmen! Kein Erbarmen! Fährt heidi! Mensch, nun wollen wir mal singen: Lieb Vaterland, magst ruhig sein.«

Heim lachte, er strahlte sogar; er kann sich leider noch über jeden dummen Jungenstreich freuen; Andrees aber sah ernst darein.

 

Am dritten April, da die Witterung es zuließ, fingen sie mit dem Hausbau an. Am Fuß der Düne steht es und in ihrem Schutz, neben der kreisrunden Schaftränke. Unten im Erdgeschoß sind vier Räume, Vordiele, Küche und zwei Stuben; oben sind zwei Stuben. Der Rest des Hauses ist für das Vieh bestimmt; unten ist ein großer Stallraum, gleich einer Dreschdiele, mit Fußboden von festgestampftem Lehm, und oben Raum für Winterfutter. Das Gebäude ist fest, in Cement aufgemauert, mit starken, zehnzölligen Mauern, mit kleinen Fenstern und schwerem Ziegeldach. Es ist das Gegenteil von einem Sommerhaus.

Rund um das Haus und die Tränke ist in einem Kreise, der ungefähr einen Hektar Land umschließt, ein Deich gebaut, ein sogenannter Ringdeich, der fünf bis sechs Meter hoch ist und namentlich nach der Strandseite hin einen stattlichen, breiten Fuß hat; sein Körper ist aus der festen Erde gemacht, die unweit des toten Wassers lag. Um ihm aber sein starkes Kleid zu geben, sind auf dem Maifeld viereckige Grassoden, mit dichtem Drückdal durchwachsen, säuberlich ausgestochen und dicht aneinander aus ihn gelegt worden. Im ersten Monat sah man noch die geraden Kreuz- und Querstreifen der Sodenreihen; aber im Sommer waren sie bald verschwunden; das Gras sproßte auf, die Soden verwuchsen; nun hatte er seinen grünen, starken Rock.

Sie arbeiteten mit vierzig Mann zweieinhalb Monate lang. Es waren lauter hiesige Arbeiter, meist Leute, die im Vorland zu arbeiten gewohnt sind. Andrees Strandiger führte unter ihnen ein strenges Regiment, war aber beliebt, weil er, wenn auch wortkarg und zuweilen, wie sie sagten »pütjerig«, doch gerecht war und nicht mehr verlangte, als ein Mann leisten kann; sie fühlten auch, daß er es gut mit ihnen meinte. Er sorgte fleißig, daß sie gute Nahrung hatten, und besorgte treulich die Postanweisungen, die sie ihm an Frau und Kinder mit nach Büsen gaben; und sie rechneten es ihm hoch an, daß er keinen Schnaps auf der Insel duldete, aber guten Kaffee, der von Antje bereitet wurde, unentgeltlich zu ihrer Verfügung stellte. Zuweilen, in Regentagen, war die Arbeit sauer und beschwerlich. Wenn dann das Gefühl der Einsamkeit oder die Sehnsucht nach den Frauen dazukam, dann herrschte Mißstimmung auf ganz Flackelholm. Aber an manchem Abend auch, der still und freundlich war, klang fröhlicher Gesang von der Düne herab.

Hier in diesen Monaten und an diesem Arbeitsplatz war es, daß zuerst die Enthaltsamkeitsbestrebungen in diese Gegend kamen. Es waren unter den Arbeitern einige aus der Gegend von Eiderstedt und Tondern, die sich aller Spirituosen enthielten. Zuerst hatten sie einigen Spott zu leiden, aber es währte nur kurze Zeit. Die Kaffeeschenke, die Antje zu Ehren brachte, that das ihre. Als Christoff Dwenger im Juni nach dem Dorf zurückkam, gründete er die erste Guttemplerloge in dieser Landschaft.

Am zehnten Juni, dem Todestag von Friedrich Strandiger, war Haus und Deich fertig. Weil es kein Laub auf der Insel gab, machte Christoff Dwenger einen Kranz aus gelbem Strandhafer und hängte ihn an den Richtstock über den First des Hauses.

Da fuhren in der Morgenfrühe fünf Bretterwagen hintereinander vom Eschenwinkel durch das Watt.

Den ersten lenkte Heim, neben ihm saßen Eva und Ingeborg, hinter ihnen, auf dem zweiten Stuhl, Reimer und Telsche Spieker und Bertha Witt. Den zweiten lenkte Vollmacht Möller, der im Koog, unweit des Deichs, den großen Hof hat und zeitlebens Interesse an Deichen und Watten gehabt hat. Neben ihm saß Haller, die kurze Pfeife im Mund, über allerlei Naturerscheinungen, wie das Watt sie zeigt, klug und lehrhaft redend, mit dem Vollmacht sich streitend, der alle Dinge mehr vom Nützlichkeitsstandpunkte betrachtete. Hinter ihnen saß Anna Haller, nicht ohne Sorgen über die weite Öde sehend. Sie wollte erst nicht mit; denn eine Heldin ist sie nicht, obgleich sie sich so den Anschein giebt. Als sie aber erfuhr, daß der neue Pastor mitfahren würde, entschloß sie sich doch. Nun sitzt sie neben ihm auf dem Wagenbrett, und der verständige Mann, der schon allerlei in der Welt erfahren hat – er war jahrelang Hilfsprediger in einer großen Stadt –, wundert sich über sich selbst, daß ihm so heimelig zu Mut ist, während er mit seiner siebzehnjährigen Nachbarin plaudert. Er kennt sie schon seit einigen Monaten, aber er beschließt jetzt, noch häufiger ins Schulhaus zu gehen. Es ist gemütlich da, und das Pastorat ist groß und leer, und seine Mutter, die Tischlersfrau, hat zu ihm gesagt: »Wenn es angeht, Hans, dann nimm ein wenig Rücksicht auf uns! Nimm dir deine Frau aus einem einfachen Hause, daß ich nicht Herzklopfen habe, wenn ich einmal zu dir kommen will.«

Den dritten Wagen lenkte Christian Möller, der Sohn der Frau vom Münchshof, der den Besitz am witten Knee hat. Er ist von Heim aufgefordert, die Fahrt mitzumachen; denn obgleich etwas jünger, ist er doch vom Gymnasium her ein guter Freund von Heim und Andrees. Seine Frau, in Hellem Haar und mit neugierigen Kinderaugen, sitzt neben ihm. Hinter ihnen liegen Peter Nahwer und der Pellwormer im Stroh. Sie wollen das neue Land kennen lernen; denn obgleich sie über vierzig Jahre im Eschenwinkel wohnen, haben sie Flackelholm noch nicht gesehen. Ihre Unterhaltung ist beschwerlich und geht langsam von statten; denn der Pellwormer, der durch das große Ereignis dieser Fahrt aufgeregt ist, stottert energischer als sonst, und Peter Nahwer muß kräftig an seiner Pfeife saugen, denn es geht gegen den Wind. Denn obwohl er kalt raucht, hat er die Manieren eines Heißrauchenden beibehalten; er thut lange und kurze Züge, je nach seinem Gemütszustand, spitzt den Mund und schließt ein wenig die Augen, wenn er den Rauch ausstößt; er saugt kräftiger, wenn es gegen den Wind geht; ja es wird behauptet, daß er, allein in seiner Werkstatt, die Pfeife mit den Worten an den Nagel hängt: »Es kann auch zu viel werden.« Nach einigen vergeblichen Anläufen, zu erzählen, was er auf dem Herzen hat, holt der Pellwormer einen Brief aus der Tasche und hält ihn seinem Nachbar vor die Augen. Der versucht, ohne Brille zu lesen. Christian Möller hat einen kleinen lustigen Streit mit seiner Frau angefangen; diese geht mit ihrer hellen Stimme gegen ihn an; der Wagen klappert; aus dem Stroh kommen abgebrochene Töne, halbe Worte; zuweilen kann Peter Nahmer ein Wort lesen, zuweilen kann der Pellwormer ein Wort sagen. Es ist ein Brief von der Thielsche aus Kalifornien.

Der vierte und fünfte Wagen ist mit den Frauen aus dem Eschenwinkel und aus dem Dorf besetzt, deren Männer heute ihre Arbeit auf Flackelholm beenden. Der erste wird von Wilhelm Rohde gelenkt, neben dem seine Mutter sitzt. Franz Strandiger, bei dem er jetzt Großknecht ist, hat ihm das Fuhrmerk angeboten. Er hat ziemlich grimmig dazu ausgesehen: »Wenn du dir den Hopphei auf Flackelholm ansehen willst, kannst du einen von den großen Bauwagen nehmen. Füll' ihn voll von den Weibern, die mitfahren wollen, und nimm dich in acht, daß du dich zu den andern Wagen hältst.« Dann hatte er sich kurz umgedreht.

Sie reden von Franz Strandiger: »Ja, er ist doch anders geworden.«

»Es kann einem leid thun; ich glaube, daß er nie ganz gesund wird.«

»Sechs Stunden in dem kalten Märzwasser; das ist keine Kleinigkeit.«

»Er geht nächstens auf einen ganzen Monat nach Hamburg, um heiße Bäder zu nehmen, damit seine Füße wieder heil werden.«

»Ist er schon vors Seeamt geladen ... wegen der Strandung?«

»Nein . .. das ist ausgesetzt, bis er wieder gesund ist.«

»Na ... das ist ja nur Formsache. Das Wetter wurde stürmisch; da trieben sie gegen Flackelholm. Da ist nichts dabei zu machen.«

Also fuhren die fünf Wagen den weiten Weg durchs Watt. Die Sonne schien; die nasse Erde glitzerte weit und breit; große Mövenscharen suchten ihre Jagdgründe.

Als sie das grüne Land sahen und die lange, weiße Dünenreihe und davor im Winkel den runden Deich und die Flagge über dem roten Dach, da entstand eine starke Aufregung; und jenseits des Dieksander Gatts, das mit vielen Ausrufen durchfahren wurde, stiegen manche von den Wagen. Einige Frauen wagten es, Schuhe und Strümpfe abzulegen. So fuhren und gingen sie über den blanken Strand. Die Störfischer, die in der Ferne neben ihren Booten standen, winkten den Frauen und warfen Worte hinüber die aber zu früh, ehe sie ankamen, ins Wasser fielen. Es war nicht schade.

Die Männer von Flackholm kamen langsam den Deich hinunter den Wagen entgegen und begrüßten mit einer gewissen Würde die Neulinge. Besonders hatte Christofs Dwenger so etwas Ruhiges, Bestimmtes angenommen, daß seine Frau ihn am Arm faßte, beiseite zog und sagte: »Was hast du, Christoff? Du fragst gar nicht nach den Kindern?« Da erzählte er ihr alles, von seiner langen Nüchternheit und wie gut ihm das behagte und von seinem Entschluß. Sie hörte nachdenklich zu; dann sah sie zu ihm auf, mit einer heißen Freude im Gesicht, nahm seinen Arm und ging mit ihm zu den andern und trug den Kopf zum erstenmal nach langen Jahren wieder hoch.

Andrees hatte Ingeborg vom Wagen gehoben und war mit ihr nach dem Hause gegangen und in die Stube getreten; dort nahm er sie in seine Arme, herzte und küßte sie. Sie sagte kein Wort, während sie an ihm hing; aber nun that sie ihren Augen keinen Zwang mehr an.

Antje war nicht zu bewegen gewesen, ihren Platz hinter dem Kaffeetisch zu verlassen und die Wagen ankommen zu sehen; sie war zu sehr von der Wichtigkeit ihrer Aufgabe durchdrungen. Sie war von allen die Stolzeste und Glücklichste.

Nach dem Kaffee, zu dem es handfeste Butterbrote, kaltes Fleisch und Senfeier gab, machte man einen langen Gang den Strand entlang und über das Maifeld zurück. Andrees und Ingeborg gingen neben Vollmacht Möller; da wurde manch kluges Wort geredet, mancher wirtschaftliche Vorschlag beraten. Christian Möller ging neben Eva und erzählte, durch lebhafte Proteste seiner Frau unterbrochen, die Geschichte seiner Verlobung mit weiland Frauke Knee. Gleich hinter ihnen gingen Heim und Frauke, sich fröhlich unterhaltend.

»Wir passen zu einander!« sagte die lebhafte, junge Frau. »Christian, ich passe viel besser zu Herrn Heiderieter als zu dir!«

»Das ist kein Kompliment für Heim.«

»Du?! ... So ist er immer, Frau Heiderieter!«

Nach diesem weiten Gang steckte Reimer aus der Lehmdiele die Tonne Braunbier an und erzählte dabei, daß der Destillateur – ein feines Wort! – in der Stadt gesagt hätte, er hätte auf Flackelholm noch keinen Groschen verdient. Gegen die Guttempler hatte er schwer gespottet und geschimpft: mit jedem Trinker, hatte er gesagt, dem diese Kerle den Spiritus verleiden, habe ich hundert Mark Einnahme weniger. Da lachten die Hörer und freuten sich, und besonders die Frauen sahen fröhlich darein.

Als alle Gläser gefüllt waren, stieg Heim Heiderieter zu Antjes ratloser Verwunderung auf ihren Kaffeetisch, warf sich in die Brust und hielt folgende Richtrede:

»Meine Freunde! Liebe Festgenossen! Es ist ein alter, löblicher Brauch, ein neues Haus mit Kranz und Richtrede zu weihen. Der Kranz, den Christoff von Strandhafer gewunden hat« – Christoff Dwenger wurde rot vor Freude – »hängt an seiner Stelle; die Rede zu halten, wollt ihr mir gestatten.

»Auf der Stelle, meine Freunde, auf der wir stehen, ist in alter, grauer Zeit festes Land gewesen, von Menschen bewohnt, es ist in Nacht und Graus untergegangen; die wilden Wellen haben die Felder, die Häuser und die Menschen begraben ... So ist einst auch die Freiheit unseres Volles in Nacht und Graus untergegangen. Die Deiche, die unsere Väter bei Bornhoved und Hemmingstedt und auf mancher anderen Wahlstatt mit ihren Leibern aufgerichtet, haben nicht mehr halten wollen. Die dänische Flut brach herein, immer tiefer ins Land, immer furchtbarer, bis bei Idstedt alles verloren ging.

»Es kam eine traurige Zeit. Wir waren ein Volk ohne Recht, ohne Ehre, ein geschändetes Volk. Die Peitsche war über dir, Schleswig-Holstein. Ohne Grenzen, ganz maßlos war unser Jammer; denn wir hatten siebenhundert Jahre gekämpft und widerstanden. Einem Volk, das Freiheit gewohnt war, banden sie beide Hände; einem Mövenpaar, das über die weiten Watten flog, schnitten sie die Flügel ab. Wir knirschten in unserm Grimm, wir hoben unsere gebundenen Hände schreiend hinüber zur Mutter Germania.

»Und wie wir so hinübersahen, da war gerade die Zeit gekommen, daß sie, die lange geträumt hatte, die strahlenden Augen aufhob und das Elend ihrer Kinder sah und ihre Kinder zum Kampfe rief. In jenen Jahren stieg aus dem Meer diese Insel Flackelholm. Sie wurde größer, unsere Hoffnung auch. Es bildete sich ein grünes Maifeld; zu einem grünen Maifeld wurde auch unsere Hoffnung.

»Es ist nicht ohne Opfer gegangen: Düppel ... Verneville. Antje, du weißt es.« Antjes Augen flammten jäh auf. »Das Maifeld auf Flackelholm hat auch Menschenleben gekostet. Heute vor dreißig Jahren blieb Friedrich Strandiger im wilden Watt.

»Meine Freunde! Es wurde eine Weile öde im Vaterland. Wir zankten uns wie zusammengebrachte Kinder, die man in eine Stube gesperrt hat; viele lagen auf der Schwelle des stattlichen Hauses, unthätig und sonnten sich. Auf Flackelholm verschlammten die Gräben, wehte der unfruchtbare Dünensand über das grüne Land, jahrelang . .. Aber da rafften mir uns auf, es wurde uns zu eng im Haus, wir rissen die Thür auf, wir traten auf die Schwelle und sahen in die Welt, die gerade verteilt wurde. Da erinnerte sich Andrees Strandiger dieser Insel und wurde ein Kolonist, und zog mit seinen Leuten aus, und nahm Besitz von dieser jüngsten Insel des deutschen Vaterlandes.

»Meine Freunde! Wir hoffen, daß, wie hier gearbeitet wird, mutig und thatkräftig, daß so gearbeitet werde auf der ganzen Linie von Flackelholm bis hinauf nach Sylt und Rom. Wir wollen das Meer zwingen, das grausam wütende Meer, das unsere Väter begraben hat. Und dazu sage ich nun: der höchste Deichgraf im Schloß zu Berlin und seine Beamten, die an Deichen, Vorlanden, Watten und Halligen ihre Pflicht thun, und jeder Wattarbeitet, der, den Pallas in der Hand, im Schlick steht, und die, welche hier wohnen werden in diesem festen Haus ... die sollen leben ... hoch ... hoch . ..«

Es war ein mächtig Rufen, dröhnend, aus den Männerkehlen.

Nachdem wieder Ruhe eingetreten war, sagte er noch kurz dieses, den Schelm im Gesicht:

»Liebe Festgenossen! Meine Frau, welche den Namen Eva mit Recht führt, hat zu mir gesagt: ›Wenn ihr auf Flackelholm Richtfest feiert, müßt ihr die Frauen einladen; ein Fest ohne Frauen ist Blume ohne Duft.‹ Also haben wir die Frauen dazu geladen und haben es nicht bereut. Wir haben wieder einmal erkannt, daß Frau und Mann zusammen erst einen ganzen Menschen geben, und wir bedauern einige unserer ältesten Freunde, daß sie halb geblieben, und einige unserer Jungen, daß sie noch halb sind« – Peter Nahwer ließ vor Schreck die Pfeife ausgehen –. »Wir haben aber zwei unter uns, zwei Hälften, die zu einander passen und sich nächstens vereinigen wollen: Andrees Strandiger und Schön Ingeborg, seine Braut: sie leben ... hoch . .. hoch.«

Hell und klar klangen die Stimmen der Frauen.

Nachher – es war um vier Uhr – wurden auf Verlangen einiger Frauen die Bänke, und Tische aus der Diele getragen, und es wurde getanzt. Es war ein schweres Tanzen; denn die Männer hatten ihre hohen, starken Kleistiefel an; von wuchtigen Tritten dröhnte dumpf die Lehmdiele. Peter Nahwer und der sangeskundige Pellwormer, denen das Braunbier zu Kopf gestiegen war, sangen alte Tanzweisen: »Goos op de Deel« und andere. Als Heim hereinkam, um zum Aufbruch zu mahnen, stand Antje Witt mit ängstlichen Augen vor ihren Gänsen, welche in einer Ecke der Diele hinter einem leichten Verschlag saßen, mit ausgebreiteter Schürze sie schützend; und der Pellwormer holte ein Stück getrockneten Schlick aus seinem Halskragen, das von einem tanzenden Kleistiefel da hineingeflogen war.

Mit sinkender Flut fuhren die fünf Wagen ab und kamen wohlbehalten, bevor der Abend dunkelte, ans feste Land.

 

Vierzehn Tage später, an einem stillen Junitag – Franz Strandiger befand sich noch in Hamburg – wurde auf Strandigerhof Hochzeit gefeiert. Die Blinde saß in ihrem Lehnstuhl dicht neben den beiden, die vor dem Altar standen. Gebückt, mit vorgebeugtem Kopf, und einem friedlichen Ausdruck in dem schmalen Gesicht, hörte sie auf die schlichten Worte des jungen Pastors. Ingeborg lag nachher, als die Gäste das Zimmer verlassen hatten, auf den Knieen vor ihrem Stuhl und verbarg das blonde Haupt im Schoß der alten Frau.

Bei Tisch gab es eine lebhafte, doch gedämpfte Unterhaltung. Haller sprach mit Frau Strandiger von der Vergangenheit; mit zitternder Hand suchte sie die seine und hielt sie fest; er hatte alles mit ihr durchgemacht. Andrees stand auf und dankte in drei kurzen Sätzen für alle Freundlichkeit und Treue, die ihm in der Heimat widerfahren war. Heim hatte die Absicht, über die drei Getreuen ein Wort zu sagen, hielt es aber doch für bedenklich und fing an, Anna Haller zu necken, die neben dem Pastor saß, und machte es. natürlich zu schlimm. Es gab ein Blickewerfen und Wispern rund um den Tisch; zuletzt warf Anna Haller einen thränenschweren Blick auf Heim und lief in Mutter Strandigers Wohnstube, von wo der Pastor sie wieder herbeiholte, nachdem Ingeborg sie getröstet hatte.

Mit der Nachmittagspost kam außer mehreren Glückwunschschreiben ein Brief von Franz Strandiger, in welchem er schrieb, daß er sich wegen seines Fußleidens gezwungen sähe, die Pacht des Strandigerhofs zum Herbst zu kündigen. Ferner teilte er mit, daß er das Vermögen seines Onkels, das übrigens nur noch dreißigtausend Mark betrüge, seiner Schwester ganz allein überlassen werde. Als Andrees das Schreiben seiner Frau in die Hand gegeben hatte, lag da ein amtlicher Brief vor ihm mit dem Siegel der Staatsanwaltschaft. Andrees Strandiger wurde von der Strafkammer aufgefordert, in der Strandung der Lustjacht »Felix«, bei welcher Felix Hoboooken ertrunken war, als Zeuge zu dienen. Es liege begründeter Verdacht vor, daß sich der Begleiter des Hobooten, Franz Strandiger, der Fahrlässigkeit schuldig gemacht habe.

Heim kam, als Andrees ihm winkte, und sah nachdenklich in das Schreiben: »Er ist zu stolz gewesen, sich herauszureden,« sagte er. »Er hätte es leicht gekonnt; aber Lügen ist nicht seine Weise.«

Sie beschlossen, einstweilen von der Sache zu schweigen. »Ich will ihm schreiben,« sagte Andrees, »daß er mitteilt, wie es mit dieser Anklage steht, und was er sonst für Pläne hat.«

Am Nachmittag um drei Uhr nahmen Andrees und Ingeborg von ihrer Mutter Abschied. Andrees konnte ihr nun sagen, daß sie beide zum Herbst, vielleicht schon früher, zu ihr zurückkehren würden.

Als an diesem Abend, nach glücklicher Überfahrt von dem Stülperpriel aus, die Neuvermählten bei einander auf dem Deiche standen und die sinkende Sonne lange, goldene Stege über das Meer zu ihnen herüberlegte, da war es ihnen, als ständen sie beide allein vor den offenen Augen Gottes. Ihr Mund schloß sich, ihre Augen wurden still, sie dachten an die Vergangenheit.

»Du bist ein anderer geworden, Andrees,« sagte Ingeborg und legte ihren Kopf an seine Schulter.

»Ich habe viel Trauriges erlebt.«

Nach einer Weile sagte er: »Das hat mich zu einem anderen Menschen gemacht.«

»Du bist ruhiger und zugleich fröhlicher.«

»Ja ... Ich hatte früher eine gewisse griesgrämige Lust, das Leben zu genießen, wie man so sagt. Ein öder Genuß! Jetzt habe ich den Mut, etwas zu schaffen; das ist ein Unterschied, Ingeborg.«

Sie lehnte sich fester gegen ihn: »Komm,« sagte sie nach einer Weile, »es wird kühl.«

Sie gingen den schrägen Deichweg hinunter. Antje Witt kam ihnen entgegen, um nach den Schafen zu sehen, die auf dem grünen Land grasten.

Als die beiden von der Diele aus in das erste Zimmer traten, das einfach und heimelig eingerichtet war – die Thür zum zweiten Zimmer stand offen –, warf Ingeborg sich an seine Brust, hingerissen von ihrer heißen Liebe.

 

Im Herbst kam Franz nach Strandigerhof zurück – nachdem er einige Monate Gefängnis verbüßt hatte –, um die Pachtung an Heim abzugeben. Der Hof war in diesem Sommer von dem alten Hans Stüben, der viele Jahre unter Frau Strandiger die Aufsicht geführt hatte, in alter Weise verwaltet morden.

Heim ging sofort nach dem Hofe.

Franz Strandiger sah leidlich wohl aus, nur ging er schwerfällig, als hätte er Eisen an den Füßen.

»Guten Tag, Franz!« sagte Heim. »Meine Frau läßt dich grüßen.«

»Ich weiß nicht,« sagte Franz ärgerlich, »wie du zu einer so gescheiten Frau gekommen bist. Ich glaubte sicher, daß du mit deiner Heirat einen dummen Streich machen würdest.«

»Danke!« sagte Heim fröhlich. »Ich werde es meiner Frau bestellen. Nun, du siehst gut aus. Ich freue mich, daß du so weit hergestellt bist.«

Franz lachte bitter auf. »Wieder hergestellt? Wenn ich zwei Stunden gemächlich gegangen bin, habe ich geschwollene Füße.«

»Na ... es wird allmählich alles in Ordnung kommen, Leib und Seele.«

»Sieht verdammt wenig danach aus! Ich weiß nicht, wohin mit dem Leib, noch wohin mit der Seele. Ihr habt das ja so leicht, habt ein Erbe auf Erden und eins im Himmel.«

»Gut gesagt!« rief Heim. »Das hast du gut gesagt, mein Junge. Eben wegen des Erbes auf Erden bin ich hier; das Erbe im Himmel bleibt deine persönliche Angelegenheit. Ich soll dich im Auftrag von Andrees fragen, was du für Pläne hast.«

»Pläne?«

»Nun ja!«

Da setzte sich Franz schwerfällig nieder und konnte seine Mutlosigkeit nicht verbergen, so sehr er sich zusammennahm. »Ich habe keine Pläne.«

»Sage mir, willst du durchaus fort von hier?«

»Kann ich hier bleiben? Soll ich Verwalter werden? Bei dir oder bei Andrees? ... Es ist wahr, ich bin nicht mehr so stark wie früher. Wenn einem das Wasser so vier Stunden lang bis an die Kehle geht ... aber das kann ich doch nicht.«

Heim schüttelte den Kopf. »Du bist erregt,« sagte er. »Höre zu! Sieh mal! Wir alle drei, wir Getreuen, waren in der Fremde und hatten die Heimat vergessen; aber unser Weg führte uns alle wieder hierher zurück. Als wir nun hier waren, da ging es Andrees und mir so: wir gewannen die Heimat lieb; im Sturm nahm sie unsere Herzen. Nun sind wir Arbeiter an ihr geworden; ich grabe ihre alten Geschichten aus und thu' ihrer Heide Gewalt an, Andrees hat schon über ein Jahr lang auf Flackelholm gearbeitet und Großes fertig gebracht. Nun frage ich dich, den dritten von den Getreuen: gehst du wieder aus der Heimat in die Fremde?«

Da stand Strandiger auf und ging ans Fenster und sah hinaus. Der Westwind rauschte in den Ulmen.

»Ich möchte wohl hier bleiben,« fügte er endlich. »Ich habe hier einige Fußspuren kegen, die tief eingetreten sind, und zweimal habe ich mit dem Meer meine Not gehabt.«

Heim stand auf und trat rasch zu ihm: »Andrees läßt dir fagen, ob du auf Flackelholm wohnen und die Insel für ihn verwalten willst.«

Franz wandte sich nicht um und schwieg eine Weile: »Ein netter Gedanke,« sagte er dann grimmig. »In die Verbannung! Nach Flackelholm mit dem gefährlichen Kerl!«

»Na ja,« brummte Heim. .. »Die Wege hier im alten Land sind etwas zu schmal für dich, und die Menschen, die darauf gehen, verlangen mehr Rücksicht als du nehmen magst. Du müßtest ein großes, weitläufiges Gut haben; aber du hast es nicht. Oder du mühtest nach Westafrika auswandern; aber das kannst du nicht wegen deiner Füße. Was bleibt also noch? Flackelholm! Da sind keine Wege, keine Menschen! Du wirst ein Leben führen, wie es dir gefällt. Wenn es dir paßt, wirst du einen Hammel schlachten und mit deinen Hausgenossen fröhlich sein, und wiederum, wenn es dir paßt, wirst du auf den Deich gehen und nach den Ulmen des Strandigerhofs sehen, und wiederum, wenn es dir paßt, wirst du deinen Freund Heim Heiderieter besuchen.«

»Das werde ich bleiben lassen.«

»Ich sage ja auch: wenn es dir paßt.«

Er ging eine Weile hin und her. »Er soll mir nicht immer darein reden,« sagte er dann mühsam. »Ich will ihm nicht Rechenschaft geben über jeden Spatenstich!«

»Nein ... Er wird dir freie Hand lassen. Du hast vorläufig auf zehn Jahre nach gewissen Plänen die Wattarbeiten auszuführen. Für diese Aufsicht gehören dir die sämtlichen Erträge der Insel. Pferde und Boot stellt er dir zur Verfügung. Ich bitte dich, trinke heute nachmittag bei uns Kaffee und lies den Kontrakt, den Andrees aufgestellt hat. Du wirst zufrieden sein mit dem Posten, auf den er dich stellen will.«

»Die verdammten Kontrakte!«

»Na ... ich freue mich, daß du nicht abgeneigt bist. Wenn ich dir die Wahrheit sagen darf: du bist froh, daß dies Anerbieten kommt. Du und Flackelholm, ihr gehört zusammen. Rauh bist du; rauh ist deine Braut! Du wirst dich auf Flackelholm begraben lassen.«

»Oder irgendwo in seinen Watten oder Wellen.«

»Wie Gott will! Du kommst also?«

»Ich komme, um bei deiner Frau Kaffee zu trinken.«

»Ich hoffe,« sagte Heim, »daß die drei Getreuen nicht allein ihrem Namen Ehre machen, sondern daß sie auch noch wieder gute Freunde werden.«

Acht Tage später fuhr Franz Strandiger von Büsen nach Flackelholm. Auf der Höhe vor Blauort begegneten sich die beiden Boote. Es flogen ein paar spärliche Worte hin und her; aber man verstand sich nicht.


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