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Siebentes Kapitel

Das neue Jahr war da, und die Menschen waren hineingegangen, gerade so wie die Kinder vom Eschenwinkel auf das junge Eis des Wehls gingen. Die Jungen von Dwenger, welche immer voll Übermut und Leichtsinn sind, hatten schon in der Morgendämmerung einen Glitsch gemacht, quer über die Ecke in das Reth hinein, auf Geratewohl. Das hatte gesaust, gekracht, geschwirrt und einige blutige Risse gegeben. Aber sie waren Helden; und das war die Hauptsache. Die Kinder von Schütt trippelten mit bläulichen Nasen und die Hände bis zum Ellbogen in den Hosentaschen am Ufer hin und her, zeigten einander durch das helle Glas die dunkle, unheimliche Tiefe, schüttelten den Kopf über die Dwengers und wagten nicht, einen herzhaften Schritt vorwärts zu thun. Gegen elf Uhr erschien Lehrer Haller. Da gingen Kleine und Große, Beherzte und Bange hinter ihm her, der voranging. Stattlich schritt er dahin – er wog damals gegen zweihundert Pfund – dem Weltlauf nicht unähnlich, den starken Gang des Schicksals versinnbildlichend.

Dreißig Tage lang zogen die Kinder in den Spielstunden die Düne hinunter, und jedesmal, wenn sie aus der Schulthür traten, mußten sie die Hände über die Augen legen, so blendend stand die Sonne über dem weißen Land.

Also waren diese dreißig Tage voll Sonnenschein und fröhlichem Kinderlärm.

Aber Heim Heiderieter machte ein finsteres Gesicht. Er sah sein Hauswesen verfallen. Sein Viehstand hatte keine Pflege, er selbst keine Gemütlichkeit. Er suchte eine Haushälterin. Da er aus dem Dorfe oder aus der nächsten Umgegend keine haben wollte, so hatte er eine Anfrage in der Zeitung erlassen; aber er hatte nichts Passendes gefunden. Aber doch sollten die dreißig Tage Sonnenschein auch noch auf Heim scheinen.

In den letzten Tagen des Januar bekam er ein Schreiben von der Frau Möller, die früher den Mönchshof besaß, jetzt aber in ihren alten Tagen am Marktplatz in der Stadt, schräg gegenüber dem Mönchshof, wohnte und aus dem Fenster sah, ob sie etwa jemandem helfen könnte. Heim Heiderieter aber war ihr Liebling gewesen, schon damals, als er ein Sekundaner war. Sie hatte ihn ein wenig bemuttert, ihn oft satt gemacht, ihn später zuweilen gescholten und ging in der letzten Zeit mit dem ernsten Gedanken um, ihn zu verheiraten; denn sie hatte ihn im Laufe des Winters allzu oft gesehen, wie er vom Mönchshof her mit seinen flinken Braunen über den Marktplatz fuhr. Sie kannte die Schwäche seines Geldbeutels ebenso genau, wie die seines Charakters.

Also diese Frau Möller vom Mönchshof, die in der ganzen Landschaft wegen ihrer saubern, runden Erscheinung, wegen ihrer feinen Klugheit und ihrer tüchtigen, hilfsbereiten Art bekannt ist, schrieb an Heim, daß sie glaubte, ein Mädchen gefunden zu haben, die bei bescheidenen Ansprüchen seinem Hausstand aufs beste vorstehen würde. »Denn viel, lieber Heim, kannst Du nicht erwarten. Dein Hausstand ist etwas mager, und Du hast einige Fehler.« So schrieb die Frau.

Da spannte Heim seine Braunen an und fuhr durch all den Sonnenschein und den blendenden Schnee nach der Stadt. Nachdem er im Mönchshof wegen der Kälte zwei Glas Grog getrunken hatte, ging er in bester Stimmung, mit so recht sichern, stolzen Schritten über den Marktplatz, grüßte nach dem bekannten Fenster hin und trat in die gemütliche, warme Stube.

Und zuerst, wie es hier zu Lande Brauch ist, sprach die bewegliche, runde Frau von anderen Dingen, von ihrem Einzigen, dem Christian, der draußen am mitten Knee den großen Geesthof hat, vom letzten Freitagsmarkt, von der letzten Wäsche und vom Torfbauern, der ausgeblieben war. Dann stand sie mit einem Male auf, öffnete die Thür und rief nach der Küche hin:

»Eva! Kommen Sie herein! Der Herr Heiderieter ist da!«

Und gleich erschien in der Thür, das klirrende Theebrett in der Hand, ein großes, starkes, braunes Mädchen mit einem kräftigen, runden Kopf und schönem, dunklem Haar, wohl über zwanzig Jahre alt. Sie hatte eine braune Sammetbluse an mit niedrigem Kragen und schmaler, weißer Halskrause und einen schwarzen Rock. Heim weiß das noch heutigen Tages.

»Siehst du, Heim?« Heim sah allerdings. »Dies ist Eva Walt. Die hat wohl Lust, dir den Hausstand zu führen.«

Das Theebrett stand, und Eva Walt, deren Gesicht vom Fensterlicht abgewandt war, machte mit gesenkten Augen eine kleine Verbeugung gegen Herrn Heiderieter. Der war stumm.

»Wollen Sie nun ein paar Kuchen bringen, Eva? Ich will sehen, ob er davon ißt. Es ist ein gutes Zeichen, wenn Herren ein Stück Kuchen nicht verschmähen. Unsolide Leute essen keinen Kuchen.«

Heim erholte sich: »Aber, Tante...«

Da war die Fremde schon wieder da und bot ihm den Teller. Er nahm und sagte zögernd: »Ich kann mir nicht denken, daß Sie in meinem einfachen Haushalt und in der Einsamkeit des Dorfes ... und dann die viele Arbeit...«

»Warum nicht? Weil sie sauber aussieht?«

»Wo ist Ihre Heimat, Fräulein Walt?«

»Aus der Gegend von Marburg bin ich, Herr.« Sie hatte eine weiche, tiefe Stimme.

Heim lehnte sich in den Stuhl zurück und versuchte eine ruhige Haltung zu gewinnen. Wenn einer eine Haushälterin sucht, muß er einen gesetzten Eindruck machen: »Ich weiß nicht, ob Sie sich richtig vorstellen, wie das Leben und die Arbeit auf einem Hofe ist, wie ich ihn besitze.«

»Glaubst du, daß ich ihr nicht haarklein erzählt habe, wie es bei dir steht und geht?«

Da biß Heim tief in den Kuchen.

»Frau Möller hat mir alles erzählt, Herr: die Lage des Hofes, die tägliche Arbeit. Nicht wahr, Sie haben einen jungen Knecht, der hier und da zur Hand geht? Es sind sechs Kühe zu melken und zuweilen ißt ein Tagelöhner mit am Tisch. Ich glaube wohl, Herr, daß ich Ihrem Hause vorstehen könnte, wenn ich Sie nur im Anfang um Rat fragen dürfte. Ich kenne wohl die Arbeit, die auf einem Besitz zu thun ist, wie Sie ihn haben; aber ich kenne die hiesige Lebensart nicht.«

Heim holte tief Atem: »Ehrlich gesagt, Fräulein, ich begreife nicht, wie Sie dazu kommen, in so einfache Verhältnisse zu gehen. Sie haben Bildung und Lebensart genug, um in der Stadt Ihr gutes Brot zu finden. Was wollen Sie auf dem Lande, in meinem einfachen Hause?« Er richtete sich ein wenig auf: »Ich fürchte, Sie werden mir mein Haus gemütlicher machen, als ich gewohnt bin, und Sie werden bald von mir fortgehen, weil Ihnen die Arbeit zu groß und das Haus zu still ist.«

Nun sah sie ihn zum erstenmal an. Kluge, dunkle Augen blickten mit ernstem Ausdruck auf ihn. »Ich bin ein einfaches Mädchen,« sagte sie, »und habe viel Hartes durchgemacht. Ich möchte stille, emsige Arbeit haben, alle Tage. Ich habe alles mit Frau Möller besprochen, kenne die Arbeit, weiß auch, welches Gehalt Sie zahlen wollen.«

Das war der Schwerpunkt. Heim atmete erleichtert auf und sagte: »Und du Tante, meinst auch, Fräulein Walt soll zu mir kommen? Sag' mir noch, wie kommst du denn zu der Bekanntschaft?«

»Eva war in Hamburg bei meinen Verwandten und suchte Stellung. Nun war mein Mädchen gerade krank. Da bat ich sie, mir auszuhelfen. So kam es.«

»Na, denn man zu! Du übernimmst die Verantwortung.«

»Gern, mein Junge, was Eva betrifft! Ich wundere mich, daß du so viel Umstände machst. Bin ich eine praktische Frau oder nicht?«

»Die erste von allen, Tante!« Er stand auf, und da das Mädchen an ihm vorüberging, reichte er ihr die Hand und sagte: »Ich hoffe, daß Sie es nicht bereuen.«

»Nein, ich bin Ihnen dankbar für Ihr Vertrauen. Ich gehe heute schon mit Ihnen, Herr!«

Es ist sehr angenehm, von einem so starken, schönen Mädchen in diesem ehrerbietigen Ton »Herr« genannt zu werden. Man muß aber das nötige Selbstbewußtsein haben.

Unterwegs, nebeneinander sitzend, unterhielten sie sich sehr gut. Heim führte die Zügel und das Wort. Er erzählte von der Entstehung des Landes und von der Geschichte der Menschen, die darauf wohnen. Sie hörte aufmerksam zu und sah in die Marsch hinein bis an das Meer. Er erzählte von seinen Bekannten, von Frisius und Haller, von den Witts und Landts, von Peter Nahwer, der nicht rauchen durfte, und von dem Pellwormer, der nicht sprechen konnte. Sie lenkte mit klugen Fragen wie mit festem Zügelruck den Wagen seiner Erzählung.

Er merkte, daß sie einen verständigen Sinn und ein warmes Herz hatte.

Da fing er an, in seiner gemütlichen, übertreibenden Weise von dem Heidehof zu sprechen: »Das Geestland,« sagte er, »liegt zu hoch. Es liegt so hoch, daß der Regen unter ihm hinweg zieht. Das Marschland liegt zu tief; es schaut nur in einigen schönen Junitagen aus dem Wasser. Für unten habe ich eine besondere Sorte hochbeiniger Kühe angeschafft, die wegen des Wasserreichtums und wegen Darwin immer langbeiniger werden. Für oben habe ich mir eine Herde Schafe aus der Lüneburger Heide kommen lassen. Nachdem diese Heide, wie Sie gelesen haben werden, kultiviert ist, suchten sie durch die Zeitungen eine Stelle im Vaterland, die mager und trocken genug für sie wäre. Ich war der einzige, der sich anbot.«

»Und der Heidehof?«

»Der Heidehof,« sagte er, »ist ein gewesenes Hünengrab oder ein gewesenes Kochloch. Man streitet sich darüber. Jedenfalls ist es ein Loch in der Heide, mit einem spitzen Strohdach darüber wie eine Kornhocke. Aus dem Stroh ist allmählich Heide geworden. Christoph Dwenger – Sie werden ihn kennen lernen und es ihm zutrauen – mähte in diesem Herbst Heide, mähte, sah nichts, ahnte nichts, bis seine Sense in meinen Schornstein schlug. Jetzt steht da eine Warnungstafel: ›Hier fängt Heim Heiderieters Hausdach an.‹«

»Sie haben studiert, Herr?«

Er wandte sich zu ihr und sah ihr in die dunklen Augen: »Ich bin überzeugt, daß Sie mich besser kennen, als ich mich selbst. Sie wissen alles von Frau Möller. Ja, ich bin auf der Hochschule gewesen, in Tübingen, fünf Jahre lang, aber da, gerade als ich irgend ein Examen machen wollte – so sagte Frau Möller doch? – da flog mir etwas ins Auge, daß mir das Land dort nicht mehr gefiel. Ich mußte nach Haus.«

»Und gehen nicht wieder fort?«

Er sah über das Dorf hin, das vor ihnen in der Senkung lag, und über die Heide nach dem Heidehof: »Ich will hier bleiben,« sagte er ernst, »und ich will versuchen, das kleine Erbe, das da in der Abendsonne liegt, und wenn ich sonst noch ein anderes habe, zu bebauen und auszubauen. Aller Anfang ist schwer,« sagte er seufzend und dachte an seinen Schreibtisch und an die vorjährige Kartoffelernte. »Sehen Sie den Heidehof? Das alte verständige Haus hat zur Feier Ihres Kommens die Sonne um Glanz und Schmuck gebeten; seine große Haube, weiß von Schnee, kleidet es gut, und die Augen, mit

denen es über den Weg sieht, funkeln von Sonnengold. Ich wünsche Ihnen in diesem Hause ein fröhlich Herz. Steigen Sie ab; wir sind zur Stelle.«

»Ich danke, Herr.«

Er sah ihr nach wie sie zur Thür hinaufging.

»Wenn sie nur nicht immer ,Herr' sagte!«

Die Sonne that noch einen langen, freundlichen Blick nach dem Heidehof; dann schloß sie ihr goldenes Auge und stieg ins Meer.

Eva Walt stand allein in der Stube, in der Telsche Spieler gewohnt hatte. Sie trat ans Fenster, öffnete es und sah über die Heide und schaute lange sinnend nach dem Wald hinüber und nach dem Wodanshügel, der sich davor erhob, weiß wie die Heide. Dann trat sie zurück, schloß das Fenster, sah auf die Blumen in der Fensterbank, auf die alten frommen Bilder an der dunklen Wand, auf das saubere, weiß überzogene Bett. Und als sie das alles gesehen hatte, setzte sie sich in den Stuhl am Tisch, sah noch einmal verlegen um sich, während ihr frisches Gesicht sich mit Rot bedeckte, legte beide Arme auf den Tisch, verbarg ihr Gesicht darin und weinte.

 

Dreißig Tage schien die Sonne hell auf den Schnee. Aber im Strandigerhof war das Wetter trübe.

Für Lena kam jeden Montag ein Bücherpaket aus Berlin. Dann war sie drei Tage lang wie verschwunden; nur zum Mittagessen erschien sie. Nach diesen Tagen ging sie mit geröteten Wangen und glänzenden Augen durch das Haus. Sie hatte Berliner Luft geatmet und war heiß dabei geworden. Sie sprach aufgeregt mit jedermann, wollte durchaus mit Andrees über die Heide reiten und machte den Versuch, Hinnerk Elsen aus seiner Ruhe zu bringen. Gegen Ende der acht Tage stand sie viel am Fenster und ging allein durch den Schnee, den Deich entlang, sah über das Meer, kehrte um, sah über die Heide, kam nach Haus und schloß sich ein, und man hörte sie weinen. Am andern Morgen fand Anna Witt die Staatskleider ausgebreitet, darauf waren die Thränen gefallen.

Am Sonntagmorgen stand sie mit heißen Augen vor ihrem Bruder: »Kannst du nichts thun, daß er mit uns nach Berlin geht? Fange irgend etwas an, daß er dieses Haus nicht mehr sehen mag, daß er mit uns fortzieht.«

Franz Strandiger fuhr mit der Hand über die Stirn, und seine Augen sahen finster zur Erde: »Ja, ja, ich will sehen, Lena. Ich habe auch einen Plan; aber ich muß vorsichtig sein, daß er sich nicht ganz von mir abwendet; denn es wird schwer halten, rechtzeitig die Pacht zu zahlen.«

Da verließ Lena Strandiger das Zimmer, und seine Mutter kam und setzte sich an seinen Schreibtisch und lernte in ihren alten Tagen die verwickelte Buchführung eines Gutsbesitzes und nahm die Brille ab und rief ihren Sohn und deutete mit ihren Fingern auf die Seite im Buch, wo die Reparaturen, Erträge und Zinsen des Eschenwinkels standen und sagte: »Die Seite muß leer werden, ohne Erbarmen!«

Als sie aber das Zimmer verließ, nachdem sie über die Pacht gesprochen hatten und über Verbesserungen, die nötig wären, sagte sie: »Wieviel Vermögen haben die Landts? Sagtest du nicht schon vor Jahren, daß jede vierzigtausend Mark hätte? Denke an den ersten November, Franz!«

Andrees Strandiger wanderte oft unstet über die Heide. Am Abend saß er, ein beschwerlicher Gesellschafter, in dem großen Wohnzimmer, in dem er einst mit Vater und Mutter gesessen hatte, und dachte über allerhand nach, am meisten über die Frage: Wie kann einer seine Heimat, ein Stück von seinem Leben und von seiner Seele, verkaufen? Es sei denn, daß die Not ihn in die Fremde treibt?«

Sein Geist ging bald diese Gedankenreihe: Ich habe den Hof verpachtet, weil ich mit Lena Strandiger ein Leben des Genusses führen wollte. Nun wohlan: hinaus in die Welt! Aber dann stand vor ihm auf dem Weg der Mann, von dem Frisius gesprochen hatte, und sagte: »Geh' du auch in den Weinberg!«

Dann wieder dachte er: Ich will Maria Landt bitten, daß sie meine Frau wird, mein Kamerad. Ich will lernen, wie sie zu denken, und zu leben, wie sie lebt. Ich will der Heimat dienen, und ein einfach Leben führen. Aber wenn er diesen Weg ein wenig entlang ging, dann stand da in den Sand geschrieben: »Lasset uns essen und trinken; denn morgen sind wir tot.«

Er mied den Heidehof und das Pastorat. Im weiten Bogen ging er auf stundenlangen Wegen um das Dorf über die Heide nach dem Deich und stand und sah und dehnte seine Brust und genoß die Luft: »Ich bin in der Heimat! In der Heimat!« Als er in der Fremde gewesen, hatte er sie verachtet, hatte er gespottet. Da er aber täglich in ihr träumendes, wehmütiges Gesicht sah, hatte er sie lieb und lieber. Sie breitete die Arme aus; strahlender wurden ihre Augen. Sie griff nach seinem Herzen und umschlang ihn mit ihren Armen: »Bleibe bei uns!«

Die Frauen oben lebten still für sich hin. Frau Strandiger verlebte den größten Teil des Tags in ihrem Lehnstuhl am Fenster. Sie war nun fast ganz erblindet; sie konnte nur noch unterscheiden, ob der Tag dunkel oder sonnig war. Sie saß da und horchte auf das Spielen der Kinder am Wehl. Das Strickzeug in der Hand wurde nie fertig. Es sank gleich wieder in den Schoß, als wenn eine Hand es hinunterdrückte, und als wenn einer sagte: »Laß nur!« Wenn sie angeredet wurde, fing sie gleich an, von ihrem Sohn zu sprechen, wie er in Sprache und Gang seinem Vater gliche und ebenso treu und tüchtig wäre. Nur waghalsig wäre er nicht; das Watt und Flackelholm würde er nie betreten. »Ich bin eine schwache Frau gewesen,« sagte sie, »aber er wird den Hof wieder in Glanz bringen. Wie weit ist er mit den Häusern im Eschenwinkel?«

Andrees erschien auf der Schwelle, er wollte mit Maria bereden, was sein Herz zerrieb.

»Nicht wahr, Andrees? du bringst Vaters Hof wieder in stand?«

Er nickte und sagte laut: »Ja, Mutter!« und trat an den Stuhl und strich mit der Hand über ihr weißes Haar und starrte auf den Wehl hinaus und wagte nicht, nach dem Tisch hinzusehen, an dem Maria Landt saß, und ging hinaus und hatte eine Wunde mehr im zerrissenen Herzen.

Niemand wagte der alten Frau zu sagen: »Der Hof ist verpachtet. Andrees geht nach Berlin.«

Franz Strandiger kam jeden Vormittag hinauf, um nach dem Befinden seiner Tante zu fragen. Oft aber vergaß er, mit der alten Frau zu reden. Er setzte sich Maria gegenüber und sprach mit ihr über tägliche Dinge in gleichgültigen Worten. Sie aber fühlte, daß er etwas von ihr wollte. Dann wurde ihr blasses Gesicht noch weißer, und sie stand auf und ging schweigend aus dem Zimmer. In ihrer Schlafstube schrie sie leise auf und lag auf den Knieen und sprang wieder auf und beugte sich am Tisch über das Buch, aus dem sie sich Trost und Rat holte, und fand ihn nicht und kam, von Unruhe und Angst getrieben, zurück, verstört im Gesicht und mit abwesenden Augen.

Dreißig Tage nach Neujahr fuhr der erste Frühlingssturm brausend über das Land. Am ersten Tag riß er den Kindern, die auf dem Wehl Schlittschuh liefen, die Mützen vom Kopf, er faßte sie im Rücken und jagte sie in die Rethstoppel am Ufer, wo sie zu Fall kamen. Am zweiten Tage verjagte er sie vom feuchtglänzenden Eise. Lehrer Haller stand barhaupt neben Heims Scheunthor, rief und winkte.

Nun blieb Ingeborg Landt allein auf dem Wehl.

Einmal ließ sie sich von dem starken, böigen Wind treiben, das andere Mal mußte sie gegen ihn an. Wenn sie sich treiben ließ, machte sie ein stilles, nachdenkliches Gesicht; aber wenn sie gegenanfuhr, zogen sich ihre Augen zusammen, und die Stirn wurde kraus, und sie legte ihre Brust mit Kraft vor. Ihre Augen waren ernst über ihr Alter, und sie sprach bei sich selbst.

»Maria weinte diese Nacht. Wenn er sich so viel um mich kümmerte, wie um Maria, ich wollte ihn schon fassen und halten; aber er sieht mich nicht an, ich bin ein Kind in seinen Augen ... Ich bin stärker und schöner und mutiger als Lena Strandiger ... Maria ist mutlos, wenn es ein wenig gegen den Wind geht. Dann wächst mir der Mut ... Sie weinte; aber ich ... ich dachte nach, wie ich den Gang der Dinge ändern könnte ... Kann doch nichts weiter thun, als ihm meine Liebe zeigen und der andern die Zähne ... Daß Maria ihn gewönne, könnte ich ertragen. Dann ginge ich fort von hier. Aber daß die andere ihn wegnimmt und achtet ihn nicht und sieht nach andern Männern ... Das ertrage ich nicht... Das soll er einsehen, daß ich stärker und mutiger bin als sie beide ... Meine liebe Schwester! ... Ach, sie paßt nicht zu ihm.«

Ihre Augen leuchteten, und ihre Wangen wurden heiß; so sehr brannte es in ihrem Herzen.

Als sie, die Schlittschuhe in der Hand, über den Hof ging und Franz ihr begegnete, lachte sie ihn an, nickte und sagte: »Gehen Sie noch mal zu Maria hinauf? Ich glaube, sie freut sich, wenn Sie kommen.« Als sie auf der Treppe Andrees begegnete, hielt sie ihn an, und obgleich er sehr finster aussah, sagte sie atemlos: »Ich mag noch nicht in der Stube sitzen. Es ist so schön draußen, so wild und frisch. Nimmst du mich mit?«

»Über die Heide!«

»O, das wird eine Freude!«

Und sie stürmte an der blassen Schwester vorbei: »Ich gehe mit Andrees über die Heide!« und sie knipste mit den Fingern nach Lenas Stube hinüber: »Ich gehe mit Andrees über die Heide.« Und sie gingen.

Es war gerade so wie damals, vor etwa acht Jahren, als er mit Maria ging. Nur daß damals schönes, helles Herbstwetter war und die Herzen der beiden Wanderer Kinderherzen waren. Jetzt wehte ein naßkalter, rauher Westwind hinter ihnen her. Sausend stieß er gegen die beiden, fuhr zwischen ihnen durch, warf kalte Regenschauer zwischen sie, füllte all die kleinen Mulden am Boden mit schmutzigem Schneewasser, daß sie auseinandergehen mußten, und schrie klagend und heulend von verlorenen Tagen und gegenwärtiger Not.

Sie waren beide still und hörten zu und beugten die Köpfe.

Am Wodanshügel kehrten sie um. Da schlug der Sturmwind gegen sie an und warf die nassen Fetzen von feinem zerrissenen, flatternden Mantel gegen sie. Da hoben sie die Köpfe und Augen. Das lag in ihrer beider Wesen, daß sie Mut bekamen, wenn es gegen den Wind ging.

Ingeborgs Augen blickten nach dem Deich hinüber; sie glänzten wie Stahl. Das Tuch, das sie um den Kopf hatte, wurde wie von einer vorbeijagenden Hand zurückgerissen. Dieselbe Hand warf Wasserperlen über das blonde Haar.

Da sah er sie an und erkannte wieder, daß sie ganz anders wäre als ihre Schwester. Maria war treu und schwach, diese war treu und stark.

War sie treu?

Er kannte sie ja gar nicht. Er hatte ja immer an Maria gedacht. »Magst du so mit mir gehen, gegen den Wind?«

Sie legte den Kopf zurück und sah ihn an, und er sah, wie sie schwer atmete.

Nach einer Weile faßte der Sturm sie fester an, riß ihre Kleider zurück und warf jedes Fältchen gegen ihre Glieder, der Sturm sauste und rüttelte an ihrem Körper und an ihrer Seele und rüttelte Gedanken hell wach, die in der Ecke geschlafen und unruhig geträumt hatten.

»Magst du so mit mir gehen?«

»Wohin gehen wir?«

»Immer weiter, Ingeborg! Dies ist die erste frohe Stunde in der Heimat. Fürchtest du dich nicht? Wirst du nicht müde?«

Sie lachte laut und bitter auf: »Ich fürchte mich nicht, aber ...« und sie streckte die Arme mit den geballten Händen vor sich hin, und ihre Zähne schlugen im hilflosen Zorn aufeinander.

Da fühlte er, daß diese ihm die Nächste war. Schleier zerrissen, Nebel wichen, Thore thaten sich auf, und er sah fern einen Weg und eine Hoffnung. »Was soll ich thun?« rief er.

»Was du willst ...«

»Maria sagt: Gottes Willen, Magdalena sagt: ihren Willen.«

»Deinen Willen!« sagte sie laut.

»Mein Wille reißt mich hin und her.«

»Du mußt Gottes Willen nehmen und deinen eigenen Willen, und mußt den Hammer des Muts nehmen und beide zusammenschlagen. Dann steht auf der einen Seite Gottes Bild und auf der andern deine eigene Schrift. Dann bist du etwas wert.«

Da stand er still und starrte sie an: »Woher hast du das, du bist noch so jung?«

»Ich habe über uns alle nachgedacht, warum wir im Elend sitzen. Maria fehlt der eigene Wille, dir fehlt Gottes Wille.«

»Das Herz kannst du gesund machen. Ich muß noch mehr mit dir reden. Wenn ich wüßte, daß du zu mir ständest ...«

»So frage mich doch, Andrees! Mache die Augen auf!« Sie schlug beide Hände vors Gesicht, die Flammen zu bedecken, die aus Augen und Wangen schlugen.

Da gingen sie schräg den Abhang der Düne hinunter.

Und unter der Düne, am Wehl, stand Maria neben Eva Walt, die Wasser holte. Und Maria sah von ungefähr auf und sah in das Gesicht der Schwester. Dann ging sie mit Eva Walt dem Eschenwinkel zu.

Der Sturm sprang heulend über den Deich, glitt sausend über den Wehl und warf sich gegen den Heiderand.

Ingeborg sah Andrees an: »Wird es nun wirklich Frühling?«


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