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Viertes Kapitel

Heim Heiderieter, stud. phil. im neunten Semester, war am Morgen in Bebenhausen angekommen, hatte den Tag in der schönen, stillen Burg, in dieser königlichen Einsiedelei, verträumt und wanderte den ganzen Nachmittag, dieselben Träume weiterspinnend, durch den Schönbuch. Bald ging er auf stillen Waldwegen, bald auf der Straße, über welche die Buchen ihre starken Zweige hängten, hinauf, hinunter. Nun kam er müde, mit weißbestaubten Schuhen und heißem Gesicht, den letzten Hügel herunter. Die Buchen traten beiseite, und die Märchen und Träume liefen eilig in den Wald zurück, die Welt that sich auf: Da stand das Schloß von Tübingen. Die Abendsonne leuchtete in den langen Fensterreihen. Die alte Stadt lag friedlich da, im breiten, warmen Nest des Thals.

Heim Heiderieter stieg gemächlich hinab. Er träumte immer noch. Es hatte ihn noch niemand geweckt, noch niemand gedungen. Die Heimat dang ihn nachher.

Er war sehr einfach gekleidet, in braunem Lodenstoff, trug auf dem hellen, krausen Haar den weichen Filzhut und hatte einen kräftigen Eichenstock in der Hand.

Sein Gesicht war im Lauf der Jahre männlich geworden und war von Lebensmut und Sonne braun und kräftig, aber seine Augen waren dieselben geblieben, treue, reine Augen, glänzend von allerlei bunten Gedanken, wie die Fenster eines Hauses, hinter denen der brennende Tannenbaum steht.

Aber grade da liegt Heim Heiderieters Mangel. Es ist nicht immer Weihnachtsabend. Wann willst du Werktagsarbeit thun, Heim Heiderieter?

Am Markt, unweit der Kirche, steht ein Wirtshaus, wohl über zweihundert Jahre alt. Da kehrt er ein.

Die niedrige, große Stube mit den schlichten Tischen, Bänken und Stühlen ist voll von Studenten, die ihr einfaches Abendessen, Brot mit Käse, zu sich nehmen, oder hinter Bierkrügen und Weingläsern sitzen und sich laut und fröhlich unterhalten. Es verkehren in dieser Wirtschaft vorwiegend Norddeutsche. Man sieht manchen starken, frischen Jungen. Einige sind noch sehr jung, eben von den Schulen gekommen, haben die Blässe des Examens noch auf dem Gesicht und sind noch mehr oder weniger unbeholfen und gegenüber dem freien studentischen Leben ratlos. Andere sind schon älter, mit starken Schnurrbärten, und hier und da ist ein kurzer, heller Kinnbart der willkommene Gegenstand harmloser Neckereien. Einige aber sind ältere, abgestandene, sauer gewordene, der alma mater verlorene, unter ihren Augen zu ihrem Leid verkommene Kinder; Gesichter, die entweder von Schlaf oder Trunk reden; Gestalten, die entweder zu dünn oder zu dick sind; Gebaren, das entweder Trägheit zeigt oder Roheit. Sie sind ein Ziel des Spottes für die frische Jugend, eine Last für die Verbindungen, für die Bekannten. Sie sind der Eltern und Geschwister Angst und Gottes Jammer.

Heim Heiderieter hängt den Hut auf den Stock mit der gebogenen Krücke und stellt beides in die Ecke, streicht den kleinen Vollbart zur Seite und richtet sich auf, daß er fast bis an die Decke reicht, und geht hier grüßend, dort sich verbeugend – seine Grüße sind herzlich, es schießt jedesmal ein warmer Strom aus seinen Augen, seine Verbeugungen sind eckig – zwischen all den Tischen durch und steuert auf den Holsteiner Tisch zu.

»Siehe, da kommt der Träumer! Setz dich, Heidereiter!«

»Heidereißer, Waldläufer! Hierher!«

»Nein hierher! Zwischen uns beiden ist nur eine Heide.«

Das sagt ein Mediziner im letzten Semester, ein gemütlicher, hübscher Mann, hinter blanken Brillengläsern blanke Augen. Sein Vater kommt als Arzt auf seinen Landfahrten bis nach dem Eschenwinkel, und der Sohn hat den Heidehof schon gekannt, als Heim noch barfuß über den Sandweg in die Schule lief.

»Weißt du, Heim, daß dein Palast im Weinberg abgebrannt ist?«

»Vollständig! ... Nichts als Asche!«

Heim lachte behaglich: »Wenn nur Uhlands Gedichte gerettet sind!«

»Alles verbrannt!«

»Aber ich habe sie in der Tasche. Da!« Er zeigt lachend den zerlesenen Band.

»Sagen Sie mal, Heiderieter,« fragt ein älterer Student, der erst kürzlich nach Tübingen gekommen ist, ein Jurist mit scharfem Gesicht, »welcher Fakultät gehören Sie an?«

Es liegt ein wenig Spott in der Frage und ein wenig Interesse. Die Tafelrunde aber lacht, und es entsteht ein Wetteifer, einem übermütigen oder geistreichen Gedanken möglichst schnell Ausdruck zu geben. Einige sagen: »Der fünften!« Andere meinen, daß Heiderieter zur »Fakultät Uhland« gehöre und daß »ganz Württemberg sein Hörsaal sei«. Ein letzter erklärt, daß Heiderieter zu selten in Tübingen sei, als daß eine solche Frage berechtigt wäre.

Der Mediziner mit den freundlichen Augen hat in dem Aufruhr, der entstanden war, eine Gelegenheit, dem Frager mit leiser Stimme zu erklären, daß Heiderieter ein gemütlicher, aber seltsamer Junge sei, der leider nicht wisse, was er wolle.

Heim ist es peinlich, Mittelpunkt der Unterhaltung zu sein, und ist verlegen. Er ist, mit seinen Gedanken allein, ein Mensch von großem Mut; er spricht ganze Volksmengen an und ist im Reichstage nicht tot zu reden. Er ist in Gesellschaft zweier guter Bekannter ein trauter Gesell, öffnet sein Herz weit und bietet einem einen Stuhl darin an mit einer so ehrlichen Freundlichkeit, daß man sich so recht gemütlich hinsetzt. Er ist, wenn er von sechs Leuten umgeben ist und zugleich von ihnen angesehen wird, verlegen und geht immer als erster in den Hörsaal – wenn er überhaupt hingeht –, um nicht, in der Thür erscheinend, die Augen auf sich zu lenken. Also ist es gekommen, daß Heim Heiderieter, der dem Einzelnen als sinniger, treuer, begabter Mensch erscheint, seiner Bekanntschaft im ganzen ein Gegenstand gutmütigen Spottes, einigen wenigen Harten und Hochmütigen ein Gegenstand des Kopfschüttelns ist.

Diesmal rettete ihn eine starke Hand aus seiner Not. Es war ein fremder junger Mann ins Zimmer getreten, eine stolze Gestalt, der dunkles schlichtes Haar, dunkle Augen, edle Züge und vornehme Kleidung ein ausgezeichnetes Aussehen gaben. Dieser Mann stand eine Weile sicher und selbstbewußt mitten im Zimmer, den Hut in der Hand, und sah sich suchend um. Dann hörte er die Unterhaltung am Holsteiner Tisch, und dann legte er seine Hand auf Heims Schulter.

»Guten Abend, Heim Heiderieter!«

Heim sprang auf und legte beide Arme um des andern Schulter: »Andrees, Andrees!«

»Komm!« sagte Andrees. »Ich habe gestern in Berlin den Ulanenrock ausgezogen und bin stracks hierher gefahren, dich zu sehen und zu sprechen., Schwer war es, Tübingen zu finden, in Stuttgart wollte ich es fast aufgeben. Schwerer war es, dich zu finden.« Er wandte sich an die Tafelrunde: »Sie haben diesen Mann fünf Jahre lang besessen. Ich habe ein altes Recht auf ihn; lassen Sie mir ihn diesen Abend.«

Draußen war es Dämmerung geworden, fast schon Abend. Aber der Himmel war hell. Es war ein stiller, schöner Sommerabend.

»Wo wohnst du?« fragte Andrees.

»Draußen,« sagte Heim ein wenig kleinlaut. »Ich habe da in den Weinbergen ein kleines Gartenhaus gemietet. Aber wir könnten ja in deinen Gasthof gehen. Wo bist du eingekehrt?«

»Ich danke, ich geh' mit dir.«

Sie gingen auf schmalen, holprigen Steigen den Hügel hinauf. Der Mond lugte über fernen Bäumen; seine Strahlen streuten die krausen Schatten von Weinblättern über den Weg. Zuweilen lag eine Traube, sein und deutlich gezeichnet, auf den Steinen, grüne Trauben.

Heim sah nachdenklich auf den Weg; Andrees, nach seiner Weise, hielt den Kopf hoch und sah um sich; doch waren seine Bewegungen nicht mehr so ruhig wie früher, sie hatten etwas Rasches, Ruckweises bekommen.

Sie schwiegen beide. Seltene, schüchterne Vogelstimmen riefen sich Nachtgrüße zu.

Da traten links vom Steig die Weinstöcke zurück, und vor ihnen stand, auf einer beschränkten Plattform, ein altes viereckiges Gartenhaus, dessen Thür geöffnet war.

Es war ein einziger Raum, von der Größe eines kleinen Zimmers. Die Seite gegenüber der Thür nahm eine hölzerne Bank ein, die mit grüner Ölfarbe gestrichen war; sie war gepolstert und schien als Schlafstelle zu dienen. An der rechten Wand stand eine Kiste, welche Andrees sofort wiedererkannte; sie hatte einst im Saal des Heidehofs gestanden. Der Rest des Raumes wurde von einem runden Tisch eingenommen.

Wenn der Bewohner dieses Landhauses mehr als drei Gäste bei sich sah, mußte er die drei Bücher, die auf der Kiste lagen, auf den Tisch legen. Von diesen drei Büchern versprach das eine, seine fleißigen Leser in die gesamte alte Philologie einzuführen, das zweite war ein Tagebuch, das dritte waren Uhlands Gedichte. In das erste hatte er nicht hineingesehen, das zweite hatte nur leere weiße Blätter und wurde als Unterlage für den Spritkocher gebraucht, und den Inhalt des dritten kannte Heim auswendig.

Strandiger sah sich kopfschüttelnd um: »Kann man hier eine Tasse Kaffee oder dergleichen bekommen?«

»Sofort!« sagte Heim und stellte den kleinen Spritkocher auf die rotbunte Decke des Tisches. Andrees beobachtete jede seiner ungeschickten Bewegungen.

Die Flamme schlug unten durch.

»Ist die Decke feuerfest?«

»Die Maschine steht sonst auf der Kiste,« sagte Heim und suchte in dieser Kiste die Kaffeetüte.

»Jetzt brennt die Decke.«

Heim drehte sich um und gab der Maschine einen Hieb mit der flachen Hand, daß sie, anstatt ein wenig beiseite zu rücken, sofort samt Topf und Wasser auf den Fußboden flog. Dort fuhr der laufende Sprit fort zu brennen. Nun brannte es an zwei Stellen, und Heim stand dazwischen.

»Wenn du es brennen lassen willst,« sagte Andrees, »müssen wir allmählich hinausgehen.«

Da besann sich Heim und schlug mit seinen großen Händen auf die brennende Decke; ward auch bald Herr über das andere Feuer.

»Komm,« sagte Andrees, »wir wollen uns draußen auf die Bank setzen, der Mond geht auf über dem Thal. Ihr habt hier eine hübsche Gegend ... hast du etwas Trinkbares?«

»Eine Karaffe mit Wein.«

»So komm!«

Sie setzten sich draußen auf die Bank, den Wein zwischen sich. Dann und wann nahmen sie einen Schluck. Ein Glas war nicht vorhanden.

»Wir haben uns fünf Jahre nicht gesehen,« sagte Andrees ... »Wie weit bist du?«

Heim stützte die Ellbogen auf die Kniee und blickte über das weite Thal. Mit seinem hellen, krausen Haar und Bart und seinen starken, großen Zügen, wie er so scharf und doch träumend in das von Mondlicht durchglänzte Dunkel nach Süden schaute, da glich er einem jener reisigen Germanen, die einst von diesen Höhen aus nach Süden sahen, wanderlustig, sehnsüchtig nach der Fremde, die sie nicht kannten, die ihr Unheil wurde.

»Wie weit ich bin?« fragte er verlegen. »Ich weiß überhaupt nicht, ob ich irgend wohin zielen muß.«

»Dann erlaube eine Frage, mein Sohn! Wieviel hat dir dein Vater hinterlassen?«

»Ich lebe sehr einfach, der Heidehof trägt es noch.«

»Meinst du... Na, trotzdem! Du wirst doch irgend etwas erreichen wollen. Was treibst du?«

»Ich lese... ich wandere.«

Da lachte Andrees ärgerlich auf: »Ich habe zwei Briefe bekommen,« sagte er; »einen von Maria Landt, einen von Telsche Spieler. Bist du nicht neugierig?«

»Ich kann mir denken, was in Telsches Brief steht.«

»So? Dann brauche ich es dir kaum zu sagen. Sie schreibt: Die Sparkasse sendet dir noch für ein Halbjahr Geld. Der Heidehof ist bis an den Schornstein voll Schulden, und dieser Schornstein wackelt schon.«

Da biß sich Heim auf die Lippen, wandte aber die Augen nicht vom Thal ab: »Dann muß ich etwas anfangen.«

»Examen machen?«

»Das ... das kann, kann ich nicht! ... Was für eins?«

»Das müßtest du selber am ehesten wissen! Aber ich glaube allerdings, daß du das nicht kannst! Kein Heiderieter machte je ein Examen, machte je etwas fertig ... Mein Rat ist: Du gehst nach Haus und übernimmst den Heidehof.«

»Niemals! Ich danke! Ich werde etwas finden. Irgendwo in der Welt! Ich gehe ins Ausland.«

»Maria Landt schreibt auch an dich.«

»Die singt wohl dasselbe Lied?«

»Aber in anderm Ton. Ich habe dir den Brief auf den Tisch gelegt. Du kannst ihn nachher lesen.«

Sie schwiegen eine Weile. Ihre Gedanken waren im der Heimat.

»Sag mir, Andrees, wie stehst du zu Maria Landt?«

»Zu Maria? Sie schreibt sehr verständige Briefe. In der ersten Zeile steht: Deine Mutter wird alt und ist fast blind. In der zweiten: Die Häuser im Eschenwinkel fallen morgen um. Dann kommt wieder die Mutter, dann wieder der Eschenwinkel.«

»Du warst auch in den fünf Jahren nicht zu Hause?«

Andrees hob die Schultern: »Was soll ich daheim? Einmal war ich da, vor drei Jahren. Maria war verreist. Ich bin für diese beschränkten Verhältnisse nicht geschaffen. Ich gehöre in die Großstadt. Aber dir will ich was sagen, mein Junge: Du mußt den kleinen Besitz verwalten, wie alle deine Väter. Du gehörst in die Heimat.«

Heim wurde unruhig und wollte aufstehen.

»Sei still! Ich denke nicht gering von dir. Das weißt du! Ich habe aber immer gewußt, daß es so kommen würde. Die Heiderieter taugen nicht in der Fremde. Wenn je etwas Tüchtiges aus dir wird, so wird es in der Heimat sein, zwischen Wald und Strand. Da gehörst du hin, nach deinem Herzen und nach deiner Kraft. Da kannst du vielleicht einmal verwerten, was du in der Fremde gesehen und gelernt hast.«

Da stand Heim auf und trat einige Schritte vor und sah über das Thal. Von allen Abhängen stieg in dunstigen Wolken der Tau in die Tiefe.

»Ich kann dies schöne weiche Land nicht verlassen,« sagte er leise, »es ist mir dort oben zu öde, zu kalt. Menschen und Land, alles ist so eben, so weitläufig, so fern.« Er wandte sich um: »Warum gehst du nicht in die Heimat?«

»Ich? Ich gehöre in die Stadt.« Er lachte auf:

»Wenn ich an diese Maria Landt denke, diese stille langsame Heilige! Daß ich sie damals gern hatte! Aber so ist es. Wenn man nichts anderes sieht und haben kann, greift man nach dem einzigen, was da ist ... Erinnerst du dich meiner Cousine, der Schwester von Franz Strandiger?«

Heim schüttelte den Kopf: »Wo ist Franz?«

»Er wird Landmann. Der Comptoirstuhl war ihm zu hart und das Zimmer zu eng; er ist irgendwo in Ostpreußen auf einem Gut... Aber diese Lena Strandiger, seine Schwester, möchte ich einmal mit Maria Landt zusammen führen. Das wär' ein guter Scherz! Größere Gegensätze giebt es nicht.«

Heim sah auf den Freund, und im Mondlicht erkannte er deutlich, was er im Ton der Stimme gefühlt hatte, daß Andrees Strandiger andere Augen bekommen hatte. Es waren wohl noch stolze, schöne Augen, aber sie waren nicht ruhig, nicht mehr rein. Und das gab seiner Seele einen Stoß; er dachte daran, daß er nun ganz allein auf der Welt stände: Ich hab' jetzt keinen Freund mehr!

Er wurde ganz still.

»Ich geh' mit dem Gedanken um,« fuhr Andrees fort, »den Strandigerhof zu verpachten. Die Frauen können den oberen Stock bewohnen und haben sich nicht mit der Verwaltung zu plagen. Ich bleibe dann in Berlin und sehe mir die große Welt an. Wozu hat man das Geld?«

Heim sagte nichts. Er hatte über diese Dinge noch nicht nachgedacht. »Wozu hat man das Geld? Um sich des Lebens zu freuen! Natürlich! Dazu hat man Geld, Land, Leute! Hätt' ich nur Geld!« Er raffte sich aus seinem Sinnen auf. »Wie lange bleibst du hier?«

»Lena ist mit ihrer Mutter in Stuttgart geblieben. Wir reisen morgen nach der Schweiz weiter.«

Andrees stand auf. Auch Heim erhob sich.

»Ich machte diesen Abstecher zu dir, um dir Marias Brief zu bringen, und um dir ans Herz zu legen: Geh' nach dem Heidehof zurück. Dort bist du an deinem Platz.«

»Nie!« sagte Heim und schüttelte trotzig den krausen Kopf. »So verlassen und verloren soll ich wieder in die Heimat kommen? In die weite Welt will ich gehn!«

Andrees reichte ihm die Hand: »Du bist dein eigener Herr. Thu', was du willst. Ich mutz gehen. Ich finde den Weg zur Stadt allein. Sagt man nicht hier zu Land: Grüß di Gott? Grüß di Gott, Heim!«

Heim hielt die Hand noch fest und wollte sagen: »Bleib' noch bei mir! Wir sind ja von Kind an die besten Freunde.« Aber Andrees wandte sich ab, und wieder, beim letzten Blick, erkannte Heim das Fremde in des andern Augen. Da ließ er die Hand los.

Eine Weile stand er vor der Thür und hörte auf die Schritte; sie kamen immer mehr aus der Tiefe. Immer ferner klang es: tipp, tapp ... Nun nichts mehr ... Alles still.

»So ... das ist aus ... ganz aus.«

Er schüttelte verwirrt den Kopf, sah über das Thal, kehrte sich um und trat, von seinen Empfindungen hin- und hergerissen, in die Hütte.

Also in die Welt hinein! Ein fahrender Mann, ein Heimatloser!

Da sah er auf dem Tisch den Brief liegen und griff danach als nach etwas, das ihm noch traut und bekannt war. Und trat wieder hinaus und versuchte in dem blassen Mondschein, der die ganze Luft erfüllte, zu lesen. Es waren einige wenige Worte, auf die Rückseite einer handgroßen Photographie geschrieben: »Mutter Strandiger sagt: Die Heiderieter haben immer das Fremde geliebt und die Heimat versäumt; aber von Heim hätte ich es nicht gedacht. Wenn wir alle Heiderieter wären, wär' das ganze Land voller Dornen und Disteln, und kein Dach wäre gebaut. Die Heide ist bis ans Fenster gelaufen und aufs Dach gesprungen. Der Heidehof wird vergeblich nach seinem Sohn rufen und die Heide nach ihrem Herrn, bis ein unbrauchbarer Mann heimkehrt, der der Heimat nichts nütze ist.«

Heim kehrte das Bild um.

»Der Heidehof!! Der Heidehof!!«

Er sah ihn deutlich im Mondschein. Er trat beiseite, so recht mitten in den Schein, daß die Weinstöcke ihm auch nicht einen Faden des silbernen Lichtes nähmen: »Der Heidehof! Wahrhaftig ... Nein! Der Heidehof!... Nein. .. Seht doch!« Er erzählte es den Weinstöcken; er sprach laut wie einer, der am Wirtstisch leichten Herzens etwas erzählt: »Seht! Wahrhaftig, die Scheiben am Kröpel sind sämtlich eingeschlagen, das haben die vertrackten Jungs, die Banditen, gethan. Das hat sich fortgeerbt von der Zeit her, da ich es anfing... es ist ein feiner Wurf für einen Jung! Wer die richtige traf, bekam einen Piepenstummel. Ich glaube wahrhaftig, ich seh' hinter der Scheibe im Saal Telsche Spickers Gesicht. Die schalt. Wir aber saßen hinterm Wall und lachten.«

Er schüttelte staunend den Kopf. Um jedes Haar legte sich das Mondlicht und spielte mit jeder Locke.

»Ich kann lange nicht mehr durch die Thür... bei weitem nicht! Ich muß mich tief bücken, ordentlich verbeugen muß ich mich, wenn ich wiederkomme! Ich... möchte das alte Haus wohl mal wiedersehen, bloß um zu sehen, wie es aussieht... der Saal und die Grabkammer und die Küche mit dem offenen Herd, auf dem die schwarzen Pferdebohnen in der Pfanne spröckeln... Ein seines Essen! Es müssen aber Kartoffelstücke dazwischen sein, und sie müssen in Bauchspeck gebraten sein und ja, eigentlich muß der Westwind über die Heide fahren, so ein rechter nasser, kalter Westwind. Denn es ist ein Essen für Strandleute.«

»Da geht der Steig durch den Garten, und da ist die Lücke im Wall. Wahrhaftig, die Lücke ist dunkel, da wächst jetzt Heide, da geht kein Mensch mehr hindurch, um den Wald zu besuchen und den Wodansberg. Und unter der Sodenbank liegt noch immer das dritte Armband. Wer das bekommt, das möcht' ich wissen! Zweimal für Hutzliputz! Das dritte Mal für recht.«

»Wo mag der Reifen sein, den ich am Bach verschenkte? Ob der Arm noch immer so braun ist und die Augen noch immer so klar? Den Bach ... möcht' ich wohl wiedersehen, da ich vor ihr lag, und die Stelle, wo sie von mir Abschied nahm. Wo mag sie sein? Wo?«

Er schüttelte den Kopf und starrte mit krauser Stirn und finstern Augen auf das Bild in seiner Hand. Das Mondlicht lag darauf. Es war ihm, als wenn ihn mit ihren treuen Augen seine Heimat ansah.

»Und bald kommt die Zeit: Dann stiegen die Wildgänse über die Heide, morgens hin und abends zurück, im dreieckigen Zug und mit mißtönigem Schrei. Hab' vergeblich mit der Büchse am Waldrand gelauert.«

»Ob's wohl möglich wär', daß in der Heimat das Gute und Starke in mir – es ist etwas in mir – zu Tage käme, was hier nicht lebendig werden will? Groß ist ihre Natur, frisch wehen die Winde, weit schauen die Augen. Dort muß wohl einer fromm und stark und fröhlich werden.«

Und plötzlich brach es mit lautem Jubel aus seiner Seele: »Ich ... will nach Haus!« rief er laut. »Morgen will ich... morgen geh' ich fort!« Die Augen waren feucht, und die Stimme stieß an und stolperte über die Erregung, die in der Thür seiner Seele lag.

Er fand in dieser Nacht wenig Schlaf. Alle Gedanken, die seine lebendig gewordene Seele spannte, zielten auf das eine: Ich will nach Haus!

Am zweiten Morgen machte er sich auf, zu Fuß, den Rest seines Geldes in der Tasche, einen schwarzen Lederranzel, den er einst, vor fünf Jahren, auf St. Pauli in Hamburg gekauft hatte, über der Schulter, den Eichenstock in der Hand. So wanderte er zum letztenmal durch den Schönbuch. Im ganzen hielt er sich an den Lauf des Neckar, doch mied er größere Städte. Je weiter er kam, desto mehr wurde ihm gewiß, daß er auf dem rechten Wege war, desto fröhlicher, sicherer, mutiger wurde er. Das Gefühl einer guten, starken That hob seine Seele, machte seine Augen blank und seine Schritte stark. In diesen Tagen stiller Wanderung, stiller Einkehr, siegreicher Kämpfe, in denen die Krücke des Eichenstocks um das braune Handgelenk gewirbelt wurde, in diesen Tagen, in denen die Heimat vor ihm aufstieg, immer heller, immer deutlicher, immer schöner, immer weiter, in denen der Ernst des Lebens ihn ergriff, nachdem die Träume wie Schleier zerrissen waren, entstanden einige Strophen, die abends mit Blei in das kleine, schwarzgebundene Taschenbuch eingetragen wurden. Sie stehen hier verzeichnet, um zu zeigen, wie ihm zu Mut war.

Heimwärts

Schön bricht der Morgen an!
Es steigt die liebe Sonne auf,
Zu scheinen mir im Tageslauf.
Wohlauf: bergan!

Manch' Stunde schon verrann.
Und auf dem Weg die Sonne blickt
Und heiße Strahlen niederschickt
Und noch bergan!

Da ist die Höh' in Sicht;
Hier oben, wo die Buchen stehn,
Will ich nach meiner Heimat sehn.
Ich seh' sie nicht.

Hab' doch so fest gemeint,
Daß ich der Kirche Türmlein seh'.
Die Augen thun vom Schauen weh.
Hab' ich geweint?

Klar sinkt die Sonn' herab.
Am Himmelsthor die Engel stehn
Und auf den Wandrer niedersehn.
Es geht bergab.

Andere Strophen zeigen eine andere Art. Ihm wuchs der Mut.

Unter der Linde

Sitz ich unter der Linde und träume,
Raschelt es aus den Zweigen hernieder
Zu meinen Füßen:
Ein Blatt, das welk ist.

Ward ich traurig: Der Sommer im Glanze,
Unreif und grün das Korn auf dem Felde,
Und dieses Tote
Zu meinen Füßen?

Kommt's noch einmal von oben hernieder
Leis durch die Luft. Und steht auf der Erde
Wie hingeworfen:
Ein bunter Vogel.

Steht und wippt mit dem Schwänze und dreht sich
Zierlich und weich und neiget das Köpfchen
Hat blanke Augen,
Hat roten Kragen.

Lehn' ich still mich zurück und behaglich:
Grün ist das Korn und lang ist der Sommer,
Und bunte Vögel:
Ja – werd' ich fangen.

Am dritten Tag seiner Wanderung wollte er den Neckar verlassen und nach Würzburg hinüber gehen. Da hörte er, daß Heidelberg sich rüste, am zweiten Tag das fünfhundertjährige Stiftungsfest seiner Universität zu feiern. Da beschloß er, dem freundlichen Fluß bis Heidelberg treu zu bleiben und dann sich stracks nach Norden zu wenden. Unterwegs, auf der schönen Thalstraße, ließ er manchen Zug fröhlicher Studenten, manchen laubbekränzten Wagen, von dem bunte Tücher wehten, vorüberfahren. Er hielt sich allein, doch gab es fröhlichen Gruß und Gegengruß. Am frühen Morgen des zweiten Tags machte er in einem Wirtshaus Rast, das eine Stunde vor Heidelberg lag. Die große sonnige Stube war gedrängt voll von Gästen. Er ließ sich müde nieder, und mit seinen Gedanken in der Heimat, vergaß er sich und bestellte mit plattdeutschen Worten: »Brot unn Käs unn uck Wien!«

Da saßen seitwärts von ihm zwei frische Mädchen, deren Schuhe weiß bestäubt waren, wie die seinen. Sie waren von ihrem Vater begleitet, einem großen, ernsten Mann in Kniehosen, mit klugem Gesicht und dunklem kurzem Kinnbart. Als sie die Sprache des Fremden hörten, die sie nicht verstanden, legten sie die dunklen Köpfe und die heißen braunen Wangen aneinander und berieten über das Wer und Woher und meinten wegen des hellen Haars und der breiten Sprache, daß er wohl von Norden käme, ein Holländer oder ein Däne wäre, und zielten im Wenden der Köpfe auf ihn mit ihren Augen und schienen Neigung zu haben, noch vor Heidelberg ein artig Abenteuer zu bestehn. Der Alte fah ernst drein, trank behäbig seinen Heurigen und saß da wie einer, dem schmeckt, was er genießt, und dem es eine Kleinigkeit ist, die Zeche zu bezahlen.

Unterdes wurde Heim unter dem Feuer der lustigen Augen ein wenig warm. Und als der Alte zufällig hinausging - es wurde eine Koppel Fohlen vorüber getrieben -, da hielt er den Mädchen sein volles Glas hin und sagte lächelnd und nickend: »drink!« ... und sie nippten beide gar zierlich und kicherten und verdeckten nach Mädchenweise die Augen und sahen sich an und lachten und vergaßen nicht, nach ihm hinüber zu sehen. Und sie fanden alle drei Spaß daran, da sie verschiedene Sprache hatten, sich mit den Augen zu unterhalten. Nachher, als er aufbrach, traf er die kleinere im halbdunklen Gang, und vielleicht wäre es noch zu einer näheren Unterhaltung gekommen, wenn er sie nicht plötzlich, sich vergessend, in schwäbischer Mundart angeredet hätte, und wenn nicht die andere am andern Ende des Ganges erschienen wäre. Da lachten sie beide verlegen und gingen in die Wirtsstube zurück.

So zog er weiter, froh des kleinen Abenteuers und es in Gedanken nach allen Seiten ausbauend, in die Vergangenheit und in die Zukunft, als ein rechtes Luftschloß, mit hohen, waghalsigen Bögen, verschnörkeltem Zierat, und im goldgeschmückten Saal er und die beiden Schönen.

Je näher Heidelberg, desto mehr hörte das Grübeln und Sinnen auf. Seine Seele stand auf und stellte sich an die hellen Fenster. Der unterwegs auf den einsamen Steigen im stillen Wald ein Träumer gewesen war, wurde nun ein scharfsichtiger Zuschauer. Heidelberg war Bühne, und seine Einwohner waren die Spielenden.

Und welch eine große sonnige Bühne und welche echte und ehrwürdige Ausstattung und was für fröhliche Schauspieler! Diese alten gewundenen Straßen, diese alten Giebelhäuser, diese festfrohen Menschen in ihrer Landestracht, diese jungen, frischen Studenten, denen Festfreude und Festwein aus den Augen und auf den Wangen glänzte! Und auf dies alles herniederschauend, mit seinem erschütternden Ernst, seinen leeren Fenstern, seinen edlen Formen, stand das Schloß, gleich einem vornehmen grauhaarigen Greise, dem die rohen Feinde die glänzenden Augen ausstachen.

Und höher noch, über dem Schloß, über dem ganzen echt deutschen Bild, stand die deutsche Sonne.

Heim Heiderieter ging, wohin die Schaulust ihn trieb. Den Rundhut weit zurückgeschoben, beide Hände auf den vor sich aufgepflanzten Stock gestemmt, ließ er die bunten Festzüge an sich vorüberziehen, sein Gesicht dem Schloß zugewendet, das über den Häusern am Berge stand. Von allen, die an jenem glänzenden Tage diesen Festzug sahen, war wohl keiner tiefer erregt, fester umzaubert, als dieser einfache Student, dem zum erstenmal die Gestalten leibhaftig begegneten, die seiner Phantasie von Kindheit an erschienen waren. Als sie alle vorübergezogen waren, die bunten Gestalten deutscher Geschichte, und lauter Freude und frisches, volles, überschäumendes Leben sich durch alle Straßen ergoß, da grüßte er mit den Augen zur Ruine hinauf: »Wenn du doch noch Augen hättest, das Glück deiner Kinder zu sehen.«

Als die Dämmerung niedersank, überkam ihn der Hunger. Er hatte seit dem Morgen, da er draußen vor der Stadt etwas Brot und Wein zu sich nahm, weder an Essen noch Trinken gedacht. Heitere Musik und fröhlicher Klang von Stimmen und Gläsern führte ihn in eine Gartenwirtschaft. Er setzte sich an einen einsamen Tisch und ließ sich Abendkost vorsetzen. Als er satt war, lehnte er sich gemütlich zurück und schickte seine nimmermüden Augen wieder auf die Suche. Da saßen am nächsten Tisch Fremde, die nach der Mundart, welche sie brauchten, aus Mitteldeutschland waren, behäbige, gut gekleidete Leute mittleren Alters, Männer und Frauen, die einander ihre Festeindrücke mitteilten. Weiter zurück, mehr im Hintergrund des Garten, in dem eine Dunkelheit herrschte, welche nur durch Mond und Sterne ein wenig durchleuchtet wurde, während vorn im Garten Lichter brannten, saß um einen längeren Tisch eine Gesellschaft junger Leute beiderlei Geschlechts. Sie waren alle Teilnehmer des Festzugs gewesen und trugen noch jetzt ihre Verkleidungen. Ihre schweren, breitkrempigen Hüte, die bunten, golddurchwirkten, schweren Gewänder, die Schwerter der Männer und die breiten, goldenen Borten an der Frauenkleidung, dazu die fröhliche, frische Unterhaltung, darüber das Mondlicht zwischen den Bäumen, das alles gab ein Bild, das Heim Heiderieter still und lange mit offenkundigem Behagen betrachtete.

Es währte nicht lange, da fiel sein Beschauen der Gesellschaft auf. Fröhliche Menschen, wie sie waren, und aus Mitleid mit seiner Einsamkeit und weil er so zufrieden und vergnügt drein schaute, auch mochte seine stattliche, junge Kraft und sein frisches Gesicht mit dem krausen Haar und Bart den Frauen gefallen, schickten sie nach kurzer Beratung den jüngsten Landsknecht, einen schmucken Jungen, zu dem Fremden hinüber, unterließen auch nicht, mit Händen und Krügen und Gläsern zu winken. Da ging Heim hinüber und setzte sich unter sie und war, dank des Festrausches, der auch ihn erfaßt hatte, fröhlich mit den Fröhlichen. Und alle sahen gern in sein strahlendes Gesicht, das vom Licht des Mondes hell beschienen ward.

Ihm gegenüber saß eine vornehme Bürgerin aus der Zeit der Gründung der Universität, im Unterkleid von blauer Seide, in weitem, hellem Obergewand, mit goldener Borte besetzt. Die hohe Haube, welche sie im Festzug getragen, war ihr am Abend lästig geworden; sie trug ein leichtes Tuch um den Kopf, das in lebhaften türkischen Farben leuchtete. Man konnte mutmaßen, daß dies Tuch sich von den Kreuzzügen her auf dem Boden der Eichentruhe gefunden hatte und zu Ehren des Tages hervorgeholt war. Sie schien, ihre Rolle fortsetzend, ein Vergnügen darin zu finden, sich in steifen, altmodischen Redewendungen zu ergehen und ihre Züge durch das vorgeschobene Tuch zu verbergen, dessen Schatten über Stirn und Augen fiel. Sie war eine hohe, volle, sehr stattliche Erscheinung und trug die prächtige Gewandung mit all der Sicherheit und mit der großartigen und doch bequemen Haltung, welche dazu gehört. Neben ihr saß ihr Partner in seiner, silber- und goldgezierter Schaube und dunklem Barett; aber es gelang ihm nicht, ihr gleich zu scheinen. Seine Gestalt blieb trotz all seines Strebens, sich aufzurichten und eine gewisse stattliche Haltung zu gewinnen, dick, kurz und gewöhnlich, und er spielte neben der hoheitsvollen Erscheinung seiner Genossin eine untergeordnete, fast komische Rolle. Heim Heiderieter, von den andern nicht viel in Anspruch genommen, sah zu ihr hinüber, so oft er meinte, daß sie, in die Unterhaltung hineingezogen, seine Blicke nicht bemerkte. Aber er erkannte, daß auch sie auf ihn achtete. Doch lag es ihm sehr fern, diese vornehme Dame, die ihn mit zusammengezogenen Brauen aus dunklen Augen ansah, anzureden.

Da traf es sich, daß die eine Hälfte der Gesellschaft sich in besonders lebhafter Unterhaltung nach der einen Seite wandte, die andere nach der andern. Da legte die stolze Dame beide Arme auf den Tisch und fragte leise und doch mit einer Stimme, aus der Interesse, vielleicht Schelmerei klang: »Darf man den Fremdling nach seiner Heimat fragen?«

Er sah sie mit seinen blitzenden, tiefen Augen an und sagte im selben Ton: »Von meinem Hause aus seh' ich über das Meer.«

Sie beugte sich noch weiter vor und sagte rasch: »Die Nordsee?«

»Ja!« sagte er. »Nach Osten ist die Heide, nach Westen die Nordsee.«

»Heide und Meer! Wie schön!... Aber kein Wald? Gar kein Wald?«

Er meinte zu hören, daß ihre Stimme zitterte, aber er konnte von ihrem Gesicht nur leichte Linien sehen und von ihren Augen nur zuweilen einen dunklen Glanz, wenn sie den Kopf im Sprechen seitwärts wandte.

»Auch Wald!« sagte er. »Am Rand der Heide!«

»Aber keine Berge, keine Bäche?... Ich will sagen ...«

Er lächelte und sagte: »Einen Bach haben wir auch, ganz klein ist er.«

»Moos an den Seiten und silberweißer Sandgrund? Das ist köstlich.«

»So ist es!« sagte er fröhlich.

Sie schwieg eine Weile. Er wartete auf eine neue Anfrage. Gar zu gern hörte er diese weiche, tiefe Stimme, die zierliche Sprache dieser Gegend aus diesem Mund. Aber sie saß nachdenklich und bewegungslos. Ihre Hand lag fest um den Krug, der vor ihr stand.

Er blickte sie fragend an.

Da sah sie wieder auf und sah ihn an, und es war ihm, als wollte sie ihm in die Seele sehen, so lange verharrte sie still und unbeweglich. Deutlich erkannte er den feuchten Glanz ihrer Augen.

»Gehen Sie in die Heimat?« fragte sie leise, »oder kommen Sie daher?«

»Ich reise dahin.« Und nach der Weise zutraulicher Menschen und geneigt, nach langem, einsamem Wandern sich mitzuteilen, sagte er: »Ich wohnte in Tübingen und bekam plötzlich Heimweh und habe mich gleich aufgemacht, immer zu Fuß« – er sah auf seinen Stock und schüttelte ihn - »und wenn ich nun daheim angekommen bin, will ich auf einem kleinen Heidehof ein Landmann werden wie meine Väter.«

Sie schwieg eine Weile; dann nahm sie die Hand vom Krug und sagte mit leisem, klingendem Lachen: »Nicht die Heide allein zieht den Fremdling in die Heimat und der Bach und das Meer, sondern auch das Mädchen, die Braut!«

Er schüttelte lächelnd den Kopf: »Es wird dem Heidehof Mühe machen, mich allein zu nähren. Ich bin in der Fremde nicht reich geworden und in der Heimat arm.«

»Man ist reich, wenn man ein freundliches Herz hat. Was Sie draußen gesehen und erfahren haben, das müssen Sie nicht verschließen, wie viele thun, sondern es ausgeben. Freundlich muß man sein, Interesse muß man haben, dann ist man reich. Wissen Sie, daß ich Sie heute nachmittag schon gesehen, als wir durch die Stadt zogen? Sie trugen den Hut noch weiter im Nacken als jetzt, und es hat mich gekränkt, daß Sie mich nicht ansahen, sondern nach dem Schloß hinaufblickten. Sehen Sie, darum hab' ich Sie rufen lassen, als ich Sie dort am Tisch sitzen sah; ich hatte Interesse an Ihnen, mein Herr.«

»Sie hatten Mitleid mit mir.«

»Ja! Ich dachte: es ist schade. Der sieht aus, als wenn er sehr fröhlich sein könnte, und noch etwas anderes hab' ich gedacht...«

»Es war ein schöner Tag!« sagte Heim begeistert. »Aber der Abend war durch Ihre Güte noch schöner. Ich danke Ihnen.«

Die Gesellschaft erhob sich und machte sich auf. Der dicke Patrizier achtete in lebhafter Unterhaltung nicht auf seine Dame. Sie waren allein zurückgeblieben.

»Sie dürfen mich bis an das Ende des Gartens begleiten,« sagte sie, »mein Vetter hat mich vergessen und verlassen.« Und zu ihm aufsehend, meinte sie: »Sie hätten heut' am Zug teilnehmen sollen. Solche Gestalten, wie Sie sind, hatten wir nicht viele.«

»Wo hätten Sie mich hingestellt?« Ihm wuchs der Mut.

»Wo Sie jetzt gehen! Wir wären wohl ein stattlich Paar gewesen. Meinen Sie nicht auch? Seien wir es bis ans Ende des Gartens.«

Sie legte ihren Arm in den seinen, und er ging neben ihr. Es war das erste Mal in Heims Leben, daß er eine Dame am Arm führte, und er schritt stolz und sicher; denn dies war ja wieder einmal Leben, Wirklichkeit. Solange die andern dagewesen, war er aus der Verlegenheit nicht ganz herausgekommen, jetzt war ihm froh und leicht, jetzt fuhr ihm die Festfreude leicht und feurig durch die Glieder. Jetzt ging er mit dem Fest Arm in Arm.

Der Garten stand durch einen dichten Baumgang mit einer zweiten Straße in Verbindung. Durch diesen Baumgang gingen sie jetzt, beide schweigend, beide erregt. Keiner wagte etwas zu sagen, weil er fürchtete, er möchte durch ein unpassend Wort, durch einen Gedanken, welcher der Seele des andern in diesem Augenblick fremd war, das zarte Gewebe zerreißen, das Traumland und Wirklichkeit trennte.

Da, wo der Baumgang ein Ende nahm, und die Lichter der Nacht ein wenig durch die Blätter schienen, blieb sie stehen.

Und da fanden sich ihre Hände.

»Grüß' die Heimat!« sagte sie, »und die Heide und den Bach und den Wodansberg und deine ganze Jugend.«

»Was weißt du vom Wodansberg?«

»Du sagtest es ...«

»Geh' nicht fort von mir. Schenk' mir noch eine einzige Stunde ... Noch niemals war mir eine so vertraut und lieb wie du.«

»Noch niemals?«

»Nein, niemals ... Ja, ein Kind einmal ... das ist lange her. Die gehörte auch zu mir. Die hatte ein Herz wie deines. Es ist lange her. – Bleib' bei mir! Alle meine Gedanken sollen bei dir sein... Der Mond ist dein Wächter.«

»Ich trau' dir schon. Alles Gute trau'ich dir zu. Aber ich kann nicht, muß nach Haus. Grüß di Gott.«

»Ich halte dich fest.«

»Komm her!« Und bevor ihm klar ward, was sie wollte, hatte sie sich an ihn gedrängt und ihn herzlich geküßt. Dann hielt sie ihn zurück und stand gleich hinter der Pforte und sagte: »Ich bitte, denk' nicht schlecht von mir.«

Heim Heiderieter lehnte noch eine Stunde an der Pforte und sah die dunkle Straße auf und nieder.

In derselben Nacht zog er weiter nach dem Norden, mit glücklichen Augen.

Je weiter er wanderte, desto deutlicher zeigten sich wieder die alten Bilder, die einst dem Knaben erschienen waren, der im Heidekraut träumte. Aber sie hatten sich verändert. Es waren nicht mehr fremde Gestalten; sie kamen nicht mehr aus der Fremde, sie zogen auch nicht in die Fremde, große Thaten zu verrichten; sondern es waren Kinder der Heimat, die der Heimat zu dienen suchten, ihrer Not sich erbarmten und an ihrem Glück sich freuten. Sie ritten über die Heide und stellten die erste Hütte an ihrem Rande auf, im Angesicht des Meeres, und sie stiegen den Abhang hinunter, neues Land zu erobern. Deiche wurden gebaut und vom heulenden Sturm zerrissen. Aber sie verzagten nicht; sie gingen wieder an die mühselige Arbeit, bis weit ins Watt das grüne Land sich dehnte.

So war der Wanderer schon in der Heimat, träumte im Heidekraut, wanderte durchs Watt und wähnte, über alles Fremde und Unwahre in seiner Seele Herr geworden zu sein.

Als er, den Harz zur Rechten, nach Hildesheim hinunterstieg und die weite Ebene vor sich sah, faßte ihn die Ungeduld. Er gab das Wandern auf und fuhr mit der Bahn nach Norden.

Abends mit dem letzten Zug kam er in seine Stadt und ging durch die dunklen Straßen nach dem Markt hinauf. Aber ohne den Entschluß zu fassen, bog er bald rechts ab und stand an dem eisernen Gitter und starrte über den Turnplatz auf das hohe, stille Gebäude des Gymnasiums und ging in Gedanken nach dem Markt. Da an der Südseite? Was läuft da mit langen Schritten und verschwindet in der nachtschwarzen Papengasse? Heim steht und horcht.

»Still! Das war ein Sekundaner! Zu meiner Zeit hatten sie Hosen an, die ihnen zu kurz waren. Das ist anders geworden. Aber dies ist geblieben: er verschwand in dieselbe Thür, in die vor acht Jahren Heim Heiderieter verschwand.«

»So will ich heute zum letztenmal ein leichtsinniger Mensch sein.« Und Heim ging hinter dem Sekundaner her in die Papengasse.

In der Freude des Heimatsgefühls blieb er bis nach Mitternacht. Gegen Morgen - es war eine stille, schöne Augustnacht - kam er durch sein Heimatdorf. Er ging, den Kopf gesenkt, die Stirn kraus; der Stock stieß hart auf die Steine.

Das ist das alte Haus.

Der eiserne Klopfer schlug hart gegen die Thür.

»Telsche Spieker, wach auf! Ich bin wieder da!«

»Wer denn?«

»Heim Heiderieter.«

Eine Weile ward es still.

Im Osten überm Wald erschien langsam das erste Morgenrot; der alte Pellwormer, der Nachtwächter, der so sehr stottert, machte vom Strandigerhof her, am Wehl entlang, seinen letzten Gang und sang mit seiner schönen, hellen, etwas zittrigen Stimme:

Dee Klock hett veer slahn.
Beer hett dee Klock:
Der Tag vertreibt die finstere Nacht.
Ihr lieben Christen! Seid munter und wacht
Und lobet Gott den Herrn!


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