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Acht Tage später, an einem trüben Oktoberabend, saß Hinnerk Elsen mit Anna Witt am Tisch. Sie waren mit dem Essen fertig; die Wirtschafterin war schon vom Tisch aufgestanden. Als Hinnerk Elsen sich gemütlich die Abendpfeife anzündete, fiel ihm ein, was sein alter Freund Heim Heiderieter ihm abends am Wehl gesagt hatte. Es fiel ihm aber jetzt ein, weil Anna Witt den ganzen Tag so still gewesen war. Sonst hörte man ihre Stimme im ganzen Haus.
»Fehlt dir was?«
»Was sollte mir fehlen? Und was geht's dich an?«
»Dein Vater hat mir gesagt ...«
»Ach ... du bist langweilig.«
»Was meinst du damit?« sagte Hinnerk Elsen und nahm erstaunt die Pfeife aus dem Mund.
»Mein Vater hat gesagt, du sollst auf mich passen? Dann thu' es doch!«
»Thu' ich ja auch!«
Sie sah vor sich hin: »So?« sagte sie. »Ich glaube, ich werde dir doch noch gestohlen.« Nun sah sie lachend auf, aber im Grunde ihrer Augen lag Unruh' und Angst.
»Es ist abends so langweilig!« sagte sie, indem ihre flinken Finger mit dem Tischtuch spielten. »Die Wirtschafterin kriecht schon halb neun ins Bett; du gehst genau Uhr neun. Dann bin ich noch nicht müde. Du solltest dann noch eine Weile bei mir bleiben.«
Sie sah ihn an, und da war wieder Angst in ihren Augen. Aber Hinnerk Elsen sah es nicht. Er schrob an seiner Pfeife, die undicht war. Welch eine Unordentlichkeit, eine undichte Pfeife! Hinnerk Elsen hatte ein ruhiges, beschauliches Wesen, er war zu bequem, in andere Leute hineinzusehen und zu eingebildet, um zu glauben, daß ihm etwas entginge. Er war ein so großartiger Mensch, daß er sich leisten konnte, mit geschlossenen Augen durch die Welt zu gehen. Wer kann Hinnerk Elsen täuschen?
Da bat Anna Witt noch einmal um ihre Seele.
Sie rückte ihm näher, lehnte sich zurück und sagte: »Ich bin noch so jung.«
»Du bist im Juli siebenzehn gewesen.«
»Ja, aber du meinst, ich bin noch ein Kind, wie Bertha. Das bin ich nicht.«
»Nein!« sagte er und wurde ein klein wenig warm: »Du bist kein Kind mehr; das seh' ich dir an. Aber du bist noch nicht verständig genug. Wenn du verständig geworden bist und ich habe volle zweitausend in der Sparkasse, dann ...« und er nickte ihr zu, indem er ein wenig mit den Augen blinzelte.
Sie lehnte sich gegen ihn und sagte: »Ich bin schon stark genug. Ich verdiene fünfzig Thaler. Wenn du mich lieb hast, kannst du es gern zeigen. Es ist schon manchmal was dazwischen gekommen und großes Unglück geschehen. Wenn ich dir nun wegliefe? Und du hättest nicht auf mich gepaßt?«
Da stand Hinnerk Elsen würdevoll auf und sagte: »Deern! Was hast du für Grappen im Kopf. Ich will schon aufpassen, und dein Vater und deine Mutter sind auch da.«
Sie stand da, zornig und erregt: »Ja, wenn ich ein Fräulein wäre! Die bleiben im Haus und sitzen in guter Hut. Dann sollte mir auch nichts widerfahren! Aber Mutter ist krank, und Vater arbeitet auf dem Feld, und ich bin im fremden Haus, und du?« – sie stieß mit den Händen nach ihm und sah ihn wild an – »du bist so alt und so vertrocknet wie der Pellwormer! Du bist so hart und ausgetrocknet wie Sohlenleder!«
Der Gescholtene ging schmunzelnd davon.
Also bat Anna Witt zweimal um ihre Seele. Aber Hinnerk Elsen verstand ihre Bitte nicht. Er hatte seine bestimmte Ansicht über alles und war kein Beobachter. Er war zu steif, um sich zu den andern kleinen Menschen herunter zu bücken und ihnen ins Gesicht zu sehen, ob da wohl Sorge oder Angst darin wäre. Andere Menschen hat Anna Witt nicht gefragt, soviel bekannt ist.
An demselben Abend ging Andrees den Richtsteig über die Heide nach dem Dorf zu. Es war nebliges, feuchtes Wetter, ein Wetter zum Traurigsein und Träumen. Da, wie er so an seinen Gedanken riß, damit er sie von der Heimat und der alten Liebe loslöste, kam ihm vom Dorfe her Maria entgegen. Ihre hohe Frauengestalt wuchs rasch wie eine Erscheinung aus der dämmernden Luft.
»Du siehst müde aus, Maria! Wo kommst du her?«
»Vom Amtsvorsteher. Ich habe um Hilfe für Witts gebeten.«
»Hast du wieder gewacht?«
»Laß alte Frauen das thun,« sagte er ärgerlich, »an denen nichts zu verderben ist!«
»Du verstehst es nicht, Andrees, daß einem das Herz brennt, zu helfen.«
Er schüttelte den stolzen Kopf: »Nein, ich verstehe das nicht. Ich versteh' dich nicht.«
»Ich weiß es, Andrees ... Willst du wirklich von uns fort, und Franz Strandiger soll hier Herr sein?«
»Kann ich bei euch bleiben, wo mich keiner versteht?«
»Du verstehst dich nicht, Andrees! Du nicht! Wenn du fortgehst ... wird einst die Zeit kommen, wo du dich hierher sehnst, wo du froh wärst, könntest du die Heide sehen und die Nordsee und ein plattdeutsches Wort hören. Das Herz wird dir zerreißen vor Sehnsucht, und es wird kalt und leer in dir werden, und wenn es möglich sein wird, wirst du wieder hierherkommen, wenn auch nur, um hier zu sterben. Ich kenne dich von Jugend auf, ich weiß, daß du in innerster Seele an deiner Heimat hängst, und daß sie an deiner Seele reißt, seit du wieder hier bist. Ich habe aus allen deinen Briefen herausgelesen, daß du in dem Leben in der Fremde keine Zufriedenheit gefunden hast, und ich habe dich gestern gesehen, wie du von unten aus dem Garten kamst, und die Sonne schien, und du übersahst dein schönes, altes Haus und die Ställe und hörtest die Tiere im Stall und sahst so unruhig und so unglücklich auf alles hin, was dein ist.«
Sie sah mit erregtem Ausdruck ihres blassen Gesichts über die Heide: »Ich bin es nicht, der dich bittet. Ich habe mich ganz in mich zurückgezogen und habe keine Wünsche außer mir. Deine Heimat spricht zu dir. Die Erde und dieses Land klagen dich an.« Sie zeigte nach dem Wald hinüber, der im trüben Wetter still, wie zuhörend stand. »Von dort her sind deine Väter gekommen, und im langen Kampf, der fast über Menschenkraft ging, sind sie Herren über das Meer geworden. Auf dem Leib des Besiegten bauten sie den Strandigerhof. Das ist nun das fünfte oder sechste Geschlecht, das da haust, und nun willst du das alles verlassen, verpachten, verkaufen um elendes Geld? Und deine Kinder und Nachkommen sollen heimatlos sein durch dich?«
»Bin ich denn ein Knecht? Thut nicht jeder, der es kann, was er will?«
»Nein, wir thun nicht, was uns beliebt. Dein Vater saß nicht hinterm Ofen; er ging ins Watt hinaus, um dem Meer neues Land abzugewinnen für sich und seine Kinder. Reimer Witt ging in den Krieg und fragte nicht; er sagte sich, es müsse so sein, wegen des Landes; er steht jetzt vom Morgen bis Abend in schwerer, fast aussichtsloser Arbeit. Antje Witt läuft meilenweit ins böse Watt, bei grauendem Morgen, um für die Kinder, die nicht die ihren sind, Speise zu holen. Wir haben alle unsere Arbeit. Es treibt uns der Zwang der Pflicht. Unserm Gewissen gehorchen wir, weil es mit harter, scharfer Stimme uns aufruft. Wir meinen, wir müssen, wenn wir auch nicht mögen, und wir wissen: da liegt unser Friede. Wir arbeiten alle, das ganze Dorf, nur die Alten nicht, die nicht mehr können, die am Wege sitzen und auf den Herrn warten, nur du nicht und die, welche du hierher brachtest. Und das ... das verachten wir!«
»Und Heim Heiderieter, dein ... euer aller Freund?«
»Laß ihn! Nimm ihn aus! Er ist noch im Werden. Sag nicht, daß er faul ist. Er trägt schwere, ernste Gedanken, und sein Leben ist nicht leicht. Die Heimat wird ihm helfen, daß er ein ganzer Mann wird.«
»Wird ihm geholfen, warum mir nicht?«
»Wenn du nicht willst? Wenn du das Gute und Traute und Alte zurückstößt, von dir weist, damit es dich nicht stört? Ist es so? Oder sage ich Unwahres? Wenn du hier bliebst, würdest du hier träge sein können, ein Genießer? Würde dich nicht die Heimat und dein Land, die Freunde und die Häuser im Eschenwinkel, das Watt und Flackelholm, würde dich nicht alles antreiben, zu arbeiten, Gutes zu wirken, Neues zu schaffen? Aber da, in der Fremde, da, fern von der Not der Heimat, da darfst du träge sein und genießen, von der Arbeit der Heimat dich nähren.«
Sie suchte seine Augen. Aber er sah still vor sich hin.
Da wandte sie sich ab und ging weg, und er mußte ihr nachsehen, bis sie die Heide hinabstieg und der Nebel sie wegnahm.
Über die Heide ging er weiter dem Dorf zu, äußerlich gleichmütig, in seinem Gang sicher und stolz, aber der Grund seiner Seele wallte und brauste: »Ich will es thun! Was soll ich thun?«
Er machte sich nicht klar, wohin er jetzt gehen wollte, und doch wußte er genau, was das Ziel sein würde. Vor ihm stiegen die ersten Häuser des Dorfes auf, lange, mächtige Dächer, von Reth oder Stroh, auf niedrigen, roten Mauern. Das Abenddunkel war da, nirgends ein Licht, nirgends ein Geräusch, nirgends ein Mensch. Es schien alles tot zu sein, oben am Himmel und bei den Menschen. Aus den Ställen kam hier und da das Klirren einer Kette. Da wurde ihm fast unheimlich zu Mut.
Die Pforte zum Kirchhof öffnete sich mit leisem Knarren, der Sandstein auf des Vaters Grab stand als ein steinerner, grader Mann und schaute stumm auf ihn, wie gleichgültig. Seine Hand strich gedankenlos, und doch war's eine Liebkosung, durch die Epheublätter an der Kirchenmauer. Da, zwischen dem Glockenturm und der Kirche, stand der, zu dem er auf dem Weg war, dessen Wort seine Seele hören wollte, so sehr sie es auch fürchtete.
Frisius, der gebückt und nicht ohne Beschwerde den Steig heraufkam – er war damals schon sehr schwach –, richtete sich überrascht auf: »Andrees, mein Junge? Du warst noch gar nicht bei mir! Wolltest du zu mir?«
»Nicht eigentlich, Onkel... und doch ...«
»Oder zum Grab deines Vaters?«
»Ich habe hinübergesehen!« sagte Andrees. »Ich wollte dir sagen, Onkel, ehe du es von andern erfährst, daß ich mit dem Plan umgehe, meinen Besitz zu verpachten.«
Pastor Frisius sah von unten auf Andrees – er war viel kleiner als Andrees Strandiger. »Ich hab's gehört, von Heim. Erkläre mir das! Übernimmst du ein Amt, eine Arbeit in der Stadt?«
»Das nicht! Aber ... ich habe zu viel von der Welt, vom Leben kennen gelernt.«
»Und diese Erkenntnis hindert dich, der Väter Erde zu bebauen, deine Pflicht zu thun? Dann mach' ein Grab für diese Erkenntnis, Andrees; aber nicht in dieser guten Erde, sondern irgendwo, da man solche Sachen hinthut.«
»Es ist sonderbar, wie ihr alle kein Verständnis habt.«
»Nein, es ist sonderbar, daß du für uns kein Verständnis hast ... du willst an Franz Strandiger verpachten?«
»Ja! Ich dachte so; er ist mein Verwandter und ein tüchtiger Landwirt.«
»Sie mögen ihn hier nicht leiden, von Kind an nicht. Er hat so etwas Hartes, und Hochmütiges und achtet den kleinen Mann nicht. Sie sagen, er hat kein Herz. Ihr beiden, Ihr habt kein Herz!«
»Du bist hart. Du als Pastor!«
»Kennst du noch die Geschichte, Andrees, von dem, der auch fort wollte und fortging und zog fern über Land? Weißt du, warum er fortging? Ich will's dir sagen: weil es ihm zu still und zu arbeitsam und zu reinlich herging in Vaters Haus.«
»Onkel! ... Aber du bist hinter der Zeit zurückgeblieben.«
Frisius nickte mit dem grauen Kopf und sah über all die Steine, die da lagen und standen, und nach Nordosten über die niedrigen Weiden, über denen der weißliche Abendnebel lag, der sich ins Unendliche dehnte. »Das sagen sie. Ich will nicht lange streiten; es ist kein Gegenstand des Streitens. Siehst du, der Nebel hängt heut abend Schleier über alle Dinge. Über diese Dinge hangen sie immer. Trotzdem können wir es nicht lassen, da hinein zu sehen, zu starren, einen Weg zu suchen. Nur die Nachtmützen, des lieben Gottes Schafherden, ziehen stumpfsinnig, blökend durch den Nebel hin und her, ziel- und zwecklos, und fragen nicht. Aber wir andern fragen: du, ich, viele rund um uns her, auch Antje Witt und Reimer und Reimers Frau, die das Abendmahl begehrt hat, der das Atmen so schwer wird. Wir ziehen alle durch den Nebel und fragen: Wo sind wir? Wohin ziehen wir? Und wir ruhen nicht eher, bis wir's zu wissen glauben.«
»Die Wissenschaft weiß es. Die Philosophie.«
»Die Philosophie? Respekt vor ihr! Sie sieht mit den Augen des Geistes hinein in den Nebel. Wie weit? Sag' mir ein einzig Resultat, das feststeht, sag' mir einen einzigen Weg, der bis zum Licht führt! Ich weiß vom Fluch der Philosophie ein traurig Lied zu singen: von ihrem Segen, auf diesem Feld, weiß ich wenig. Sie hat ihre meisten Kinder stolz und hart und einsam gemacht. Sie ist keine Mutter, sie hat ein Gesicht von Stein.«
»Und die Naturwissenschaft?« Er blieb stehen, und in seinen tiefliegenden Augen glühte eine heiße, helle Begeisterung. »Ich war vor zwei Jahren in Berlin – es war das erste und das letzte Mal; denn ich lebe nicht mehr lange. Da habe ich die ›Urania‹ besucht. Fünf Stunden bin ich dort gewesen, an jedem Apparat habe ich gestanden, ein freundlicher Führer hat mir alles erklärt – und ich,« seine Stimme brach fast vor Erregung, »ich habe mich königlich gefreut, Andrees. Sie sehen mit scharfen Augen, mit scharfen Gläsern hinein in den Nebel, und sie sehen weit, weit. Viele Welten sehen sie, nicht alle. Vielleicht von je tausend eine. Sie kennen den Stoff, aus dem sie gebaut sind, und kennen die Ordres, nach denen sie reisen. Sie haben seine Werke tüchtig studiert und sind wie Holzwürmer durch den Schemel seiner Füße gekrochen. Manches von seiner Werkstatt kennen sie. Aber kennen sie ihn damit selbst? Sie sagen selbst, daß sie ihn nicht kennen. Du hast ja in ihre Bücher gesehen. Hast du die Rufe gehört durch den Nebel? Wir gehen irre. Wieder gehen wir irre! Wir werden den Weg niemals finden.«
»Aber nun sage ich dir das: den Nebel über den Auwiesen, Andrees, den kann eins durchleuchten. Nur eins. Ich sah es in diesem Sommer, eines Abends, da kam von der andern Seite – von der andern Seite, Andrees! – mit aufsteigendem Gewitter ein helles Wetterleuchten, ein Blitzen und hob eine Weile den Vorhang, zwei-, dreimal, das dritte Mal ganz hell. Deutlich sah ich die Au und den weißen Weg zur Stadt. Wir selbst, Andrees, von hier aus, können den Weg nicht finden; es ist zu dunkel. Aber der große Geheimnisvolle sandte von der andern Seite das Leuchten, zwei-, dreimal, da sahen wir deutlich den Weg.«
Er hustete schwach und mühsam.
Andrees Strandiger schüttelte den Kopf. Es stand ein bitterer Zug des Wehs um seinen Mund. »Ihr seid Phantasten, Onkel. Du und Maria und Antje Witt ...«
»Das ist richtig, nenne uns drei nur zusammen! Wir gehören zusammen. Wir schämen uns unserer Schwester nicht. Da stehen wir. Und nun halte du deine ruhmlosen und berühmten Namen gegen uns. Nun steht Glaube gegen Glaube. Denn auch das., was ihr über diese Dinge sagt, ist Glaube, ganz wie unserer, und kein Wissen. Und nun frage ich dich, Andrees, was meinst du, welche sind glücklicher, treuer und stiller, die hinter dem Kreuz her durch den Nebel gehen, oder die hinter dem Cirkel hergehen? Welche haben blankere Augen? Das sag' mir!«
Andrees antwortete nicht. Er stand eine Weile still vor dem andern. »Laß mich gehen!« sagte er dann – »ein andermal...«
»Möge das andere Mal kommen, Andrees!«
Und Andrees ging durch das stille Dorf zurück, zwischen den Bauernhäusern durch, aus denen nun hier und da aus niedern Fenstern trauter Lichtschein mit hellen Augen in die dunkle Nacht schaute. Dann senkte sich der Boden, und der Weg wurde sandiger. Links lag der Heidehof und rechts die Schule, und nun trat Reimer Witts Haus aus dem Dunkel.
Mitten auf dem Kreuzweg stand der kleine Fritz Witt und sagte: »Vater ist nach der Apotheke und Mutter hustet.«
Strandiger richtete sich aus seinen Gedanken auf. »Was soll ich?«
»Vater hat zu Mutter gesagt: Wir haben keinen einzigen Groschen im Haus. Hast du Groschen?«
»Willst du betteln?«
»Ich? Ich bin kein Betteljunge! Aber du gehst ja hier vorbei! Und Mutter sagt: Anna hat noch fünfzehn Mark zu gute. Komm man mal mit!«
Strandiger wurde über das ganze schöne, stolze Gesicht heiß und rot und ging mit.
Er fühlte sich so ungemütlich. Die Diele war so niedrig; die Kartoffeln waren in der Ecke aufgeschüttet; die Luft der Stube war drückend warm, und Rieke Witt sah so weiß und mager aus und hatte so große fiebrige Augen. Was war aus dem frischen Mädchen geworden, das einst auf dem Strandigerhof diente!
»Der Kleine sagt, Sie haben noch fünfzehn Mark vom Lohn ihrer Tochter zu fordern?«
Sie hätte ihn so gern Andrees und du angeredet, da sie ihn doch von Kind an kannte und es doch so Landesbrauch ist, aber weil er so vornehm und fremd that, auch gar nicht nach ihrem Befinden fragte – sie hatte sich so sehr darauf gefreut, daß er sie besuchen würde und »Rieke« sagen und freundlich sein würde, dann wollte sie mit ihm über die Kinder reden, auch besonders über Anna – aber nun ward ihr eng und kalt ums Herz, und die Worte hockten fröstelnd auf der Zunge.
Da wurde die Thür aufgemacht, und mit tiefgebückten Schultern, weil er sonst seinen krausen Kopf stieß, kam Heim Heiderieter in die Stube. Er hatte die Flinte in der Hand, trug über der grauen Wolljacke eine mächtige Jagdtasche, und seine hohen Stiefel waren mit nassem Sand und Lehm überschmiert. Er nickte Andrees flüchtig zu, und während er auf das Bett zuging, sagte er schon in seiner natürlichen, treuherzigen Weise: »Na, mein' Deern, was treibst du?«
Da veränderte sich mit einem Male das ganze blasse, vergrämte Gesicht, und etwas wie Jugendschimmer flog darüber hin, fast ein wenig Ziererei, und sie sah ihm lächelnd in die funkelnden, freundlichen Augen: »Danke, Heim, wenn du da bist ...«
»Und Maria und Ingeborg, was? Und Haller, was? Wir haben freilich meist nicht viel mehr als vergnügte Gesichter...«
»Ihr habt mehr!«
»Ja, diesmal!« Er nestelte an seiner Jagdtasche. »Einen Junghasen, du! Ich wollte dir ihn zeigen; die Telsche soll ihn morgen für dich zurecht machen.«
Er setzte sich gemütlich auf den Bettrand und legte die langen Beine übereinander. Er sah so recht herzensfroh aus. Seit er in der Heimat war, unter den alten Bekannten, war ein Gefühl der Sicherheit über ihn gekommen, er hatte sich einen ruhigen, breiten Gang angewohnt und hatte zuweilen den Mut, Telsche Spieker zu widerstehen und mit Andrees zu streiten.
»Eigentlich sind hier zwei Hasen in die Stube gekommen. Als ich eben von der Heide herunterstieg, sah ich Ingeborg unten auf dem Weg. Ich glaube, sie wollte zu Telsche Spieker. Die wird ihr natürlich den Kopf heiß reden. Ich habe nämlich kein reines Gewissen, habe heute wenig genug gethan. Da lief ich mitsamt meinem Kollegen, dem andern Hasen, in dieses Haus. Wenn sie kommt, kriech' ich unters Bett.«
»Du bist zu groß. Fritz thut es manchmal. Sein Ball läuft zuweilen unters Bett.«
Andrees erhob sich.
»Bleib' noch eine Weile,« sagte Heim, »laß uns noch schwatzen.«
Und er machte einen Versuch, sich auf dem Bettrand gemütlich einzurichten: »Du, Ingeborg sagt, du willst deinen ganzen Kram verpachten? An Franz Strandiger? Dann haben wir hier drei Hasen in der Stube.«
»Meinst du?«
»So nach dem Grundsatz: Was du ererbt von deinen Vätern hast, verkauf es, um es zu genießen!«
»Feg' du vor deiner eigenen Thür, Heim!«
»Danke, Andrees! Ganz richtig bemerkt! Das hat er mir gut gegeben, was, Rieke?« Und er zwinkerte lustig mit den Augen.
Sie nickte lächelnd.
»Aber es ist da ein Unterschied, Andrees!« sagte er. »Siehst du: Heim hat sechs Kühe, sechs Schweine, fünf Kälber, acht Stück Jungvieh, vier Pferde und zweiundzwanzig Hektar Land, dazu die Heide, dazu eine Flinte, eine Feder und Telsche Spieler. Du aber, Andrees Strandiger, bist Herr über viel Land und bestellter Helfer vieler Menschen.«
»Wer hat mich bestellt?«
»Unser Herrgott! sagt Ingeborg Landt. Das sagt sie, wenn sie vor meiner Thür fegt.«
Die Hausthür wurde rasch geöffnet, und ein leichter, weicher Schritt kam über die Diele.
»Da kommt sie! Rieke, steh' mir bei! Wahrhaftig, da ist sie!«
Sie nahm das bunte Kopftuch ab, das mit Wasserperlen dicht besetzt war: »Geh'weg, Heim!« sagte sie. »Ich kann vor deinen langen Beinen nicht ans Bett kommen.«
Er stand gehorsam auf und lehnte sich gegen die Wand, und sie setzte sich auf den Stuhl am Bett und streichelte die Hand der Kranken.
»Er redet dich rein krank, Rieke, du solltest ihn wegschicken.«
»Laß ihn, Ingeborg! Er redet mich fast gesund. Du weißt es.«
Ingeborg wandte den Kopf und sah zu ihm auf und vermied es, Andrees anzusehen: »Ich weiß nicht, was die Leute an dir finden.«
Er machte ein verwundertes Gesicht: »Ich auch nicht!« sagte er, und nun mußte sie ihr Gesicht in finstere Falten ziehen, um nicht zu lachen.
»Liebes Kind!« sagte er. »Du setztest mir neulich deine Weltanschauung auseinander. Du hast sie ja wohl von Pastor Frisius; du meintest, es wäre ganz gut, wenn mir, Andrees und ich, sie zuweilen hörten.«
Sie lehnte sich in den Stuhl zurück, und während ihre Hand die Hand der Kranken streichelte, und ihre Augen auf die Kranke gerichtet waren, stieg langsam eine lebhafte Röte über ihr Gesicht. »Nun!« sagte sie mit steifer Kopfhaltung. »Wenn ihr's wissen wollt: es kann euch wirklich nicht schaden. Grade euch nicht! Es ist eine ganz einfache Sache. Woher ich sie habe, weiß ich nicht! Pastor Frisius hat jedenfalls die Idee dazu gegeben. Also! Der liebe Gutt verteilte die Erde wie einen Garten und gab jedem ein Stück! Heim Heiderieter bekam ein sehr großes Stück, den Heidehof, mit allem, was daran hängt, und außerdem hier!« Sie deutete auf ihre Stirn. »Andrees Strandiger bekam ein sehr großes Stück.« Sie machte mit ihrem langen Arm einen Bogen. »So bekamen alle Menschen ihr Teil, ein kleines oder großes. Nun that er mit seiner Hand so! Und sagte: Bebaut es!«
»Das ist nicht von Frisius, das ist von dir. Solche Handbewegung macht Frisius nicht.«
»Still! Nun kann einer sein Stück Land bebauen. Er kann es auch lassen. Wenn einer es thut, hat er Brot und ein gutes Gewissen. Wenn er es nicht thut, wächst Unkraut und Heide. Und das ist die erste Strafe: sie müssen hungern, hier!« – sie deutete aufs Herz. »Nicht wahr, Rieke? Aber auch nachher, wenn sie von der Erde weggehen, müssen sie darunter leiden, daß sie ihren Garten nicht in Ordnung hielten. Wenn aber ein ganzes Volk seinen Garten verwildern läßt, weil's träge und schlafmützig ist, oder wenn sie sich drängen oder stoßen und die Grenzen verschieben, bis die Stücke der Kleinen, die unter ihnen wohnen, ganz klein sind, oder bis sie gar am Grabenrand an der Straße sitzen: und es steht niemand im Volk auf, kein Mächtiger, auch kein Kluger, und streitet für die Kleinen und ermuntert die Trägen, daß sie wieder mutig arbeiten, dann wird der große Herr des Gartens erbittert, und er schickt Starke über sie, oder er stößt sie mit den Köpfen zusammen und giebt ihren Garten andern Leuten,« sie schlug leicht mit der Hand auf den Bettrand, – »wie in der Weltgeschichte auf vielen Blattern zu lesen.«
Heim hatte den Kopf gesenkt und still zugehört. Nun hob er eilig Kopf und Hand: »Sehr gut! Nun mach' die Schlußanwendung auf den da!«
»Auf dich! Du!«
»Ach, das thatst du schon oft.«
»Ja, Andrees?« Sie sah immer auf die Kranke, und ihr schmales Gesicht wurde wieder rot: »Andrees? Andrees soll für seinen Garten sorgen!«
»Ja, Kind, das will er ja auch! Er will sich einen Hausgärtner halten, und er selbst will mit der langen Pfeife und im wehenden Schlafrock ...«
Da sprang sie auf, mit stammenden Augen: »Das ist nicht möglich! Das ist verächtlich.«
Die Kranke hustete. »Bleiben Sie bei uns!« sagte sie. »Es ist so vieler Menschen Glück von Ihnen abhängig.«
Heim stand groß aufgerichtet neben Ingeborg: »Wenn Franz Strandiger hier Herr wird, verwüstet er den ganzen Garten.«
Da kehrte sich Andrees ab und ging hinaus.
Also wurde dreimal um Andrees Strandigers Seele geworben, und dreimal hielt er still und hörte zu. Aber seine Seele wurde noch zweimal wieder umstrickt.
Als Andrees nach Hause kam, schien es, daß sie schon alle zur Ruhe gegangen waren. Es war ganz still in dem weiten, alten Hause. Nicht von ungefähr, es trieb ihn ein Trotz und eine geheime Hoffnung, öffnete er die Thür zum Wohnzimmer. Da lag Lena Strandiger in dem Sessel, der rechts vom Tisch am Fenster stand; und sonst war niemand da ...
Er stand vor ihr, und sie sahen sich an. Sie rührte sich nicht.
»Was siehst du mich an? Daß ich dich lieb habe, weißt du.«
»Nein!« sagte er zitternd, »Ich weiß es immer noch nicht.«
»Du Bär! Ich mag dich gern, eben weil du ein Bär bist. Die Herren, die ich kannte, ach wie viele, die sind so glatt, so gewandt, so geleckt, so weich ... ich mag sie alle nicht.«
Er rührte sich nicht, und sie lachte leise vor sich hin, wie im Traum; dann sah sie zu ihm auf, weich, lächelnd und bittend: »Ich muß an eine Stunde denken, die war ähnlich wie diese. Ich war bei einem Hauptmann zum Abendessen geladen. Das ganze Haus war voll von jungen, schmucken Menschen, und sie waren zuvorkommend gegen mich. Ich erinnere, daß ein junger Kaufmann mir mehr sagte, als er verantworten konnte, und ich glaube, daß ich ein wenig warm wurde, obgleich ich mir sagte, daß in der ganzen Gesellschaft der Rechte nicht vorhanden wäre. Aber nachher, wie ich fortging – ich hatte viel getanzt – und durch ein stilles Vorzimmer kam, stand da ein Füsilier – du weißt, von den Maikäfern – ein Gefreiter, ein starker, frischer Junge, so wie du, Andrees, mit losem, blondem Schnurrbart. Der sah mich so frei an, und ich sah, daß er nicht bange war, und daß er Gefallen an mir hatte, und ich – ich war nicht satt geworden von all der läppischen Speise –, er sprach plattdeutsch, war wohl aus deiner Gegend, ein Landmannssohn, ich weiß nicht.«
Sie schmiegte sich fester in die Polster.
»Wenn einer mir gefällt, so recht von Herzen, so im Herzen, hier, wo ich die Hand hinlege, dann, dann bin' ich sein, dann hat er hier eine warme, gute Stelle.«
»Ich wollte,« sagte er heiser, »du wärst mir nie über den Weg gekommen.«
»So faßte er mich damals an, so hart und fest.«
»Sei still! Ich will es dir sagen. Es muß doch zu Ende kommen. Sieh mich nicht so an. Sieh weg! Ich will es dir sagen: Ich bin herrisch und wild, ich will an mich reißen, was mir gefällt, und frage nicht, ob die Menschen um mich her weinen oder lachen. Und diese Seite von mir will zu dir, denn du bist auch so ... Weib du! Aber im Grunde meines Herzens da ist ganz etwas anders.«
»Sag' es nicht! Ich will's nicht wissen.«
»Das ist darin von meinem Vater her. Das ist warm und weich und will aus den Augen blitzen und mit den Menschen, unter denen ich wohne, lachen und weinen, hat die Heimat lieb und will nicht vom Haus und Grab des Vaters fort in die Fremde. Und seit ich das Haus wiedersah und das Meer, den Eschenwinkel und das Grab, die Kirche und ...«
»Ich will den Namen nicht hören!«
»Maria Landt!« schrie er und schleuderte ihre Hand fort. »Du bist hart; aber sie ist gut und weich, und doch ... doch kann ich nicht von dir lassen.«
»Laß doch meine Hand los! Ich schiebe sie weg, so leicht! Der Maikäfer, der ahnte, was an mir war. Der hatte Feuer wie ich. Den mußte ich von mir stoßen. Ein Stück von der Spitze am Ärmel blieb in seiner Hand, so fest hielt er, so riß ich mich los. Aber dich, Andrees Strandiger, deine Hände schieb' ich beiseite. Was sollen deine Hände auf meinem Schoß?«
»Die Hände laß liegen!«
»Du solltest mich loslassen und morgen zur Bahn bringen, morgen früh! Ich bin gefährlich. Vielleicht fange ich doch noch deine Seele, die arme.«
»Wenn du anders werden könntest, wenn du eine weiche Stelle hättest, ein Herz ...«
»Vielleicht! Hier nicht! Aber in Berlin. Wenn ich bei dir wäre, immer bei dir, ganz nahe, daß ich warm und weich würde!«
»Sag' es mir deutlich ...«
»Sagen? Ich will es dir zeigen! Komm' mit, Andrees! Nach Berlin!« Sie war aufgesprungen und hatte sich wild gegen ihn gepreßt, und gleich stieß sie ihn von sich.