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Der März war da. Der Westwind stürzte sich vom Meer her über den Winter im Land und fing an, sich als den Stärkeren zu fühlen. Er fuhr als ein Gewaltiger durch die Ulmen des Strandigerhofs, daß die vorjährigen Krähennester auseinander flogen. Er schlug mit seiner nassen Faust gegen den Eulengiebel des Heidehofs, daß die kleinen Fenster aus dem Blei flogen und das neugeborene Knäblein im Arm der Mutter aufschrie. Er fuhr über die Heide gegen die Birken, die vor dem Wald Wache standen, und schrie ihnen zu: »Hebt die Köpfe! Seht ihr den Bootsrumpf im Meer und die treibenden Männer? Meine Arbeit!«
In dieser Zeit war Ingeborg jeden Tag vier bis fünf Stunden im Heidehof. Damit Ausgaben erspart würden, hatte sie es übernommen, die Nachmittagsarbeiten zu verrichten. Mit heißen Wangen ging sie dann durch den sinkenden Abend quer über die Heide nach dem Strandigerhof zurück. Wenn sie aus der Küchenthür heraustrat, faßte der Sturm sie und riß an ihrem Haar und ihren Kleidern, aber sie freute sich des brausenden, tollen Gesellen.
Er war ja der Frühlingsbote; von Flackelholm kam er und brachte Grüße an die Braut. Frühlingsgrüße!
Aber am vierten Abend, als sie über die dämmernde Heide ging, kam plötzlich Franz Strandiger auf sie zu. Sie ging langsamer, als sie ihn sah; aber sie hob sich ein wenig, fest und doch weich schreitend. Aber da, als er nicht auswich, sondern dicht vor ihr stand, da sah sie wieder den Blick, mit dem er sie einst gedemütigt und geängstigt hatte; sie trat einen Schritt zurück und schrie leise auf.
»Sie brauchen sich nicht zu fürchten,« sagte er.
Da wich sie zur Seite zurück, vom Steig in die Heide tretend, und sagte, allen Stolzes bar, während ihre Glieder zitterten: »Ich bin die Braut von Andrees und will nie von ihm lassen! Lassen Sie mich gehen.«
Er hatte die Hand noch nach ihr ausgestreckt; aber sein Gesicht war scharf und totenblaß geworden, und in seinen Augen war das Leben, das eben darin brannte, gelöscht.
Sie wande sich um, nachdem sie auf ihn gesehen hatte, ging zitternd nach dem Heidehof zurück, und weinte sich neben dem Bett Evas aus.
Am andern Tage, als der Sturm sich gelegt hatte – aber die See ging noch sehr hoch –, ward die neue Jacht des alten Hobooken von Finkenwerder her, wo sie gebaut war, in die Stülper Hafenpriele gebracht, die vom Strandigerhof in fünfzehn Minuten zu erreichen ist; ein schlankes, gutes Boot. Fünf Tage lang war darauf das Wetter hell, die Luft hoch; ein frischer Südwest wehte, und fünfmal fuhren Hobooken und Franz Strandiger mit dem alten Schiffer Tüxen, der bei Stülp am Deich das kleine Wirtshaus hat, in die Watten hinaus. Das Boot bewährte sich aufs beste. Der alte Sportsmann war voll Stolz und Freude und hörte, das Steuerrad in der Hand, mit einem eitlen Lächeln auf das Lob, das Tüxen dem Boot und dem Führer spendete. Und Tüxen sparte das Lob nicht. Der Schlaue, der aussah, als werde es ihm schwer, bis drei zu zählen, rechnete so: »Je mehr ich lobe, desto mehr Flaschen werden nachher getrunken, wenn wir wieder in der warmen Stube hinterm Deich sitzen.«
Franz Strandiger saß meist in sich gekehrt am Rand der Luke. Wenn sie hinausfuhren, suchten seine finstern Augen Flackelholm, dessen Düne weißglänzend in der wogenden Wasserflut stand; wenn sie hineinfuhren, sah er nach den obern Fenstern des Strandigerhofs, die wie helle, blanke Augen über den Deich nach Flackelholm sahen. Zuweilen, wenn er unbeachtet war, sah er auf den schwatzenden, immer lächelnden Mann am Steuer, und seine Mienen waren voll kalter Verachtung. Der alte Schiffer, der wohl solche Blicke auffing, deutete sie auf seine Weise; er nickte Franz Strandiger zu, indem er die kleinen Augen noch mehr einkniff, und trug das Lob noch greller auf und suchte wieder Strandigers Augen, um Anerkennung zu finden, und der Herr vom Strandigerhof konnte seinen Ekel nicht verbergen und wandte sich ab. Der am Steuer saß und lächelte.
In der folgenden Nacht hob sich wieder der Wind, und es kam Botschaft von Tüxen, das Boot hätte in der Nacht arg gegen das Bollwerk geschlagen und müsse stärker vertaut werden. Da gingen die beiden mittags gegen zwölf Uhr, als Ebbe war, vom Strandigerhof fort. Als sie die Höhe des Deichs erstiegen hatten und Umschau hielten, sahen sie im Vorland einen Wagen, der nach dem Watt zu gen Westen bog. Auf dem Brettsitz saßen zwei Gestalten nebeneinander, ein Mann und eine Frau. Man konnte sie aber nicht erkennen. »Hast du dein Fernrohr bei dir, Onkel?«
Der holte aus einer seiner vielen Taschen erst einen Krimstecher, dann ein Fernrohr und gab es ihm. Es lag wie in Eisenklammern in seinen Händen, und gleich hatte er das Gefährt im Glas. Ruhig drückte er es zusammen, gab es dem andern wieder und ging weiter und sagte nichts. Aber inwendig gab es ein heißes Reden: »Ganz deutlich sah ich sie: Ingeborg und Witt. Und sie wandte ihr Gesicht zu ihm. Das süße, feine Gesicht.«
»Sie hat es nicht lassen können; Sorge und Angst um ihn treibt sie hinüber.«
Er wandte sich noch einmal um und sah nach dem Wagen hinüber mit unbeweglichem, harten Gesicht und düstern, vergrämten Augen.
Als sie die niedrige Wirtsstube betraten, hatte Tüxen schon eine Flasche Wein in der Hand und erzählte, indem er die Flasche mit seinen großen Händen reinigte, daß er die Vertauung besorgt hätte, daß die Herren aber wohl nicht segeln würden, da er leider verhindert wäre, mitzufahren. Dann holte er drei Gläser und fing an zu erzählen, wie fein sich das Boot gestern gemacht hätte.
Man trank die Flasche aus und, da man doch nicht fahren wollte, gab es eine zweite, und Tüxen sorgte für neuen Stoff und erzählte von einer Strandung, die er in seiner Jugend auf Flackelholm erlebt hatte. »Wir konnten nicht abkommen,« sagte er. »Als wenn die Hexe von Flackelholm Stricke nach uns ausgeworfen hätte und uns heranschleppte! Wir trieben und trieben und jagten endlich dem blanken Hans direkt zwischen die weißen Zähne. Mein Vater hatte sich einen angetrunken; das war der Grund!«
Dann schilderte der alte Hobooken, mit hoher Stimme und mit Armen und Beinen hampelnd, eine tolle Fahrt von Heringsdorf in die Ostsee hinein.
Es wurde scharf getrunken. Franz Strandiger saß schon lange stumm da, die Zähne zusammengebissen. Der Alte fing an zu prahlen; er übertrieb; er log. Die Unterhaltung widerte Franz unsäglich an.
»Wissen Sie,« sagte Hobooken zu dem Schiffer: »wenn mein lieber Neffe etwas mehr Mut gegenüber dem Wasser besäße, dann wäre ich heute nachmittag allein mit ihm gefahren; aber das Wasser hat leider keine Balken.«
Der Wind fuhr durch die Durchfahrt, die neben dem Hause stand, und legte sich im Vorbeifahren scharf gegen die Fenster.
Nach einer Weile sagte er mit zwinkernden Augen: »Wenn ich nicht hier etwas hätte...« er machte mit Daumen und Zeigefinger die Bewegung des Geldzählens... »dann würde mein lieber Neffe noch schweigsamer und noch unhöflicher sein.«
»Wenn du meinst,« sagte Strandiger. »Ich fahre mit dir allein hinaus.« Und er stand auf und sagte noch einmal: » Gerne fahre ich mit!«
Eine halbe Stunde später – die Uhr war gegen drei – hatten sie die Priele verlassen, die Watten traten zurück, und sie kreuzten bei starkem stoßenden Wind nach Blauort zu; mächtige Spritzer jagten über Bord. Der alte Hobooken stand am Rad, Strandiger bediente nach seiner Anweisung die Segel.
Sie hatten alle gedrängt, daß Ingeborg nach Flackelholm hinüberginge. Heim hatte mit einem Lächeln gesagt: »Du mußt ihm doch erzählen, wie gemütlich es sich im Ehestand lebt.«
Eva sagte: »Du mußt ihm erzählen, daß hier ein Junge geboren ist, und daß dieser Junge seiner Mutter sehr ähnlich ist.«
Telsche hatte gesagt: »Wenn du nach Flackelholm gehst, Ingeborg, dann sag' zu Witt: ›Wenn es durchaus sein müßte‹... na, du weißt ja. Ich habe mein schwarzes Kleid in Ordnung gemacht, und die Kinder sind leidlich in Kleidung, bloß Bertha muß ein Paar Schuhe haben.«
Telsche nannte ihn in diesen Wochen immer kurz Witt, nicht Reimer Witt.
Aber dies alles hätte Ingeborg nicht überreden können, hinüber zu fahren; aber es war nach jenen stürmischen Tagen keine Nachricht gekommen. Die alte Mutter Strandiger hatte in der nebligen Dämmerung mit geneigtem Kopf stundenlang am Fenster gestanden und bange nach dem Rauschen gehört, das durch die Ulmen ging, und nach den harten Stößen, die gegen die Fenster drückten. Ingeborg, die Augen nach Flackelholm gewendet, hatte neben ihr gestanden. Als am fünften Tag die Luft klarer wurde – es war gegen neun Uhr –, da tastete die alte Frau nach Ingeborgs Hand.
»Ingeborg... wenn du... ich habe ja nur den einen, und ich fürchte das Meer, ich habe ja Ursache dazu... wenn du oder ein anderer versuchen wollte, mit Fuhrwerk nach Flackelholm zu kommen...«
Aber am selben Abend kam Reimer Witt, von Telsche Spieker Antwort zu holen und über Flackelholm zu berichten. Er brachte guten Bescheid: die Flut war nur eben über das Malfeld gelaufen. Die weite Fläche der Düne hatte sicher und fest, mit wehendem Haar, im Gischt der Wogen gestanden. Er nahm auch guten Bescheid mit: in vier Wochen sollte die Trauung sein. Telsche Spieker wollte selbst zum Pastor gehen und beim Standesamt das Aufgebot bestellen.
Aber Ingeborg mußte doch nach Flackelholm. »Ich möchte wissen,« sagte die alte Frau, »wie es ihm geht. Er ist so einsam gewesen. Er ist gerade wie sein Vater, treu und gewissenhaft. Wenn du Mut genug hast, Ingeborg, solltest du mit Reimer hinüberfahren.«
Sie hatten eine mühsame Überfahrt. Der Wind wurde wieder stärker, und das Wasser kam rascher und stieg höher als sonst; es rauschte und quoll. Wenn die Pferde die Hufe hoben, waren die Spuren sofort voll Wasser. Da trieb Reimer Witt zur Eile. Im Galopp jagten sie über den weiten hohen Rücken, auf dem die Kreuzbake steht. Das Dieksander Gatt war schon voll von treibendem, drängendem Wasser; es wand sich in seinem Lager und dehnte sich und warf spritzende Wellen gegen das Ufer; dennoch gingen die Pferde mutig hinein. Das Wasser lief übers Wagenbrett, so daß Ingeborg die Kniee hochziehen mußte. Reimer sah besorgt auf sie und nickte ihr zu.
»Ich fürchte mich nicht,« sagte sie; »mir wird ein wenig schwindelig.«
»Das kommt vom fließenden Wasser.«
Als sie eine Stunde später bei der Blockhütte ankamen, trat Antje ihnen entgegen, in den Augen die Unruhe, die sie immer hatte, wenn das Wetter stürmisch war. »Um sechs ist Hochflut,« sagte sie. »Es giebt noch Sturm.« Sie war barfüßig; der Wind jagte und riß an ihren Kleidern. Ihr Haar war nicht so sorgfältig geordnet wie sonst, und in ihren Bewegungen war Aufregung.
»Wo ist Andrees?«
»Er ist heute mittag mit Klaus nach Büsen gefahren; sie holen die erste Ladung Steine. Weißt du, Ingeborg, daß hier ein Haus gebaut werden soll? Dort soll es stehen, und ich darf immer hier bleiben.« Sie lachte und schüttelte den Kopf und lachte wieder: »Vielleicht,« sagte sie, »finde ich Heinrich doch noch.«
Reimer schüttelte leise den Kopf: »Wann wollten sie wiederkommen?«
»Wenn es möglich ist, heute abend noch. Dann haben sie dort an der Ecke einen schweren Stand; der Sturm und die Flut treiben gegen die Brandung.«
Ingeborg ging in die Hütte, legte die Tücher ab, in die sie gehüllt war, und trat gleich darauf wieder an den Wagen: »Ich will an den Strand gehen,« sagte sie, »und Ausschau halten, ob ich sein Segel sehen kann.«
Oben auf der Düne stehend, sah sie nach Büsen hinüber und suchte nach dieser Richtung, von Blauort bis nach Helmsand hin, den Horizont ab, und fand mit ihren ungeübten Augen nichts und dachte nicht daran, nach Südosten zu sehen, wo Andrees' Boot bereits im Schutz der Insel mühsam, aber sicher gegen den Wind kreuzte.
Es war eine dumpfe, bedrückte Luft; schwere, dunkelgraue Wolken zogen vor dem Sturm her über den Himmel in die Richtung nach der Stülper Hafenpriele.
Sie stieg die Düne hinunter. Vor ihr breitete sich der Strand aus, grau und fest, weit sich in die Breite dehnend, ein Exerzierfeld für eine ganze Armee. Ganz eben ist er, und nichts hält das Auge auf, als nur hier und da vom Meer ausgespieenes Wrackholz, mächtige Balken, Tonnen, Kisten, ein Seehund – oder ist es ein Mensch? – und dahinter das Boot, das seine Rippen nach oben streckt. Gleich dahinter rollt eine Seetonne, die der Sturm irgendwo losgerissen hatte, in Wasser und Sand. Alle diese Gegenstände, diese Trümmer des Meeres, nah und fern liegend, auf dem Sand oder halb schon drin vergraben, erscheinen größer, stärker als sie sind; schwer, massig, wie von Riesen hingeworfen, liegen sie da.
Und hinter dieser weiten Ebene, mehr als eine Meile lang, fletscht die Nordsee ihren furchtbaren Mund, weißen Schaum zwischen den aufgerissenen Zähnen. Manneshoch über den Strand auffliegend, springend, brüllend steht da wie eine weiße, wogende Mauer die Brandung.
Von neuem von dem Bilde geängstigt, von der Macht Gottes überwältigt, steht Ingeborg still.
Sie sah über das Wasser; da war kein Segel zu sehen, nichts als das blauschwarze Tuch der Wogen, auf- und niederwallend.
Sinnend ging sie weiter, langsam und mühsam gegen den Wind drängend; nach einer halben Stunde stand sie vor dem stürmenden, sich hochaufbäumenden Gischt. Müde setzte sie sich auf den Kiel des verunglückten Bootes, unweit der gestrandeten Seetonne. Der Sturm der letzten Tage hatte ein starkes Tau, das am Maststumpf befestigt war, aus dem Sand gewühlt. Die Wellen spielten damit, und Ingeborg schaute ihnen sinnend zu. Dann erhob sie sich, um wieder nach dem Segel zu sehen.
Und da ... sieht sie dicht vor sich ... Segel zum Brechen stramm, einen hohen Bootsbug, jagend, springend über den Wellen heranbrausend, wie von Geisterhänden vorwärts geworfen, bald unten, daß man das ganze Verdeck sieht, bald wie eine aufgeschreckte Möve aus dem Wasser aufspringend.
»Andrees!« schrie sie auf, und kaum wissend, was sie that, und warum sie es that, hatte sie das nasse Tau in der Hand und ging in das Wasser und versuchte, das Tau zusammen zu ziehen und zum Wurf bereit zu machen ... da ... seitwärs von ihr jagt es heran ... es kracht dumpf und schwer und stößt auf den Sand, drei-, viermal, und übertönt die Brandung. Planken splittern, zerrissenes Segeltuch schlägt knatternd gegen Holz und Wasser; die Gestalt eines Mannes steht im Gischt und Dunst über ihr, an einem Tau sich haltend. Sie streckt die Hände nach ihm aus; aber da kommt weißes, wirbelndes Wasser und steigt an ihr in die Höhe, umschließt sie, und spielt mit ihrem Haar ... kurze Angst vor etwas Großem, Unbekanntem ... die Sinne schwinden ... im Traum liegt sie auf dem Maiseld von Flackelholm im Schutz der Düne unter Blumen, und Andrees Strandiger beugt sich über sie und redet von seiner heißen Liebe und küßt sie; aber Franz Strandiger steht dabei und streckt die Hand nach ihr aus und ängstigt sie.
Die Wellen kümmern sich nicht um ihren Traum. Sie greifen mit tausend Händen und unter wildem Brüllen nach ihrem zuckenden Leib. Aber der Mann, der seinen Arm um diesen Leib gelegt hat, hält sie mit übermenschlicher Kraft, ob ihm auch der Atem stockt und das Tau ihm das Blut aus der Hand preßt.
Dicht vor ihnen reißen die wilden Gestalten des Meeres, tosend und stampfend, ein kleines Menschenwerk auseinander und werfen sich die abgerissenen, zersplitterten Stücke gegenseitig in die glotzenden Augen und brüllen.
Sie hatten lange stumm im Boot gesessen, Franz Strandiger vorne gegen den Mast gelehnt, die Füße gegen die Reeling gestemmt, die Hände in den Taschen, die kurze Pfeife zwischen den Zähnen, ein Bild der Gleichgültigkeit. Nur zuweilen warf er einen Blick zu Hobooken hinüber, der mit zusammengerütteltem Gesicht hinterm Rad stand. Die Arme erlahmten und schmerzten ihn; aber er war zu eitel, es zu gestehen oder von Umkehr zu reden.
Östlich von Flackelholm fuhr ein schlankes Boot quer über den Dieksand. Es mußte wenig Tiefgang haben und ein sogenanntes Schwert im Kiel, das gehoben werden konnte, wenn man über Untiefen fuhr. Es wurde von einem Mann geführt, der das Wattenmeer kannte. Mit wenig Segeln steuerte es nach Flackelholm zu.
»Das ist sein Boot! Wer segelt sonst nach Flackelholm?«
Der Wind fuhr in sausenden Stößen über das unruhige Meer. In den Wellenthälern lag schon die Dämmerung, auf den Höhen schien es wie ein graues, mattes Licht; Seevögel flogen mit heiserem Ruf an ihnen vorüber. Der Neuwerker Leuchtturm sandte sein erstes Licht über das graue Wasser; die kleinen Häuser von Büsen waren am Horizont verschwunden.
Der alte Mann hielt mit zitternden Händen das Rad: »Wenn er doch ein Wort von Umkehr sagte!« dachte er. »Nach Stülp können wir nicht mehr heim. Wir müssen den Weg nach Büsen suchen; denn der Abend sinkt herab.«
»Wir müssen ,ree´- machen!« schrie er. Standiger erhob sich gemächlich und griff nach dem Schotenblock. Als er aber merkte, daß das Boot nicht gehorchte, sondern sich auf die Seite warf und rasch hintereinander schwer aufschlug, wandte er sich um; da war das Gesicht Hobookens ganz grau und verzerrt: »Ich weiß nicht,« sagte er mühsam ... »die Kette hat sich festgearbeitet ... ich kann das Rad nicht drehen.«
Da kam Strandiger langsam über Deck nach achtern, nahm das Rad und sagte lässig: »Geh' du nach vorn!«
Da ging der Alte mit stolpernden Beinen nach vorn und hielt sich am Mast, die zwinkernden, thränenden Augen auf den Steuermann gerichtet.
Und endlich konnte er dies ruhige, stolze Gesicht nicht mehr ertragen. Der am Rad, der so gerade dastand, dessen Augen so stolz über das Wasser flogen, der hatte seine Furcht und sein Alter gesehen.
»Ich will den Aufenthalt hier abkürzen ... Ich ... ich hab's satt bekommen ... Ich muß dir überhaupt sagen ... du hättest den großen Besitz nicht antreten sollen, da du doch kein Vermögen hast. Aber du hast auf meins spekuliert.«
»Schriebst du mir nicht, du würdest mir aushelfen? Hast du mir nicht von Kind auf versprochen, du wolltest mir einst helfen?«
»Habe ich es gesagt?«
»Ich frage dich.«
»Ach was . .. kurz, ich gebe dir nichts. Ich brauche mein Geld selbst.«
Beide schwiegen. Die Wellen schlugen schwer gegen das Boot. Vor ihnen lief es als ein weißer Strich quer übers Wasser, eine Untiefe anzeigend. Ein hoher Spritzer flog über Bord und schlug gegen den Mann am Mast, daß er sich festhalten mußte; das Wasser rieselte an ihm herunter.
»Steuere richtig!« schrie er hinüber.
»Nee!« schrie Strandiger. »Sonst sitzen wir auf Blausand.« Der Alte that es, langsam und ungeschickt, mit steifen Händen und Knieen; das Boot schlug schwer hin und her. Der Wind griff hart in das lose Tuch und schlug es knatternd gegen die Taue und den Mast. Wie ein Pferd auf die Hinterbeine sinkt, so warf sich das Boot nach achtern.
Da lag Flackelholm.
Das Boot bog sich und jagte vor dem Wind mit gepreßten Segeln in die Richtung nach der Hütte, die schwarz auf weißer Düne stand. Die Dämmerung lag auf dem Wasser, nur die Düne war noch hell.
»Also du giebst mir kein Geld?«
»Nein.«
»Gar nichts?«
»Nein.«
»Ja ... weißt du, dann ...«
Er sah nach der Hütte hinüber. An der Fahnenstange war die Flagge aufgezogen: »Ihr zu Ehren!« Eine Gestalt kam die Düne herunter und ging nach dem Strand zu.
»Wie viel Vermögen hast du noch?«
»Was geht's dich an? ... Du steuerst unvernünftig, halte doch mehr Backbord! Der Wind wird stärker! ... Wir kommen zu nah' an Flackelholm.«
»Da geht jemand über den Strand. Ich will sehen, wer es ist.«
Der Wind warf sich hart in die Segel; eine weißgekrönte, mächtige Welle zerbrach am Heck und warf ihr Wasser über das Verdeck. Eine andere kam, hob sich hoch, bäumte sich und glotzte mit gierigen Augen über die Reeling.
»Franz! ... Es geht nicht gut! ... Flackelholm ist nahe!«
»Was meinst du, wenn ich dir heute heimzahlte, was du in zwanzig Jahren an mir verbrochen hast?«
»Franz!« schrie er auf.
Der stand ruhig, mit hartem Gesicht, am Rad und sah auf ihn. »Erinnerst du dich noch der geifernden Worte, die du an dem Tage zu mir sagtest, als ich konfirmiert wurde? Weißt du noch, was für Bücher du dem Sechzehnjährigen wie absichtslos ... du Schurke! – auf den Tisch zwischen seine Schulbücher legtest, und wie du den Siebzehnjährigen in die wüsten Ballsäle führtest?«
»Franz! Halt ab!« Seine Augen waren weit geöffnet, sein Mund hing schlaff herunter; es war mit einem Male ein altes, kraftloses Greisengesicht.
»Weißt du, was sie erzählen? Sie sagen: der Strand von Flackelholm ist hart wie Stein. Das Boot schlägt auf und wird zusammengeschmettert, als wenn man eine leere Cigarrenkiste mit der Faust zusammenschlägt ...«
»Du bist irr! ... Herr Gott ... wär' ich an Land!«
»Das möchtest du ... was? Du stolzer, feiner Kerl! Mit all deinem Mut! ... Die Bootsrippen brechen wie Streichhölzer; ob deine Rippen halten werden? Aber du bist ja ein junger, fixer Kerl ... du grauer Affe!«
»Du sollst alles haben.«
»Ha ... so dumm! Das hast du oft genug gesagt. Aber du hieltest nicht Wort. Du sagtest: ›Werde Landmann! Ich lege mein ganzes Vermögen in deinen Besitz.‹ Und nun wolltest du keine viertausend Mark hergeben, und ich mußte zum Wucherer gehen. Siehst du, darum fahre ich nun mit dir bei Flackelholm auf den Strand ... Kannst du den weißen Rand sehen? Da springen die Wellen. – Wir wollen es rasch ausmachen, wer dein Geld haben soll. Wir knobeln darum: du oder ich oder der Teufel. Drei Mann. In zehn Minuten ist es ausgemacht.«
»Franz! Lieber Franz ... laß mich doch leben. Ich bin ein alter Mann und habe nur noch ein paar Jahre...«
»So bettelst du! ... Hast du schon einmal an den Tod gedacht, wie wird dir dann? Was hast du im Leben gethan? Was ein Schwein thut! Gefressen hast du und im Dreck gewühlt. Nebenbei ein Geck! Das hört alles auf; das wird ganz anders! Wer weiß es! Für nichts und wieder nichts hat man doch nicht das Gewissen! Die Zähne sind zum Beißen und die Fäuste zum Schlagen und die Beine zum Gehen und das Gewissen zum Wegweiser. Du kannst nicht auf den Händen gehen, und du kannst nicht den Teufel zum Wegweiser machen.«
»Jammer! Jammer!«
»Da haben wir's. Du kannst auch keine Pacht bezahlen.«
Da warf sich der Alte an der Reeling nieder und versuchte, mit seinen erstarrten Händen den Schotenblock zu lösen.
Der Wind flog heulend übers Wasser.
Franz Strandiger sah nach der Gestalt hinüber, die dort unweit der Brandung ging. Der weiße Streifen da vorn wurde deutlicher, weißer; es wurde Zeit, umzukehren.
»Angst hast du gehabt! Gekrochen hast du vor mir, du Feigling.«
Der alte Mann hörte es nicht; der Wind heulte so laut. Er lag neben der Rolle, zerrend, reißend; mit den Zähnen biß er in das harte Tau.
Da verschwand die Gestalt am Strand hinter der Brandung. Strandiger sprang auf. Mit jähem Satz war er bei der Rolle und stieß mit dem Fuß nach dem Liegenden; aber der verstand nicht. Die Angst verwirrte ihm die Sinne. Er schrie laut um Hilfe und warf beide Arme um die Taue. Nun war's zu spät.
Strandigers Gesicht wurde weiß; aber es rührte sich nichts darin. Er sprang zum Steuer zurück und warf es herum. »Schräg auffahren!« schoß es ihm durch den Kopf.
Von hinten heulte der Wind, schräg vorn nichts als weißes, wirbelndes Wasser, kochend und schäumend. Ringsum, bald hier, bald da, glotzten die weißen Augen über den Bootsrand. Dann noch zwei Minuten ... ein Stoß, so hart, so furchtbar, daß der Körper Hobookens aufflog und dumpf niederschlug, daß Strandiger mit der Hand, die er nach dem Liegenden ausstreckte, in sein eigenes Haar griff. Da griffen die weißen Arme der Wellen zu und trugen den leblos Liegenden über Bord.
Wieder zwei Stöße! Und rings umher das wilde, sinnlos tobende Wasser, das mit tausend Händen nach ihnen griff. Da sah er schräg unter sich ... da vorn ... zwei andere Hände ... Menschenhände ... da glitt er blitzschnell am Tau hernieder und hatte das Glück, daß das wild schlagende, splitternde Boot ein wenig Schutz bot, und hielt die Fallende fest und trug sie und fiel mit seiner Last am Strand nieder.
Er hatte alles andere vergessen.
Er lag vor ihr auf den Knieen, horchte auf ihren Atem und deckte das schwernasse Kleid über ihre Füße und sah sie starr an, mit finsteren, glühenden Augen.
»Warum ging sie nun in das Wasser? ... Was soll ich nun denken? denken? denken? Was nützt das Denken? Mein ist sie. Mein Strandgut! Meins! ... Lebten wir in alter Zeit, und ich hätte sie aus dem Wasser gerissen und aus dem Tod ... ich hätte sie nicht erst gefragt, ob sie mein sein wollte. Sie hätte auch selbst nicht gezweifelt, weil sie mein Strandgut ist ... Denken?! Ich will festhalten, in diesem Augenblick', was mir das Meer in die Arme warf; Gott und das alte Strandrecht haben sie mir zugesprochen.«
»Sprach vorher jemand von Gewissen?«
Er stützte beide Hände auf den Sand. Ihr blasses, lebloses Gesicht lag gerade unter ihm, ihr Atem ging leise und doch mühsam, Wasser stand auf ihren blassen Lippen und floß von ihrem Haar, dessen Flechten in dem nassen Sand ausgebreitet lagen. So ganz ohne Schutz lag sie da.
»Sie ist noch in Todesgefahr; nicht einmal die Hände kann sie rühren. Ingeborg ... Liebling ... sage mir ein Wort! Mach' die Augen auf! Nein, laß sie, wie sie sind; wenn du sie öffnest, erschrickst du. Komm ... ich trage dich heim ... Wenn du antworten kannst, dann will ich dich fragen ...«
Er legte sich eilig in die Kniee und hob sie auf, wie man ein gebrechlich Kind aus den Kissen nimmt, und trug sie, so rasch er konnte, schräg über den dämmernden Strand in die Richtung nach der Hütte.
Die Brandung brüllte hinter ihm her, und der Sturm schrie nach der verlorenen Beute: »Sie gehört uns, uns!«
»Uns?« sagte er laut. »Wem von uns? Sie soll es selbst sagen. Noch einmal will ich sie fragen. Sie hat mich doch lieb; ich sah's an ihren Augen!... Ingeborg ...«
Keuchend, mühsam trug er seine Last durch den tiefen Sand der Düne hinauf, todmüde und schwankend. In der Hütte war Licht.
Er stieß die Thür mit dem Fuß auf. Da war niemand in der Hütte als Andrees Strandiger und der Rotkopf, die eben vom Boot gekommen waren und von Ingeborgs Ankunft keine Ahnung hatten. Sie sprangen auf, als sie den hohen, todblassen Mann und seine Last im Rahmen der Thür stehen sahen.
»Was ist das?« schrie Andrees.
»Strandgut ist es!« sagte er. »Mein Strandgut! Ich wollte dir mehr darüber sagen; aber du bist nicht allein. Ich habe sie aus der Brandung gerissen. Warum sie hineingegangen ist, wird sie dir selber sagen. Ich muß sie dir jetzt lassen, weil sie krank ist ...« Er legte sie auf die Schaffelle, die aus dem Fußboden lagen.
Der Rotkopf beugte sich über sie, löste ihr das Kleid am Halse und legte den Kopf tief. »Es ist nicht vom Wasser,« sagte er ... »sie ist ohnmächtig,« und schüttelte sie hart am Arm. Andrees hielt ihren Kopf in seinen Händen und strich das Wasser von Gesicht und Haar.
Da verließ Franz Strandiger die Stube und setzte sich draußen vor der Hütte auf die Bank.
Nach einer Weile stand er auf und trat wieder in die Hütte. In der Kammer, die neben der Stube lag, war Licht gemacht, und er trat hinein. Andrees Strandiger beugte sich über das Bett, und Ingeborg hatte beide Arme um seine Schultern geklammert, als wenn sie wieder fürchtete, in der Brandung zu versinken. Ein heißes, wildes Schluchzen erschütterte ihren Körper, der halb entkleidet auf dem Bett lag. »Ich meinte, du wärst es. Da erkannte ich ihn und fiel zurück.«
»Er hat dich gerettet!«
»Andrees ... lieber Andrees! Hilf mir! Verlaß mich nicht! Ich fürchte mich vor ihm.«
Da trat Franz Strandiger von der Schwelle zurück und ging hinaus und saß wieder auf der Bank. Der Wind fuhr gegen ihn an; furchtbare Kälte machte seine Glieder zittern.
Bald darauf trat der Schiffer heraus, sah sich um und sagte: »Es geht ihr gut; es war richtig eine Ohnmacht ... Nun sagen Sie mir, wo kommen Sie her, und was ist geschehen? Es wird einem ja wirr im Kopf.«
»Wir sind da draußen in die Brandung getrieben. Wir kamen zu nah' heran, der Wind ward stärker. Nachher wollte das Großsegel nicht fallen. Der andere, mein Onkel, ist geblieben; das Boot wird entzwei sein.« Er raffte die letzten Kräfte zusammen. »Sie müssen mich ans Land fahren ... jetzt gleich ... Ich werde es Ihnen bezahlen. Kommen Sie! Sie kommen!« sagte er noch einmal.
Der Alte schob die Mütze beiseite: »Das Wasser ist schon im Sinken.«
»So fahren Sie mich mit den Pferden nach Strandigerhof.«
»Ja ... das geht schon eher. Aber erst nach ein Uhr. Der Mond muß da sein, sonst geht es nicht. Aber ich denke eben daran ... Strandiger sagte vorhin, er wollte auch mit der nächsten Ebbe fahren, wenn es möglich wäre. Er will seine Mutter von dem Unfall benachrichtigen und Frauenhilfe holen. Das Fräulein wird doch wohl nicht so leicht davon kommen ...«
»Ich will nicht mit Strandiger fahren ... bringen Sie mich bis zur Kreuzbake; von da finde ich den Weg allein.«
»Na ... das geht wohl an ... Wollen Sie in die Hütte kommen?«
»Nein! Wo haben Sie die Pferde?«
»Hier in der Blockhütte.«
Er führte ihn in die Blockhütte, die von einer Stalllaterne notdürftig erleuchtet war. Da war neben den Pferden, links vom Eingang, eine Lage Stroh; dort legte er sich hin, nachdem er einen Anzug des Schiffers angezogen und heißen Kaffee getrunken hatte, ließ sich mit einer Pferdedecke zudecken und schlief bald ein.
Antje Witt irrte wieder am Strand entlang, dicht neben der Brandung. Ihr Bruder war ihr nachgegangen, sie zu suchen, hatte sie aber noch nicht gefunden.
Im Eschenwinkel, im Haus ihres Bruders, hatte sie sich aus Scheu vor den Menschen und um die Kinder nicht zu erschrecken, zusammengenommen. Sie hatte den irren Geist in sich unterdrückt, und es war ihr, bei ihrer natürlichen Gutmütigkeit, fast immer gelungen. Wenn es aber in ihr zu gären anfing, lief sie ins Watt hinein und hauste tagelang auf Flackelholm. Und hier, in der Einsamkeit, flog das unheimliche Feuer, das in ihr war, hoch auf. Der arme, irre Geist, dort im Eschenwinkel von den Menschen und durch einen Rest von Überlegung niedergehalten, legte in der Einsamkeit des Eilands jeden Zwang ab. Was sie in solchen Stunden, an solchen Tagen in ihrem irren Sinn gedacht und ausgeführt hat, das hat kein Mensch gesehen oder erfahren. Vor den drei oder vier Fischern, die zufällig nach Flackelholm kamen, hatte sie sich verborgen gehalten. Einige hatte sie durch ihre Erscheinung aufs tiefste erschreckt; sie hatten sie aber nicht erkannt. In den letzten Jahren war sie unruhiger geworden; sie war jetzt dreiundvierzig Jahre alt.
Es war schon später Abend. Das Feuer von Neuwerk stand nach Südwesten zu über dem weißen Gischt. Es war Hochflut; ein Tosen und Brausen und dazwischen Weinen und Stöhnen erfüllte die Luft.
Auf schwarzen Pferden kamen sie an, schräge, in langen,
geschlossenen Reihen, Reiter in weißen, wehenden Mänteln, mit blinkenden Helmen, in dröhnendem, sausendem Galopp, immer nebeneinander, in Reih und Glied, und keiner wich zurück und kein Pferd stürzte. So jagen sie schräg heran drei, vier, sechs Reihen aus dem Dunkel der Nacht und alle gleich hoch und stolz, auf springenden Pferden, mit schneeweißen Angesichtern ... aber wenn sie nahe kommen, vorne am Strand, stürzen die Pferde in die Kniee, die weißen Gesichter und die blanken Helme fliegen in den Sand, und die langen Mäntel liegen am Boden und, vom Mondlicht beleuchtet, rinnt der Schaum über den Sand.
Sie irrte an der Brandung entlang, immer weiter.
»Ob ich ihn diesmal finde?« dachte sie. »Sie haben weiße Mäntel gehabt und schöne, dunkle Pferde. Ich hab's wohl gehört, wie Reimer es erzählte, als er zurückkam. Eine Reihe nach der andern sind sie gekommen, und alle sind sie zusammengestürzt. Hier muß ich ihn finden.
»Viele Jahre gehe ich hier schon, immer neben den Pferden und im Blut. Und viele Tote habe ich schon gefunden und begraben. Aber er war nicht darunter.
»Die Leute sagen: ›In den letzten zwanzig Jahren werden keine Tote mehr auf Flackelholm gefunden.‹ Ich bin hier gewesen, ich, und habe sie begraben. Traurig sahen sie aus, waren ganz von den Hufen zertreten, hatten wochenlang unten gelegen in der wilden Schlacht. Ein Vaterunser habe ich gebetet über jedem Sandberg.
»Heinrich!
»Wie die Kanonen brüllen! Ich armes Mensch allein in der Schlacht. Sagt mir, wo sein Regiment steht!? Ich habe die Nummer vergessen; es ist schon so lange her, weit über zwanzig Jahr.
»Muß hier laufen und laufen und werde alt und bin müde. Wenn ich nun nicht mehr kann, wer soll ihn dann suchen? Wer soll ihn dann begraben?«
Sie eilte weiter, mühsam sich gegen den Wind haltend und da ... an der Biegung des Strandes, wo das Meer am wildesten tobte, wo große Fetzen Erde aus dem Strand gerissen sind, wo mitten in der Brandung die wilden Wellen mit dem Nest eines Bootes, vor Übermut brüllend, Fangball spielten, da lag ein Mensch, mit zerschlagenem, blutigem Gesicht, lang hingestreckt, still und tot, in hohen Stiefeln, in blauer Kleidung von militärischem Schnitt. Er sah ganz anders aus als die andern, die sie begraben hatte.
»Heinrich!«
Der Mond stand am Himmel und hat es gesehen, wie sie den Toten in derselben Stunde ein wenig höher hinauf am Sandwall begraben hat, wie mehr als dreißig andere ... aber mit heißeren Gebeten. Um Mitternacht kehrte sie heim und saß den Rest der Nacht ruhig und still am Fenster der Kammer und wachte über Ingeborgs unruhigen Schlaf. Sie hatte ihr Haar sorgfältig gekämmt – mit nassem Kamm, wie ihre Weise war – und ihr schwarzes Tuchkleid angelegt, eine weiße Krause um den Hals. Das Gesangbuch hatte sie in der Hand; ein weißes Taschentuch, sorgfältig zusammengefaltet, lag darauf.
Also wurde Felix Hobooken, der nie im Leben einem Menschen Gutes gethan hatte, unter heißen Thränen und Gebeten begraben. Er mußte am Sand von Flackelholm stranden, damit ihm das widerfuhr.
An der Kreuzbake hielt der Wagen. Der Mond stand noch am Himmel; aber jagende Wolken verdeckten ihn zuweilen. Am Horizont, im Osten, ballten sich dunkle Wolken, eine schwarze Mauer gegen den Tag. Auch im Westen lagen schwere Wolkenmassen überm Meer. Es war Tiefebbe.
»Ich kann Sie hier nicht gut absetzen,« sagte der Rotbart. »Von hier ist der Weg bunt. Ich kann mich nach den Sternen richten, aber Sie kennen sie nicht.«
»Der Morgen ist nicht mehr fern. Ich weiß hier die Richtung und kenne die Priele.«
»Es kann dunkler werden. Ich mag die Wolken im Westen nicht leiden; es ist schwere Luft.«
»Kehren Sie wieder um! Ich finde schon nach Haus.«
Der Rotkopf schüttelte den Kopf; dann fing er an, den Weg zu deuten. »Dreiviertel Stunde gehen Sie nach Ihrer Uhr so ... Sehen Sie dort den Stern? Dann werden Sie Schlick treffen: dann gehen Sie in solchem Winkel, so...«
»Ich kenne den Weg, ich habe da Enten gejagt.«
Er stieg mit schweren Beinen vom Bretterwagen. Der bog wieder in die alte Spur und fuhr zurück. Da wandte Strandiger noch einmal um: »Will Andrees Strandiger selbst nach dem Koog fahren?«
»Ja ... Heute oder morgen. Ich selbst muß mit Reimer wegen der Steine nach Büsen.«
Der Wagen klapperte und rasselte davon. Dann ward es still in der weiten Öde. Der Himmel hatte die Wolkenschleier abgenommen; die Sterne sahen wie mit tausend offenen Augen herunter.
Er wandte sich langsam um. Seine Glieder zitterten; die Morgenkälte schüttelte ihn; er sah nach dem bezeichneten Stern und machte hundert langsame Schritte, blieb stehen und sah nach der Bake zurück. Noch sah er sie; sie hob sich vom Himmel ab.
»Nach meiner Uhr soll ich gehen,« dachte er, »meine Uhr steht. Es ist wohl Wasser hineingelaufen ... Das Herz steht auch ... es ist Jammer und Wut hineingelaufen.
Weil ich das gesehen habe in der Kammer.«
Er ging eine Weile weiter und traf eine kleinere Bake, etwas mehr als mannshoch, und blieb davor stehen.
»Die reiß ich aus der Erde. .. zweihundert Schritte seitwärts ... wenn meine Uhr steht, warum soll seine gehen?«
Er stand und grübelte. Von Westen her kam leiser, rollender Donner, anschwellend; drohend stieg es vom Himmel herunter, wie wenn einer von draußen an das Gewölbe schlug.
»Kommen wir beide ohne Wegweiser nach Strandigerhof, so soll sie ihm gehören.«
Er ging langsam in tiefen, schwarzen Gedanken zurück. Seine Züge waren nun nicht schön, nicht stolz. Als wenn er jahrelang mit rohen Menschen verkehrt hätte, so war sein Gesicht verwandelt.
»Es ist eine Probe ... Dies soll entscheiden. Wer ankommt, hat die Braut. Kommen wir beide an, so trete ich zurück.
Das Weib! Das schöne, stolze Weib!«
Er riß an der Bake, und mit seiner starken Kraft riß er sie heraus. Es gab einen glucksenden Ton; das Wasser, das unterm Schlick träumte, ward wach und füllte gurgelnd die Höhlung. Er trug die Bake seitwärts; zweihundert Schritte bis zu einem kleinen Priel; da warf er sie hinein.
Dann ging er nach der andern Bake zurück. Erst fand er sie nicht; dann, als er sie fand, riß er sie aus, und ging mit ihr nach der andern Seite, und ward von seinen Gedanken weiter geführt, als er wollte. Wohl vierhundert Schritt trug er sie.
»Nun haben wir beide keine Wegweiser mehr.«
Er sah nach dem Stern hinauf und ging vorwärts.
»Sie war unter meinen Händen, als sie da lag. Mein war sie. Gott oder das Schicksal – einerlei – hatten sie mir gegeben. Da habe ich Narr sie zu ihm gebracht.
Merkwürdig, als ich sie hintrug, als ich sie ihm brachte, da war ich frei und stolz. Jetzt...« er fuhr mit kalter Hand über sein Gesicht: »Als wenn es alles straff gezogen und verzerrt ist.«
Er stand wieder still und hörte auf das Donnern, das von Westen herkam, kehrte sich um und sah nach den Wolken. Der Donner rollte über die unendlich weite Fläche; er senkte den Kopf und lauschte.
»Ein Gewitter im März ... und gerade heute. Es hat den ganzen Tag danach ausgesehen . .. Als wenn mich einer ruft ... Laß dein Wettern und Dröhnen ... ich komme ja schon.
Ich will sie wieder hinstecken, wo sie waren. Ich kenne das Watt hier besser als er; es ist nicht ehrlich. Es ist hart, so zu versaufen, und er war einst mein Freund... er kennt den Weg nicht so gut wie ich.
Nun wird mir wieder besser ... rasch ... gesucht die Dinger!
Wo sind sie?«
Er lief im Trab ... da sank er ein. Er bog ein wenig nach Westen zu, und fand den Priel und lief neben ihm dahin und suchte die Bake und fand sie nicht, und ging weiter und fand sie in dem Arm des Priels, der hier abzweigte, und achtete nicht auf die veränderte Richtung. Und wieder sank er bis über die Knöchel in den Schlick.
Da suchte er am Himmel den Stern, der ihm bezeichnet war. Aber es war keiner mehr da. Schwarze Wetter hatten Befehl erhalten und hatten ihn verdrängt.
Er sah sich um. Er kannte keine Richtung mehr. Er ging seinen Fußspuren nach ... sie gingen kreuz und quer ... Er kam an einen Priel, in dem rieselten und gurgelten die Wasser, und er sank ein. Er kehrte sich um; noch einmal ... da wußte er, daß er sich verirrt hatte.
Verirrt im Watt ...
Das Gewitter stieg langsam herauf, unheimlich in der furchtbaren Öde.
Im Westen lag den ganzen Horizont entlang ein Ungeheuer, wie ein Riese auf dem Meer. Ein anderer lag wie in den Knieen, zusammengedrückt, darüber. Und die beiden bekämpften sich mit glühenden Pfeilen und Hellebarden, die Zickzacklinien zeigten, und der obere ward stark getroffen, bäumte sich auf mit donnerndem Brüllen und war schwer verwundet worden, und seine Eingeweide hingen herunter bis ins Meer.
Das Wasser kam, und der Verirrte suchte in Todesnot den Weg und fand ihn nicht. Er wußte nicht mehr, wo Osten oder Westen war. Da blieb er endlich stehen, wo der Grund fest war.
»Wozu das Laufen? Wenn mich ein Blitz träfe!«
Der arme, kleine Mensch stand im ungeheuren Watt; seine starken Glieder zitterten, das Blitzen seiner Augen war vergangen, sein stolzes Herz mutlos, seine ganze Kraft dahin.
Wenn er in der Schlacht den Tod erwartet hätte ... mit vielen andern ... aber er ist ganz allein. Der letzte Mensch der Erde steht dem Tod gegenüber, der Vernichtung ... nein, nicht allein dem Tod, sondern dem allmächtigen Schicksal. Er ganz allein.
Das Wasser steigt bis an die Knöchel ... weiter ... jede Welle bringt mehr, jede Fußspur öffnet eine Quelle. Es ist alles grau in grau. Auch die Muschelbank, auf der er steht, die sonst so weiß scheint, trieft von Wasser. Von unten, von oben, von Westen, von Osten: Wasser, Wasser und Todesnot.
Da macht er sich wieder guf. Er meint, dort drüben müsse das Festland liegen. Er weiß nicht, wie er zu der Meinung kommt; seine Phantasie nimmt es so an; es zieht ihn nach der Richtung. Aber wie er einige Schritte gemacht hat, da ist ihm ganz klar, daß er verkehrt geht. Da steht er wieder still.
Nach einer Weile – vielleicht hat er eine halbe Stunde so gestanden – macht er sich wieder auf, mit schweren Füßen im plätschernden Wasser, dahin, wo er meint, daß der Boden höher und fester sei. Er hat es aufgegeben, das Land zu finden.
Da stolpert er über Reisigholz, und da liegt die Bake, und er bricht ein Stück ab, ebenso groß als er selbst, und stützt sich darauf, und hält sich damit, denn das ewig fließende Wasser macht ihn schwindeln. Endlich kann er dies Wandern des Wassers nicht mehr ansehen, er muß sonst stürzen. Da wendet er den Blick nach oben und steht wie ein Betender oder wie einer, der zuhört, was ein anderer von oben her redet.
Hoch oben im Westen überm Meer wurden eiserne Thore krachend geöffnet, Ketten und Stangen klirrten am Thorgang, und eiserne Platten gaben harten Ton. Durch steinerne Thorgänge rollten eiserne Wagen, zwei, drei hintereinander, und die Wölbungen warfen das Getöse wilder zurück. Schwarze Rosse erschienen, eiserne Hufe stießen auf harten Stein, da blitzte es hell auf, mit grellem, bläulichem Schein, Wolken fuhren vor Ihm her, und tausend Hände warfen Regen aus, daß seine Rosse nicht stürzten. Ein Riese, von dem man nichts sah, stand am Horizont unter dem Meer und warf mit beiden Händen Feuer über den Himmel, daß sie den Weg fanden.
»Wie lange stehe ich schon? Eine Stunde? Oder ein Jahr? Dem Kopf scheint's eine Stunde, dem Herzen ein Jahr. Was im Raume nebeneinander liegt, liegt im Herzen ineinander, durcheinander. Ich habe alles wieder gesehen, was ich von Kindheit an gedacht und gethan habe; es ist nichts mehr übrig. Die Qual könnte nun zu Ende gehen.«
Der Reisigstamm bog sich hin und her, so wie die Wellen seinen Körper hin und her schaukelten. Das zersplitterte Ende des Stammes, das er gegen die Brust gepreßt hatte, hatte sich durch die Kleidung hindurch gewühlt; es lief Blut die graue Rinde hinunter; aber er merkte es nicht.
»Ich bin nicht schuld an deinem Tod! Ich hätte dich in Ehren gehalten, wie tausend andere ihre Frauen ehren. Warum gingst du in den Teich? Laß mich in Ruh' mit deinem Heiligengesicht! Bleib unter deinem weißen Stein, was willst du im grausigen Watt?
»Ich habe ihn nicht töten wollen ... bei Gott, das wollte ich nicht! Ich dachte, es wäre noch früh genug; aber er hielt in seiner Todesangst das Tau so fest. So fest halte ich jetzt den elenden Stock ... doch bin ich besser daran, als er ... ich kann noch einmal alles überlegen. Er hatte nicht viel Zeit. Nur eine kurze Predigt hat er noch gehört ... von mir. Daß das Gewissen einen Zweck hat ... wie die Füße und die Hände ... Nun halte ich mir selbst eine Predigt ... eine lange, lange ... und werde nicht fertig. Ganze Bogen herunter rechne ich und kann den Strich nicht darunter ziehen ... kann nicht ...will nicht ... Ein Jammer ist das!
»Es muß irgendwo ein Fehler sein . .. sonst könnte ich jetzt sterben. An irgend etwas habe ich noch nicht gedacht. Was kann das sein? Es verwirrt sich ... es schwimmt und treibt. Was ich denke, ist gurgelndes, wirrendes, wegloses Wasser. Geist und Herz wissen nicht woher und wohin.
»Nun wird's still ... wie Gott will ... Was soll der Gedanke? Ist das Gottes Wille, daß ich hier so elend mich quäle und versaufe? ...
»Warum nicht? Er ruft mich zum andern Leben. Und dieser Weg dahin, gerade dieser Weg ist für mich der beste ... und dieser Stand hier. Ich habe auch nicht viel Federlesens gemacht, ich faßte sie an, Männer und Weiber, rasch und fest; so macht er es jetzt mit mir. Ich muß mich bedanken; es ist Sinn darin!
»Es dauert noch etwas ... das Wasser geht noch nicht bis zur Hüfte. Die Beine sind nun tot. Nun kommt bald das Herz.
»Die Wolken vergehen ... es wird heller... der Himmel hat blassen Schein: der letzte Tag! Nach dem Strandigerhof will ich sehn, wenn ich kann, und noch einmal nach Flackelholm, wo sie ist ... Ach, was nützt mir das? Ich muß wohl nach einem andern Hof sehen und nachdenken, wie der Empfang wird. Bis zur Hüfte im Wasser ändert sich alles! Die Erde ist Wasser geworden, und der Himmel festes Land, und was klein war, ist groß geworden, sehr groß. Und was auf dem Lande nicht gedieh, ist im Wasser rasch gewachsen.
»Ich würde von alledem nichts glauben, gar nichts ... ich würde glauben, daß ich wie die Fliege in der Milch verkäme, wenn ich Maria Landt nicht kennen gelernt hätte.
»Ich habe keine Anlage zur Demut. Demut? Sie sagen: Wir sind nicht demütig, wie die andern Menschen. Die andern Menschen, sagen sie, fürchten Sünde und Schuld, Unglück und Tod, das alles fürchten wir nicht. Wir fürchten nur Gott. Und es ist schön, sagen sie, Gott zu fürchten.
»Es ist Wahres darin ... die Christen glauben an das Licht – die andern an die Nacht. Aber wie soll ich an das Licht glauben in diesem Jammer und Todesgrauen ...«
Seevögel flogen schreiend vorüber, ließen sich nieder und wiegten sich auf den Wellen. »Elende Vögel! Sie leben, ich sterbe.« Seehunde kamen von fern, hoben die weißen Leiber und sahen auf ihn ... »Laßt mich! ... geht hin nach Flackelholm und sagt es ihr! ...
»Ich halte es nicht länger aus ... Die Kniee brechen, und die Augen sind irrsinnig, und die Gedanken laufen fort... Die einen sind in der Jugend, spielen und toben: Ich bin Oberst! Trab! ... Es ist der Tag von Gravelotte, und mein Vater stirbt. Der starb fürs Vaterland ... ich als ... Verbrecher ... Meine Mutter war nicht gottesfürchtig! ... Die andern Gedanken klopfen an die Himmelsthür. Hör! Es klopft! Arme Seele.«
Der letzte Donner verhallte. Der Tag brach an... »Da ist das Land, da, so nah'! Und doch so fern ...«
Das Morgenrot griff mit goldenen Händen durch die Wolken und sah mit langen, feurigen Augen über die Wellen. »Nun ist's genug.«
Da kam von hinten her eine Stimme ... laut rufend ... viel heller als die tausend Stimmen der Wellen:
»Franz, steh' gerade! ... ich komme!«
Er streckte im Wenden beide Arme aus und schwankte. Da stand Andrees Strandiger breitbeinig auf dem Bretterwagen, die Peitsche in der Hand, und die großen Braunen gingen mit hochgehobenen Köpfen, schnaubend und nickend, langsam durch das Wasser; die Halskappen klirrten, die Spitze der Deichsel hob sich dann und wann aus dem Wasser; die Wellen liefen über das Wagenbrett.
»Ich komme! Junge, steh' fest. Noch eine Minute!«
Er stand und starrte mit irren, großen Augen auf die Pferde, und machte nicht einmal den Versuch, etwas Stolzes oder Hartes in seinem Gesicht zu zeigen, und griff mit beiden Händen nach den Köpfen der Pferde und arbeitete sich seitwärts vom Wagen, an den Strängen sich haltend, und lag zwischen den Brettern auf den Knieen: »Weg!« sagte er. »Weg von diesem furchtbaren Ort!«
»Ja ... wohin?« sagte Andrees.
»Hier kommen wir um.«
»Ich hoffe nicht. Wenn der Wagen nur hält und die Pferde stehen und das Wasser nicht zu hoch geht.«
»Wo kommst du her?« stöhnte Franz.
»Dort ist der Weg, dort drüben. Ich konnte die Kreuzbake nicht finden; da verlor ich den Weg. Nachher fand ich ihn, und ich glaube, ich wäre noch an Land gekommen, aber da sah ich dich, du armer Kerl ... Ich will meinen Rock ausziehen; bedeck' deine Brust damit; sie ist ja ganz voll Blut. Leg' ihn um dich! Zweimal schiffbrüchig an einem Tag, das hält kein Mensch aus.«
Franz versuchte, sich von den Knieen zu erheben; aber er sank wieder zusammen: »Ich will es dir sagen: ich habe die Bake ausgerissen, weil ich mit dir um Ingeborg Landt spielen wollte. Nachher wollte ich sie wieder hinbringen; dabei verirrte ich mich.«
Andrees richtete sich gerade auf; furchtbare Erregung bebte durch seine Gestalt: »Das ist für Gott,« sagte er, »nicht für mich. Ich habe an meiner eigenen Last zu tragen.«
»Nun kommst du und willst mir helfen und mußt mit mir zu Grunde gehen, und alles ist aus, und alles habe ich gethan ... ich ... Ich bin müde und kalt.« Er legte den Kopf schwer gegen das Seitenbrett und weinte.
»Ich stelle mich so hin,« sagte Andrees, »bleibe du in den Knieen liegen und klammere dich fest an mich, so bleibst du warm. Wenn die Pferde unruhig werden, schneide ich sie los ... aber ich hoffe, das Wasser steigt nicht viel höher. Und die Pferde sind klug; sie stehen ruhig. Drei Stunden Flut sind vorüber.«
So standen sie, dicht aneinander geschmiegt, die sich feind waren. Sie sprachen wenig und selten. Sie lauschten auf das leise Rauschen des Wassers, auf das Knarren der Deichsel. Sie sahen nach den Pferden, welche die Köpfe hoch hielten und die ängstlichen Augen zurückwandten. Sie sahen nach dem Strandigerhof hinüber.
Als das Wasser sank, schlief Franz Strandiger ein, zusammensinkend, den Arm um die Kniee des andern, Schulter und Kopf gegen die Wagenseite gelehnt. Die Sonne stand strahlend im Osten; es war ein schöner, heller Frühlingsmorgen. Zu Nordosten von ihnen erschien der lange, weiße Rücken einer Sandbank; gleich ward sie Zufluchtsort für Hunderte von Vögeln.
Da brachen sie auf.
Sogleich wurden sie auch bemerkt. Wagen, Reiter jagten den Deich hinunter. Heim Heiderieter empfing sie, große, ängstliche Augen auf sie richtend, bis an den Leib im Wasser stehend.
Franz Strandiger brach zusammen.