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Zweites Kapitel

Vierzehn Tage später kam Heim in Reimer Witts Begleitung von Flackelholm zurück. Er war dort fünf Tage lang gewesen. Sie hielten am Heidehof an, stiegen aber nicht ab. Von der einen Seite erschien Eva Walt, trat in ihrer raschen Weise an den Wagen und sah, ohne etwas zu sagen, mit ihren glänzenden Augen auf Heim Heiderieter. Da merkte er, daß sie in Sorge um ihn gewesen war. Mit bangen Augen hatte sie ihn gehen lassen, mit fröhlichen empfing sie ihn. Darüber wurde er sehr froh.

Aus der Schulthür kam Lehrer Haller, barhaupt, und fragte nach dem Ergehen der Flackelholmer. Heim konnte berichten, daß sein Freund seelisch tief gedrückt wäre. »Sie wissen,« sagte er zu Haller, »wie verschlossen er ist, so daß man nicht sagen kann, wie es in ihm aussieht. Noch arbeitet er nicht –« er zeigte auf das Herz – »aber er wird anfangen.«

»Wohin fahren Sie, Herr?« fragte Eva.

Da wandte er sich zu ihr, sah auf ihr blühendes, frisches Gesicht herunter und freute sich seiner schmucken Hausgenossin, und daß er nun wieder in ihrer freundlichen Nähe sein werde.

»Die Seeluft scheint Ihnen gut zu thun,« sagte er.

Sie nickte und sagte: »Ich habe auch gute Freunde und getreue Nachbarn. Die kleinen Witts haben mich besucht, und zweimal bin ich bei dem Herrn Lehrer zu Gast gewesen.«

»Wir luden unsere Nachbarin ein,« sagte Haller. »Wir haben uns gut unterhalten, und sie darf wiederkommen.«

»Wohin fahren Sie, Herr?«

»Reimer Witt ist hier abgestiegen und zu seinen Kindern gegangen. Ich aber will gleich nach der Stadt fahren und versuchen, ob ich im Auftrag von Andrees zwei gute Pferde kaufen kann, mit denen Reimer heute abend mit der Ebbe nach Flackelholm zurückfährt. Er drängt darauf, daß der Kauf heute vor sich geht; ich muß meine vier Gäule ja auch selbst brauchen.«

»Freilich!« sagte sie. »Sie haben noch viel Land zu bestellen!«

Er lachte und nickte nach beiden Seiten und fuhr zu.

Reimer Witt war abgestiegen und in seinem Hause verschwunden. Lauter Kinderlärm verkündigte seine Ankunft. Sie standen alle um Telsche Spieler, die sich mit hoch aufgekrempelten Ärmeln über den Waschtrog neigte. Nach zwei Minuten saß der Heimgekehrte im Lehnstuhl am Fenster, auf jedem Knie ein Kind, und sie erzählten, daß Heim Heiderieters Telsche große Mehlbeutel koche, und Gustav sagte: »Die neue Mutter soll hier bleiben!« Vor ihm stand eine große Tasse heißen Kaffees, und die Stube war sauber, und in die kleinen Fenster schien die Aprilsonne, und Telsche Spieler wusch weiter und that, als wenn es gar keinen Reimer Witt gäbe.

Als Heim gegen Nachmittag zurückkehrte, hatte er richtig zwei starke junge Braunen ans Wagenbrett gebunden. Am Spätnachmittag fuhr Reimer Witt mit allerlei Hausgerät und Lebensmitteln und mit einem erleichterten Herzen nach Flackelholm. Den kleinen Fritz nahm er mit; die andern durften die Schule nicht versäumen.

 

Als Heim Heiderieter müde und hungrig den Saal betrat, staunte er. Eva Walt hatte die sechs Tage benutzt, um das alte Haus einmal gründlich zu reinigen. Der Fußboden aus breiten Tannenbrettern zeigte wieder seine starke Holzbildung, seine mächtigen Fasern und Knäste; die beiden gewaltigen Deckbalken, rohbehauen, mit abgestumpften Kanten, hatten lange verlorenen Glanz wiedergewonnen. Die Bücher auf dem Schreibtisch hatten sich wie zur Begrüßung ihres Herrn stramm aufgestellt, und die zahllosen Büchlein und Zettel, die des Aufhebens wert waren, lagen sauber in blauen Aktendeckeln, nach ihrem Inhalt verteilt, aufgestapelt. Der Nähtisch der Mutter, der am Fenster zur Linken stand, hatte ein braunes Feierkleid an, und rechts von der Gangthür, auf der alten Schatulle, stand eine russische kupferne Theemaschine, im blanken Glanz, einst Großmutters Stolz und tägliche Freude, nun ein Altertum, des Enkels Stube zu schmücken. Zwei alte wertvolle Porzellanvasen, in Urnenform, mit wunderschönen, roten Rosen bemalt, standen zierlich und ehrerbietig zur Linken und Rechten der stattlichen Russin.

Heim Heiderieter stand kopfschüttelnd am Tisch, drehte sich um sich selbst und wunderte sich. Eva, die an der Thür zurückgeblieben war, sagte ein wenig verlegen: »Die hübschen alten Sachen habe ich in der Lade gefunden, die oben unterm Dach steht; und wenn Sie nachsehen wollen, Herr, dann finden Sie dort noch andere gute Dinge. Ich habe einige alte Bücher gesehen, die sehr eng und steil beschrieben sind; es ist eine feine Handschrift, so wie sie jetzt wieder in den Schulen gelehrt wird, aus dem siebzehnten Jahrhundert.«

»Woher wissen Sie das?«

Sie lächelte ein wenig: »Ich sah solche Schrift früher in Kirchenbüchern. Ich spielte als Kind zuweilen in eines Pastors Stube.«

Heim Heiderieter sah sie an, als wollte er sie erforschen, und sie senkte den Kopf. »Und die Lade,« sagte sie rasch, »hat wundervolles Schnitzwerk, die müssen Sie auch hierher stellen.«

Da lachte er hell auf: »Ich suche überall Altertümer; mein Vater that es vor mir; aber wir überzeugten uns nicht, ob wir im eigenen Hause solche Dinge hätten. Das sieht uns so recht ähnlich. Sagen Sie mir, woher haben Sie diesen praktischen Sinn?«

»Ich habe mir früh selbst helfen müssen.«

»Schon als Kind?«

»Ja,« sagte sie zögernd und sah ihn bittend an, als wenn sie sagen wollte: »Frage nicht weiter!«

Er trat an den Nähtisch der Mutter heran und öffnete von ungefähr die Deckelchen der einzelnen Fächer. Da fah er in dem einen Fach neuen schwarzen Zwirn liegen und zwei blanke Nadeln. Die Sonne schien freundlich in das Fenster. Der schönste Apriltag stand über der Heide; blauer Dunst umhüllte leicht den fernen grünen Wald. Hier hatte sie in seiner Abwesenheit gesessen, abends, wenn sie von der Arbeit müde war. Er wandte sich zu ihr. Sie stand verlegen am Tisch, auf den sie das Kaffeegeschirr gestellt hatte.

»Ich bitte Sie,« sagte er zögernd, »daß Sie diesen Nähtisch benutzen, an dem meine Mutter so oft gesessen hat.«

»Darf ich ihn in mein Zimmer tragen?«

Er sah rasch auf: »Wenn Sie wollen? Aber wenn Sie vielleicht gerne hier sitzen, an Mutters Platz, so ist es mir lieb; so sitzt dort doch wieder jemand, nachdem der Platz so lange leer gewesen, und Sie...« Er schwieg.

Sie sah ihn fragend an, wurde rot und deckte den Tisch weiter: »Ich danke Ihnen,« sagte sie.

Er ging in seiner Verlegenheit auf die Seitenthür zu. Da sah er, daß der Schlüssel in der Thür stak. Sie, die ihn immer beobachtete, kam ihm zuvor.

»Sie haben vergessen, den Schlüssel abzuziehen, Herr. Da habe ich auch dort rein gemacht. Es war sehr nötig.«

Er hatte die Thür schon in der Hand: »Das weiß ich,« sagte er: »Aber die vielen zierlichen Sachen! Und die Bezeichnung ist immer noch lückenhaft, und jede Lage hat ihre Bedeutung! Wenn Sie nur nicht allzu eifrig gewesen sind!«

»Ich glaube nicht, Herr! Ich legte jedes Stück wieder an seinen Platz, so sorgfältig, als es mit bloßem Auge möglich ist.«

Er sah zu ihr zurück, ob sie wohl das kleine, ein wenig spöttische Lächeln hatte; dann trat er in die lange Stube; sie folgte.

Da lag wirklich jedes Stück, wie es von alters her gelegen hatte: das steinerne Messer, mit dem unser Vorfahr das Wild ausweidete und am Winternachmittag den ersten Versuch machte, in den Speerschaft von Eschenholz rohen Kerbschnitt zu machen. Da lagen friedlich nebeneinander die spitzen, steinernen Pfeile, die vielleicht einst, da sie in der Waldlichtung von der Sehne schwirrten, feindlich gegeneinander flogen. Da lagen zwei zierliche, spitze Kieselsplitter, wie winzige Degen. Waren sie einst das Spielzeug, das der fleißigste, sinnigste Künstler in Steinwerkzeug dem Kind des Häuptlings in die Hütte trug? Oder waren es Nadeln, mit denen des Kindes Mutter das rauhe Gewebe zusammenhielt, das ihre Brust bedeckte? Da lag ein Schwert von Bronze, vier Finger breit, gerade, einen Männerarm lang, einst eine starke Wehr, in der Mitte entzweigebrochen. Hat der Rost es zerbrochen, der zweitausend Jahr an ihm seine stille Arbeit that, oder brach es im letzten Kampf auf der Heide? Und da lag offen auf dem Tisch eine goldene Armspange.

»Herr!« sagte Eva. »Unter dieser Armspange steht von Ihrer Hand... Sehen Sie? ›Drei goldene Ringe!‹ Es lag aber nur einer da. Nicht wahr?«

Heim duckte den krausen Kopf und starrte auf die gelbe Spange, als hätte er sie nie gesehen: »Ja,« sagte er, »das ist eine eigene Sache! Es sind wirklich drei Spangen vorhanden gewesen; die eine liegt hier; die zweite könnte ich wohl wieder bekommen; sie ist mir einmal verloren gegangen. Die dritte aber habe ich verschenkt!«

»Verschenkt?« Sie schlug leicht die Hände zusammen. »Das thut doch keiner, der Altertümer sammelt! Das soll nie vorkommen, daß diese Leute etwas verschenken?«

Er zog die Stirn kraus und sah sehr wichtig aus: »Damals war ich noch kein Kenner von diesen Dingen; ich war noch ein Knabe.«

»Nun, das ist schade! Das thut mir leid.«

Er richtete sich auf und sah sie an: »Nein!... Es thut mir nicht leid. Es verbindet sich mit jener Spange meine liebste Kindheitserinnerung.«

Da kehrte Eva Walt sich rasch um und trat an den andern Tisch. Er folgte ihr mit den Augen und wollte sich ärgern, daß sie ihn nicht fragte, was das für eine Erinnerung wäre; denn er hatte einige Neigung, sie zu erzählen. Aber der Ärger verflog gleich wieder, da sie ihm so schmuck und rein erschien, so passend in den Rahmen dieses alten, blitzblanken Zimmers. Denn sie hatte mit ihrem dunklen, gewellten Haar, das von Flechten rings umkränzt war, mit den braunen Augen und dem runden, starken Gesicht, in der losen, dunklen Bluse und in fußfreiem, schlichtem Rock so gar nichts von der zeitweiligen Mode, sondern schien bei all ihrer blühenden Jugend zu diesem starken, festen, gemütlichen Gemach zu gehören, das wohl dreihundert Jahre alt war, und zu jenen Vorfahren, die es gebaut hatten, denen das Haus und das stille Dorf und seine Feldmark und der Blick übers Meer alles gab, Nahrung, Kleidung und Weltanschauung.

Und wie er sie so ansah, da überlief ihn der heiße Wunsch, diese frische Jugend, diese selbständige, häusliche Natur für die Zeit seines Lebens an sich zu binden.

Als sie sich wieder zu ihm wandte, ruhten seine Augen auf ihr; und weil seine Augen, nach seiner ganzen offenen Art, nichts verbargen, wußte sie gleich, was er dachte. Eine heiße Verlegenheit schlug über ihr Gesicht, daß sie sich wieder abwandte. Nun schlug wieder ihm das Herz; und er wußte ebensowenig wie sie, was er sagen sollte.

Vielleicht wäre es schon jetzt zu einer Aussprache gekommen; aber ein Ton, der zu ihrem feinen Ohr drang, ein leiser, rauschender, klappernder Ton, ward ihr zur kurzen Rettung. Sie wandte sich um und ging eilend aus der Thür. Und weg war sie.

Auch er hörte nun das Geräusch, und als er es erkannte, lachte er ein wenig auf, halb ärgerlich, halb erleichtert, und brummte in den Bart: »Wenn der Theekessel nicht überkochte: was wärst du jetzt, Heim Heiderieter?«

Er sah noch einmal über die Tische, trat noch einmal heran, ergriff die goldene Spange, dehnte sie und wog sie in der flachen Hand und sagte: »Es ist das Richtigste, was ich thun kann.«

Dann ging er in den Saal zurück, setzte sich an den Schreibtisch und schrieb einige Gedanken nieder, die ihm auf Flackelholm gekommen waren. Aber er brachte nichts Rechtes fertig, immer fragte er: »Was treibt sie jetzt? Was denkt sie jetzt?« Immer sah er im Geist ihr verwirrtes Gesicht und suchte ihre Gedanken zu erforschen, besonders die Gedanken, die sie über ihn und über sein Haus und über den Eschenwinkel hätte, und ob sie hier wohl bleiben möchte.

Nun trat sie aus der Küche; nun ging sie nach ihrer Stube und schloß die Thür; nun machte sie sich hübsch für den Nachmittag. Nun steht sie in dem kleinen, saubern Raum, in den er vorige Woche so neugierig hineingesehen; nun steht sie am Fenster, kämmt ihr Haar, sieht über die sonnige Heide und denkt. An was? An ihre Kindheit? An ihre Heimat? An Heim Heiderieter?

Er stand vom Schreibtisch auf, unruhig, und wanderte mit langen, langsamen Schritten rund um den Tisch. Es war ganz still im Haus; der Knecht war draußen auf dem Felde.

Da, in diesem Augenblick, kam wieder der klingende, brausende Ton aus der Küche, und zum zweitenmal griff der Theekessel mit heißem Übermut in Heim Heiderieters Lebenslauf.

Einen Augenblick stand er zweifelnd still und horchte und hörte doch nicht, daß rasch und leise Thüren geöffnet wurden. Zischend flog das Wasser ins Feuer. Da lief er mit langen Schritten in die Küche. Und als er hineinsah, stand sie da am Herd vor den Flammen, von draußen kam der helle Sonnenschein, und ihr loses Haar lag auf den weihen Schultern.

Sie sah nicht zu ihm auf, sagte nur leise bittend: «Herr! ...«

Da war er schon wieder gegangen und stand gleich darauf im Saal am Fenster und schüttelte den Kopf und grämte sich, daß ihr das Peinliche widerfahren mußte, und daß sie nun wohl traurig wäre und vielleicht weinte. Aber er schalt mit keinem Wort auf den Theekessel.

Dann ging er hinaus über die Heide und grübelte über Vergangenheit und Zukunft und blieb zuletzt bei der Zukunft und sagte zu sich: »Es ist das Allerbeste, was mir widerfahren kann!«

Als er heimkam, saß sie im Saal an Mutters Nähtisch und stichelte eifrig und sagte, ohne den Kopf zu heben, eilig, als wenn sie ihm zuvorkommen wollte, mit leisem Lächeln: »Man sitzt fein hier an der seligen Mutter Tischlein. Es kommen gar gute Gedanken, und wenn ich aufschaue, kann ich bis an den Wodansberg sehen.«

Er antwortete nichts und ging einigemal hin und her, und wenn er ihr zugewandt ging, sah er mit unsicherm Blick auf sie. Sie aber hatte sich tief auf ihre Arbeit gebeugt und ihr klopfte das Herz. Sie wußten beide: Nun kommt gleich etwas Großes, das Schönste, was es giebt; aber keiner wagte es dem andern zu bringen.

Da ertrug sie es nicht länger; Bangen und Hoffen, Furcht und Liebe sprengten ihre Brust. Sie stand auf und ging auf die Thür zu. Und da begegneten sie sich, und er hielt sie an, daß sie ihn ansah.

»Eva!« sagte er, und es lag all seine Liebe, sein ganzes weiches Herz in dem kurzen Namen.

»Ich will ja!« sagte sie leise und mühsam, »alles, Herr! Ich bin Ihnen gewiß sehr gut!«

»Sag' nicht Herr!« Und indem er so bat, streichelte er ihre Hand und stand ehrerbietig vor ihr.

»Ich ...« sagte sie, »habe Ihnen etwas zu erzählen ... Wenn Sie mich dann lieb haben.«

»So sage es!«

»Heut' abend! Ich muß jetzt für Abendkost sorgen.«

Da ließ er sie vorübergehen und blieb allein zurück.

 

Nach dem Abendbrot, an dem der Knecht teilgenommen hatte, trat sie in den Saal und sagte mit leidlich klarer Stimme: »Wenn Sie einen Gang über die Heide machen wollen, Herr, ich habe jetzt Zeit!«

Er sprang gleich auf, nahm die Mütze vom Haken neben der Saalthür und ging neben ihr her. Als sie durch den Garten gingen, kam ihnen der Duft der Heide schon entgegen. Über der ganzen stillen Fläche lag der junge, keusche Hauch des Frühlings. Die Sonne stand groß, brennendrot über dem Meer. Es regte sich kein Windhauch; es war, als wenn alles, jedes Heidekraut, jeder Ginster, jeder Vogel zuhören wollte, da Eva Walt, noch einmal hochaufatmend, anhob, von ihrem Leben zu erzählen.

»Ich bin nicht so jung mehr,« sagte sie, »bald fünfundzwanzig und habe schon viel erlebt. Es ist nichts Böses, Herr, gar nichts, ausgenommen zwei Erlebnisse, über die Sie entscheiden müssen, ob da Böses drin liegt.«

Er nickte und sah sehr gedankenvoll und verständig vor sich hin. Sie sah seitwärts auf ihn, und fast schien es, als wenn fröhlicher, aber doch verlegener Spott um ihre Lippen zuckte.

»Ich bin armer Leute Kind! Der Vater war Zimmermann, nicht weit von Marburg, in einem kleinen Pfarrort. Er war aber dort nicht heimisch, sondern von Geburt ein Lipper. Die Armut seiner Heimat hatte ihn fortgetrieben. Er hatte in jenem Dorf Arbeit gefunden, bald auch eine Braut; später erwarb er sich ein Haus und kam wohl vorwärts. Ich erinnere mich aber des Vaters wenig. Die Mutter starb bei der Geburt eines Brüderchens, das mit ihr starb. Da war ich sechs Jahre alt. Bald danach verletzte sich der Vater mit der Sichel, mit der er am Bachrand das Gras mähte. Ich erinnere mich, daß er sehr krank wurde, und daß er am neunten oder zehnten Tag starb, und daß die Frauen ins Haus kamen und mich herzten und weinten, und daß ein Wort viel genannt wurde, das ich noch nie gehört hatte, das Wort: eine Waise. Ich erinnere mich noch, daß der Sarg und das Gefolge zwischen den großen Blättern der Linden verschwand; wir müssen neben einer schräg aufsteigenden Lindenallee gewohnt haben, und es muß gegen den Herbst gewesen sein, als ich den Vater verlor.

Nun waren da im Dorf Pfarrersleute, die hatten kein Kind. Denen ging mein Elend ans Herz, und am selben Abend, da der Vater auf dem Kirchhof zur Ruhe ging, ist sein Kind in dem Schlafstüblein der Frau Pfarrer zur Ruhe gegangen und ist wohl behütet gewesen durch acht Jahr. Da war ich vierzehn Jahr alt.

Da kam zum zweitenmal das, was wir ein Unglück nennen. Der Onkel Pfarrer ließ keinen Kranken im Dorf unbesucht und fürchtete sich nicht, gar nicht. Stattlich und frisch war er und noch jung, und die Leute sagten wohl mitunter, er hätte in Berlin bei des Kaisers Grenadieren müssen Hauptmann geworden sein. Kommt er also eines Tages wieder heim, hat einen Kranken besucht, der hat ein böses Fieber gehabt.«

Ihre Stimme brach, sie schüttelte den dunkeln Kopf, und eilige Thränen liefen über die Wangen.

»Mag nicht daran denken und kann's doch nimmer lassen. Es war zu traurig. Wie der starke Mann gegen die Krankheit angegangen ist, die ihn wie aus dem Hinterhalt so heimtückisch überfallen hat; wie durch alles Fieber bis zur letzten Stunde sein starker, fröhlicher Christenglaube durchbrach. Es ist ein Jammer gewesen und auch eine Freude. Und wie die beiden zusammenhielten, die Tante und er. Wie sie so große Augen gemacht, so große, als man ihr gesagt hat, sie selbst dürfe nicht bei dem Kranken wachen; es müßt' eine alte Frau sein. Ich war ja ein junges Ding, ein Unverstand, hab' nichts gethan, als geweint; aber als er gestorben ist und am vierten Tag sie und es zum zweitenmal hieß: ›Schnür dein Bündel, Madli,‹ da habe ich mir ganz unbewußt etwas aus dem leeren, stillen Hause mit weggetragen, den Glauben, dessen Macht ich in diesem Hause, erst acht Jahre lang, zum Schluß noch acht Tage lang, mit Augen gesehen und mit Händen gefaßt habe. Seit den Tagen, Herr, bin ich immer stark und fröhlich gewesen: ich fürcht' nicht Teufel, nicht Tod.

Ich mußte das Pfarrhaus verlassen. Ein Bündel gaben sie mir in die Hand, eine Kiste wollten sie mir nachschicken. Wohin? Ich hatte zwei oder drei entfernte Verwandte von Vaters wegen. Also wurde ich auf die Bahn gesetzt und kam nach einer langen Tagesfahrt nach Detmold, fah im Abenddunkel die Grotenburg, wurde freundlich von einfachen, fremden Leuten empfangen und schlief müde, vor Heimweh weinend, ein. Aber die Freundlichkeit der Verwandten dauerte nicht lange. Ich habe erst später erfahren, weshalb sie so bald hart gegen mich wurden. Der Onkel, meines Vaters Bruder, hat mir freilich nie ein böses Wort gesagt, aber auch kein gutes. Der Arme war ein schwacher Mensch und hatte seiner Frau zu gehorchen. Ich erfuhr später, daß sie erwartet hatten, ich hätte sowohl von meinen Eltern als von den Pfarrersleuten ein gutes Erbteil erhalten und würde damit ihrem Haushalt aufhelfen. Aber wenn etwas für mich da war, so war es bis zu meiner Mündigkeit festgelegt, und sie erfuhren bald, daß sie nichts davon bekommen würden, außer einem kleinen Kostgeld.

Nun begann eine Zeit, Herr, kurz, aber böse. Als der Frühling anbrach, sammelte der Onkel Männer und Frauen aus dem Dorf und, ohne daß ich gefragt wurde, gingen wir eines Tags alle nach Detmold, um von dort nach dem Norden zu fahren. Sie wissen, daß Tausende Lipper jährlich nach Norden und Osten fahren und als Ziegelbrenner in harter Arbeit, in kümmerlichen Hütten, bei beschränkter Nahrung den Sommer verleben. Wir fuhren also nach Norden.«

Sie waren zusammen beim Wodanshügel angekommen und gingen hinauf; er nachdenklich, die Lippen zusammengepreßt, mit Mühe an sich haltend.

Nun standen sie oben, und sie schaute sich um, als wenn sie eine Richtung suchte. In ihrem Gesicht arbeitete es gewaltig, und ihre Lippen bebten. Sie streckte die Hand aus, sah nach ihm zurück, die Augen voll Thränen.

»Da, Herr... auf dem Stein saß ich, und Sie standen hier!«

»Eva!« schrie er auf und griff mit den Händen an seinen Kopf und suchte ihre Hände und küßte sie und rief wieder: »Eva! Eva!« als läge mit einem Male in dem einen Wort alles, was er damals gefühlt hatte, und was ihn jetzt erschütterte, und seine Augen glänzten vor heißer Freude.

»Da!« sagte sie und legte das Armband in seine Hand.

»Behalte es ... es ist doch dein.«

»Nein! ... Nimm erst und hör' weiter; ich will rasch zu Ende eilen. Als wir in der Ziegelei ankamen, wurde mir ein Brief übergeben. Verwandte des Onkels sandten Geld und Gruß, sie hätten mich lange gesucht, ich solle zu ihnen kommen. So fuhr ich wieder nach dem Süden zurück. Wie ich da drüben, jenseits des Waldes vorbeifuhr, stand ich am. Fenster und versuchte, den Hügel zu sehen und den Bach und die Heide, und weinte, weil ich es nicht sah.

In der Nähe von Mainz kam ich in das Haus eines Landarztes. Ich wurde freundlich aufgenommen und mit dem gleichaltrigen Sohn als Kind des Hauses gehalten und wuchs heran und kam schon früh in eine geordnete, emsige Thätigkeit; und weil ich bald den ganzen Hausstand leitete und auch über den kleinen Landbesitz, über die Kühe und die Milch, die jeden Morgen in die Stadt geschickt wurde, und über den bedeutenden Gemüsebau die Aufsicht hatte und doch keinen baren Lohn empfing, glaube ich, daß ich dieser Familie nichts schuldig geworden bin. Als aber der Mann starb, wurde der Aufenthalt im Hause bald unleidlich. Die Mutter, welche gegenüber dem Gelde schwach war, fürchtete, daß der einzige Sohn seine Augen auf mich arme Waise würfe, und dieser Sohn war feige genug, mich geflissentlich zu meiden. Nur wenn ich einmal nötig war, wurde ich aus meinem einfachen Leben herausgerufen.

Da kam eines Tages der Sohn selbst, der damals Student war, zu mir, und nachdem er lange zwischen den Gemüsebeeten hin- und hergelaufen war, bat er mich, ich möchte bei einem großen Fest mitwirken, das seine Universität feiern wollte. Er studierte in Heidelberg.«

Heim Heiderieter sah verwirrt zu ihr auf: »In Heidelberg!«

Sie wehrte mit beiden Händen: »Ich ahnte wohl, daß seine Mutter von der Sache nichts wüßte, aber ich war jung und hatte eine heiße Neigung, gerade jenes Fest mit zu feiern. Ich sagte mir, da strömt eine Menge Studenten zusammen; und nach aller Berechnung, wenn der noch lebt, mit dem du einst auf dem Wodanshügel standst, und er hat in seinem alten Odysseus fleißig weiter gelesen, dann muß er jetzt Student sein.«

»Eva! Meine Eva!«

»Also! ... Und nun geschah es, als ich im Festzug – denn um neben dem eitlen Jungen als stattliche Bürgersfrau zu erscheinen, hatte er mich nach Heidelberg mitgenommen – als ich so dahinzog, mit den Augen suchend... da, da sah ich Sie, Herr... Sie, wie Sie den Kopf zurückwarfen und den Hut im Nacken hatten. Und an den Augen und dem hellen Haar erkannte ich Sie.

O! Wie habe ich genickt und gewinkt und mich umgesehen, so daß ich fast auffiel; aber Sie sahen über uns weg nach dem Ottheinrichsbau hinauf und übersahen die kleine Freundin vom Bach und vom Wodanshügel... Bleiben Sie da stehen, Herr!...

Als der Festzug sich auflöste, nahm ich mir fünf oder sechs lustige Leute, es waren fast lauter Bekannte, und zog mit ihnen von Garten zu Garten, von Gasthof zu Gasthof, und die gingen gern mit, denn ich war sehr lustig und aufgeregt und sparte nicht mit schönen Blicken und guten Worten, nur damit sie nicht überdrüssig würden.

Und endlich fand ich Sie ... Sehen Sie, Herr ... ich war sehr aufgeregt von dem rauschenden, herrlichen Fest, von dem stattlichen Kleid, das ich trug, von den vielen Augen, die fröhlich und feurig in die meinen schauten und nun... Sie, an den ich seit zehn Jahren dachte, der Knabe von der Heide, der mir einst in einer Stunde so nahe trat, der zu mir gehörte, gerade zu mir und zu niemand anderm, und ich auch zu keinem andern als nur zu ihm. Es ist in der Stunde Wunderbares in mir vorgegangen ... Ich hatte immer an den Knaben gedacht, ich hatte immer von dem langen Jungen geträumt; nur zuweilen hatte ich leise gedacht: er ist ein Mann geworden. Aber als ich Sie da stehen sah, so groß und stolz, größer als die andern, mit dem krausen Haar und Bart, da fuhr es wie heißes Feuer in mich, da ward in einem Augenblick aus dem Träumen Lieben. Wiedersehen und Abschiednehmen schüttelten in gleicher Weise meine Seele. Was sagen Sie?«

Sie stand gegen den Stamm der Birke gelehnt, die Augen voll Thränen, und wagte nicht, zu ihm aufzusehen.

»Was ich sage? Ein Sonntagskind bin ich!« brach er los. Er riß sie an sich und hielt sie wieder von sich: »Mein ist sie! Hört es, Wald und Heide!«

Nun sah sie endlich zu ihm auf, mit einem Blick so voll von warmem, reinem Glück, so voll von bräutlicher, nicht zu haltender Freude: »Nun bin ich dein,« sagte sie.

Im Hinuntergehen legte er die Spange um ihren Arm und schüttelte den Kopf und lachte und gebärdete sich wie ein Junge und sah scheu nach ihr hin, ob sie auch erschrak, und lachte wieder, als sie ihm mit strahlenden Augen ins Gesicht sah, und sagte immer wieder: »Das wird ein Leben! Das wird ein Leben!« Dann schüttelte er wieder den Kopf und sah sie zweifelnd an und sagte in wirklicher Herzensangst: »Sag' mir noch, wie du hierher gekommen bist. Ich habe wahrhaftig Phantasie, aber dies ...«

Sie lachte glücklich auf: »Wie ist es mir leicht und froh ums Herz, nun ich es dir gesagt habe!... Wie ich hierher kam? Nun... die Mutter des Jungen war nach Heidelberg gekommen, um den Einzigen in seinem Glanz zu sehen. Da sah sie mich neben ihm. Am andern Tag hieß es: ›Geh' fort aus meinem Hause!‹ Was ich gethan und gedient hatte durch zehn Jahre, das war alles vergessen. Da ging ich. Wohin, fragst du? Wohin? Nach Norden! Erst nach Hamburg zu einer Freundin, die dort die junge Frau eines Kaufmanns ist. Und dieser Kaufmann ist mit dir auf dem Gymnasium gewesen und hat Verwandtschaft in eurer Stadt; er ist der Neffe vom Mönchshof.«

»Sei still!« sagte er. »Ich muß mich besinnen.«

Plötzlich stellte er sich breitbeinig vor sie hin: »So demütig hast du Schelm gethan! Hast mich immer ›Herr‹ genannt.«

Sie faßte seine Hände und sagte verlegen lachend: »Ich mußte wohl demütig sein; ich war dir ja nachgelaufen,« sagte sie leise.

»Wie hab' ich mich benommen!« Er schob den Hut in den Nacken und sah bedenklich, mit krauser Stirn, über die Heide.

»Erst warst du sehr verlegen. Es war dir etwas ganz Ungewohntes; du hattest gar kein Selbstbewußtsein. Dann allmählich wurdest du stolz: das ›Herr, Herr‹ sagen, schmeichelte dir doch, und du nahmst dich zusammen und machtest Versuche, der Anrede Ehre zu machen. Dann stiegst du allmählich von deiner Höhe herab, und dieser Abstieg ...«

»Weiter!«

»Und dieser Abstieg, bis du auf dem ebenen Feld deiner natürlichen Weise warst, war süß, war lieb. Täglich gewann ich dich lieber. Immer tiefer sah ich in deine Seele.«

Er nahm sie in seine Arme, lachend, aber ganz verlegen: »Komm!« sagte er. »Wir gehen nach Haus.«

Und da lag es schon im Abendlicht vor ihnen am Rand der Heide, behäbig, breit, wie mit Heide bewachsen. Die Heide war still, nur hier und da der Anschlag eines Vogels und vom Dorf her irgend ein verwehter Ton. Der ganze Himmel überm Meer leuchtete im Abendlicht und vergoldete die Augen der Braut und Heims Locken.

Durch die Lücke im Wall gingen sie dicht nebeneinander.

»Ich will dir noch etwas sagen,« sagte Eva Walt, »ehe ich als deine Braut in dein Haus trete: Ganz arm bin ich nicht, das kleine Erbe meiner Eltern ist treu verwaltet worden. Es sind gegen fünftausend Mark.«

»Dann bist du für Heim Heiderieter eine reiche Braut.«

»Überdies sind wir jung und kräftig.«

Er zuckte die Schultern, als traute er sich nicht viel zu.

Da machte sie eine drollige Bewegung mit den Händen, so wie die Frauen auf dem Lande thun, wenn sie den weichen Brotteig in den Händen drehen und kneten: »Ich kehr' dich noch ganz um,« sagte sie, »und mach' aus dir, was ich will.«

»So! So!« Er öffnete die Thür und ließ sie vorangehen. Als er ihr in den dunklen Gang folgen wollte, hörte er ihre Stimme von der Kammerthür her.

»Schlafen Sie gut, Herr!«

Ein leises, klingendes Lachen.

Ein klirrender Riegel.

 


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