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Viertes Kapitel

Es waren wieder acht Tage vergangen, und noch war das Wetter nicht anders geworden.

Andrees Strandiger ging langsam durch den dunklen Abend nach Haus. Er war zu Fuß nach der Stadt gegangen, hatte im Wirtshaus einige Bekannte getroffen; nun fürchtete er sich vor der Heimkehr.

Einen Augenblick stand er still und zweifelte, ob er wieder nach dem Dorfe zurückkehren und den Abend bei Heim verbringen sollte. Aber sie verstanden ihn ja alle nicht, und er verstand sie nicht. Es war das beste, er machte ein rasches Ende und ging hinaus in die weite Welt.

Von dem Lande her zog ein langsamer, schwerfälliger Wind. Er brachte der alten Erde starke, frische Luft. Naß und kalt wehte er durchs Land. Wen er berührte, der bekam frische Wangen und hatte Nebeltropfen im Haar. So hatte er heute nachmittag Ingeborg Landt berührt. Die kam am Wehl entlang ohne Kopfbedeckung, das Haar sehr lose geknotet, wie sie es zuweilen trug. Und Andrees war ihr begegnet und hatte gedacht: »Ingeborg wird einmal stark und schön werden. Aber noch ist nicht ihre Zeit. Was Maria fehlt, das wird sie dann haben: ein frohes, mutiges Herz.«

Aber weiter hatte er nicht nachgedacht.

Der Wind zog und schleppte leise singend die langen Nebelnetze aus dem Meer.

»Da drüben liegt Flackelholm, genau da, woher der Wind zieht. Groß, still und einsam liegt es da, wie ein Riese, der sich am Rand der Brandung hingelegt hat, so lang er ist, um zu schlafen, und hält mit krummem, breitem Rücken das Meer auf. Wie still wird es dort sein! Kein Mensch dort, und ringsum das weite Feld, und die Watten grau und eben und unendlich, und das ungeheuere Meer. Wenn ich dort jetzt allein wäre, acht Tage lang, rund um mich die gewaltige Öde: vielleicht würden mir diese Dinge hier anders erscheinen. Von Flackelholm aus: ja! da muß die ganze Welt und das einzelne Leben anders aussehen, ganz anders.«

Der Wind zog vorüber mit klagender, singender Stimme redend, wie die Schiffer zuweilen singen, schleppend, schwerfällig, beim Ankerholen.

»Im Meer weit weg liegt Flackelholm. Aber wer findet den Weg? Dumme Gedanken!«

»Zu Lena Strandiger!«

Da sind die Ulmen. Und da blinken die Lichter vom Hof. Dort unten das Eckzimmer, da ist das Licht in Lenas Wohnung, und da steht sie. Sie hält den Handspiegel mit holzgeschnitztem Rahmen, den er ihr geschenkt hat, mit erhobener Hand vor sich und vollendet mit vorsichtig und fein ordnenden Fingern das Haar, das schöne, schwarze Haar. Er steht und sieht hin und atmet tief.

Und es kommt ihm die Neugierde, in Marias Zimmer zu sehen und zu wissen, was sie treibt. Er geht um das Haus und sieht oben im Schlafzimmer seiner Mutter Licht, wie er ein wenig zurücktritt, sieht er Maria Landt am Tisch sitzen am Fenster. Sie hat beide Arme aufgestützt und die gefalteten Hände an die linke Wange gelegt, und er erkennt nichts von ihrem Gesicht. Aber er sieht es an der Haltung, und er weiß es ja: hinter den Händen sind traurige Augen und blasse Wangen, und unter dem dunklen Haar ist kein einziger frischer, mutiger Gedanke.

Er schüttelte den Kopf, kehrte um und ging vorn durch die Hausthür. Und wie ber Klang der Thürglocke die Gänge entlang lief und in die Zimmer drang, legte Lena Strandiger den Spiegel hin und sagte laut: »Heute abend will ich ihn greifen.« Maria Landt aber zuckte zusammen: »Da ist er! Und ich kann ihn nicht halten, so fest ich meine Hände auch zusammenpresse.«

In Lenas Zimmer trat Anna Witt. Sie hatte heiße Wangen und helle, blitzende Augen: »Herr Franz Strandiger läßt sagen, Sie möchten ins Wohnzimmer kommen.«

In Maria Landts Zimmer trat Antje Witt, sah sich ängstlich um und sagte hastig: »Komm mit, Maria! Rieke Witt stirbt. Der Tod kam vom Kirchhof herunter den Sandweg entlang und ging nach dem Wehl zu und streifte mit seinen Laken gegen die Fenster, daß es klatschte. Nun kann sie keine Luft mehr kriegen.«

Im Wohnzimmer war es warm und freundlich. Die Lichter des Kronleuchters standen stolz und grade, weil sie sich einbildeten, glücklichen Menschen zu leuchten. So ein dummes Licht verwechselt Glück und Glanz. Der weiche, dunkle Teppich sagte: »So weiche Füße, wie Lena Strandiger hat, trug ich noch nie.« Der Sessel lehnte sich noch weicher und behaglicher zurück und sagte: »Setz dich, Andrees! Lena Strandiger kommt gleich; sie will mit dir über weite Reisen plaudern und über die schöne, große Stadt. Maria Landt hat traurige Augen, und in Rieke Witts Krankenstube ist bedrückende Luft. Du und Lena Strandiger gehören hierher.«

Und Lena kam und hatte Briefe aus Berlin bekommen. Alle Bekannten grüßten und fragten: »Wann kommt Herr Strandiger wieder? Wir entbehren sein ernstes Gesicht, feine stolzen Augen und seine gute Haltung.« Sie hatten ein Verzeichnis der Kunstausstellung geschickt, das Proben der Gemälde enthielt, einen saubern, handlichen Band mit abgerundeten Ecken, und Lena rückte an seine Seite, und ihre dunklen Köpfe neigten sich zu einander. Sie zeigte ihm die Bilder und machte ihn auf bekannte Namen aufmerksam. Und wie sie blätterte, sahen sie eine Heidelandschaft mit einem alten Strohdach im Hintergrund, und sie sagte lachend: »Heim Heiderieters Heideheim.«

So redete sie und machte ihn aufmerksam und nahm seine Seele an ihre Hand und führte sie durch belebte Straßen, in herrliche Schlösser, unter lachende Menschen und umgab sie mit Großstadtluft. Und er schwieg.

Da traten Franz und seine Mutter ins Zimmer. Und wahrend sie eine Wendung machte, um zu sehen, wer da käme, und sich ein wenig seitwärts beugte, lag sie fest gegen seine Schulter. Ein rascher Blick flog zwischen den Geschwistern hin und her.

Franz Strandiger trat lässig auf Andrees zu und gab ihm ein Papier: »Der Rechtsanwalt hat den Kontrakt nach deinen Wünschen aufgeschrieben. Ich denke, die Angelegenheit kann jetzt geordnet werden.«

Andrees beugte sich über die großen Bogen. Wieder ist Lenas Kopf dicht neben dem seinen.

Dann fangen sie an zu reden. Sie reden lauter, ruhiger, lässiger, als sie sonst zu thun pflegen. Sie unterhalten sich wie Leute, die über geringe, nebensächliche Dinge beraten. Die alte Frau geht mit raschen Schritten hin und her; aber sie geht nicht ein einziges Mal durch die Thür des zweiten Zimmers, obgleich sie weit offen steht und obgleich es sonst ihre Gewohnheit ist. Sie geht eilig hin und her, hin und her, die Hände auf dem Rücken gekreuzt. Wenn das Papier da unterschrieben ist, dann ist Franz hier Pächter, später vielleicht Besitzer: Andrees geht mit Lena nach Berlin, und alles ist gut. Schwere Jahre liegen hinter ihr. Das hohe Kostgeld von Andrees und jährliche Geldspenden eines Bruders, eines alten Junggesellen, haben den Berliner Haushalt notdürftig erhalten, armseligen Flitter, Goldpappenherrlichkeit! Schwere Jahre! Aber nun wird es anders.

»Ich habe zwölf Jahre Pachtzeit geschrieben,« sagte Franz.

»Nun ja! Wenn's uns beiden recht ist, kann die Pacht dann ja verlängert werden.«

»Und deiner Mutter und dir bleibt der ganze obere Stock, nebst einem Gespann. Das Nähere steht hier, im fünften Punkt.«

Andrees saß am Tisch, hatte den Kopf in die Hand gestützt und sah auf den Federhalter, mit dem er auf dem Papier die Reihen verfolgt hatte, und wunderte sich, wer ihm das zierliche Ding in die Hand gegeben hatte, und daß es aussah wie ein Pfeil.

»Es ist mein Federhalter!« sagte Lena und nickte ihm zu.

»Er sieht aus wie ein Pfeil.«

»Ja,« sagte sie, »er trifft ein Herz.«

Sie sah ihn fragend, mit verhaltener Zärtlichkeit an. Er aber dachte an Maria Landt und an die Leute im Eschenwinkel. Und die Feder fuhr vom Papier zurück.

»Es ist ein merkwürdiger Gedanke,« sagte er langsam, und er fühlte die Größe dieser Stunde, »wenn einer sein Recht an Land und Leuten einem andern giebt für ein Stück Papier ... So heimatlos! ...«

Und mit einem Male, wie sein Geist das Erbe der Väter durchwanderte, kam es ihm wie Einfall. Das Blut schoß ihm ins Gesicht, und seine Augen irrten über den Tisch. Er dachte an das einsame, stille Land, wo er heute abend in Gedanken gewesen war, und wie ein vergessener Traum, der wieder lebendig wird, stieg die Erinnerung in ihm auf, daß Maria Landt einst am Wodanshügel von Flackelholm gesprochen hat als einem Zufluchtsort im Unglück.

»Flackelholm ist im Kontrakt nicht erwähnt?«

»Es ist nicht genannt, aber es ist hier im dritten Punkt mit einbegriffen.«

»Flackelholm ist kein Vorland, sondern eine selbständige Insel.« Er nahm die Feder, die er hatte fallen lassen. »Ich weiß nicht, warum ... vielleicht, daß ich einmal da jage. Ich will die Insel und ihr Vorland ausnehmen.« Und er schrieb: »Mit Ausnahme von Flackelholm und seinem Strand und seinen Watten, die bis zum Flackstrom gehen.«

Da ging die Thür des Nebenzimmers auf, und Ingeborg Landt erschien.

Ihr lebhafter, wachsamer Geist erkannte gleich, daß etwas Außergewöhnliches vorging. Sie sah das Schriftstück und die Feder in Andrees Hand, sie sah über die Gesichter hin und wußte alles. Sie hob ihren Kopf, und ihre Augen wurden groß. So blieb sie auf der Schwelle stehen.

»Du thust bitter unrecht an uns allen, und ich ...«

»Und Sie?« sagte Lena Strandiger, die Hand auf den Tisch gestützt.

»Ich habe dich, so lange ich denken kann, hoch gehalten. Ich glaubte, du wärst ein Held ...«

»Die reine Liebeserklärung, Andrees!« sagte Lena lachend.

Ihr Bruder Franz sah staunend auf Ingeborg Landt. Sie war köstlich anzusehen.

»Wenn ich ihn lieb hätte,« sagte Ingeborg laut, »was geht Sie das an? Es ist überhaupt ganz gleichgültig! Wenn er uns hier schmachvoll verläßt, wollte ich, ich wäre nie in sein Haus gekommen.«

Da stand Andrees auf und ging auf sie zu: »Ingeborg!« sagte er hart, »du vergißt dich! Ihr benehmt euch thöricht und verletzt die guten Sitten.«

»Die guten Sitten? Ihr verkehrt gut und böse, Treue und Lüge.«

Er schüttelte den Kopf wie ratlos.

»Komm noch einmal mit, Andrees, über die Heide! Komm mit zu Frisius! Nein! Ich weiß: wir wollen zu Heim gehen, und wir drei, Heim, du und ich, wollen noch einmal alles beraten. Weißt du, neben dem grünen Kachelofen wollen wir sitzen, in dem das Feuer so lustig brennt, und die Lampe steht auf der Lade, und Heim ist so gemütlich, und erzählt von alten Geschichten aus der Heimat.«

Franz Strandiger sah auf Ingeborg. Er hatte, leicht fortgerissen, ein Augenblicksmensch, wie er war, den ganzen Kontrakt vergessen und freute sich des Auftritts. Obgleich er rasch zum Spott geneigt war und sich immer den Verhältnissen, die ihn gerade umgaben, überlegen fühlte, diesmal war seine ganze Zuneigung bei dem jungen, frischen Blut, das erst so stolz und fast höhnisch und jetzt bittend auf der Schwelle stand.

»Geh' doch mit, Andrees!« spottete Lena.

Der wandte sich um: »Sei still!« sagte er rauh. »Sie meinen es gut mit mir.«

Da merkte Franz am Ton der Stimme, daß die Sache auf dem Spiel stand, und im Augenblick war er verwandelt. Er trat auf Ingeborg zu, und, indem er sie stolz und seiner Kraft bewußt ansah, sagte er ernst und mit sprühenden Augen: »Fräulein Landt! Dieser Mann hier, Andrees Strandiger, wird nächstens dreißig Jahre alt. Ich habe so ziemlich dasselbe Alter. Wir beide sind mündig. Erwägen Sie selbst – Sie haben ja einen klaren Verstand« – er spottete in diesem Augenblick nicht – »wie das aussieht, daß Sie mit Ihren achtzehn oder neunzehn Jahren uns Männern in unsere geschäftlichen Verhandlungen fallen. Sagen Sie« – er legte seine Hand auf die Schulter seines Vetters – »ist dieser ein Mann oder nicht?«

Da schlug Ingeborg die Augen nieder. Die starke, selbstbewußte Männlichkeit, die in diesen Augen und in dieser Haltung lag, drückte sie nieder. Es überkam sie wie eine körperliche Furcht, daß er seine feste Hand auch auf ihre Schulter legen könnte, und daß sie dann in die Kniee sinken müßte.

Sie sah in seine Augen, das ganze Gesicht von Rot übergossen: »Ich schiebe alles, was kommt,« sagte sie langsam, »auf seine Schultern.« Und kehrte um und ging hinaus.

Bald nachher kam Anna Witt zu Ingeborg ins Zimmer: »Ich soll um die Schlüssel zum Weinkeller bitten. Sie sollen eine Flasche vom besten trinken, sagt Fräulein Strandiger. Der Herr geht wieder nach Berlin, und Herr Strandiger bleibt hier!«

Sie ging singend den Flur entlang.

 

Neben dem Bett stand Frisius.

»Es war immer Sonnabend, Herr Pastor, das ganze Leben hindurch, immer Reinmachen und Schrubben. Anders nichts. Bei all den Kindern!«

»Nach Sonnabend kommt Sonntag.«

»So ist das! Und mir ist das recht. Für meine Person! Mir ist frei ums Herz nach dem heiligen Mahl. Es gehe, wie es gehe! Da will ich nun an den lieben Herrgott denken. Aber Reimer! Und die Kinder!«

»Wir wollen alle auf sie passen, Rieke. Sei man ruhig!«

Sie wandte den Kopf langsam nach der Stube hin, die voll von Menschen war.

»Ja, wir wollen uns alle um sie kümmern,« sagte eine junge Frau, die selbst vier Kinder hatte.

»Ihr mit eurer Armut,« sagte die Sterbende leise.

Pastor Frisius ging.

Die alte Thiel kam vom Fenster her, wo sie still gesessen hatte, solange der Pastor da war.

»Das beste ist, Rieke, du sagst zu deinem Mann, daß er sich wieder verheiratet. Er muß das wegen der Kinder. Wenn du es ihm sagst, wird er es eher thun. Dann haben die Kinder ihre Verwahrung.«

Über das Gesicht der Kranken flog ein leises Rot, und ihre Augen wurden noch glänzender. Aber dann dachte sie gleich an die Kinder. »Wenn da ein ordentliches Mädchen ist, nicht so jung, es ist das beste. Antje kann es nicht.«

»Wenn Telsche Spieker es wollte.«

»Telsche? ... Ja ...«

Sie lag eine Weile. Dann fragte sie: »Ist Peter Nahwer da?«

Der alte Tischler trat ans Bett. Er hatte die kurze Pfeife im Mund wie immer, obgleich er seit Jahren nicht mehr rauchte. Der Arzt hatte es ihm verboten.

»Er kann dir den Sarg nicht bezahlen, Peter Nahwer.«

»Macht nichts, mein Deern. Nächsten Herbst! Nächsten Herbst!«

»Wenn's angehen kann, Nahwer, mach' einen schmucken Sarg, mit so'm bißchen silbrigen Zierat darauf und zwei Kränze von Glasperlen. Es ist wegen der Kinder.«

»Du kriegst so'n seinen Sarg wie Mutter Thomählen, Rieke. Ich habe noch von den schönen Preßsteinen liegen. Das gehört eigentlich zu Betten und Kommoden; aber es sieht fein aus.«

»Ist einerlei, Peter Nahwer, mach' das man.«

»Will ich, mein' Deern!« Peter Nahwer trat zurück und sog an seiner Pfeife. Die alte Thielsche winkte ihm mit ihrer großen Hand und sagte leise, indem sie ihn streng ansah: »Du machst mir grad so einen Sarg wie der Thomählen. Ich bin alle Jahre mit ihr nach dem Hof gegangen. Ich will nicht schlechter sein als sie. Hörst du?«

Am Bett stand jetzt ein anderer Nachbar. Sie wurden leise, mit zarter Kinderstimme gerufen und kamen gleich und sprachen leise und beugten sich über das Bett und traten zurück und sagten zu einander: »Sie macht es nicht mehr lange,« und sie hörte es und wartete auf das Ende.

Maria Landt stand am Fußende des Bettes, hatte den dunklen Kopf gegen das Gesims gelegt, und ihre Augen waren voller Thränen.

Da wurde die Thür aufgemacht, und Ingeborg erschien. Sie ging sofort auf ihre Schwester zu und sagte: »Du... Andrees hat den Vertrag unterschrieben, der Hof ist verpachtet.«

Es wurde ganz still.

Dann kamen einige halblaute, ruhige Bemerkungen: »Na, denn also! Nun steht der Eschenwinkel nicht lange mehr!«

»Was nun wohl aus uns wird?«

Die Kranke wandte ihre Augen zu Maria. »Es geht mich nichts mehr an. Meine Arbeit auf dem Hof ist gethan. Du sagtest immer, er wäre ein guter Mensch.«

»Das ist er. Die andern haben ihn ganz verredet.«

»Du hast die meiste Macht über ihn. Du kannst es noch wieder zum Guten wenden. Vergiß das nicht. Ich – ich will an etwas anderes denken, jetzt... Es wird Zeit. Die Kinder... Maria, willst du beten? Ganz laut! Mir ist, als wenn ich nicht mehr hören kann. Aber ehrlich, Maria, du weißt, wie es steht.«

Da betete Maria, weich und warm klang es, als käme es ohne Vermittlung des Mundes, aus tiefster Seele: »Wir bitten dich demütig für acht Kinder, daß du sie bewahrst vor dem Hunger und vor der Vernachlässigung und vor ungerechten Schlägen und vor bösen Menschen und besonderem Unglück. Weil keine Mutter ihnen in ihrer großen und kleinen Not helfen wird, bitten wir dich, du wollst auf sie sehen. Wir bitten dich wegen ihres Aufstehens und Schlafengehens, und daß sie im Winter nicht frieren, und daß sie gern einen haben, dem sie die Hände um den Hals legen. Wir wissen, daß du der Vater aller Waisen bist und kein Waisenkind umkommen läßt; aber wir wissen auch, daß es dir Freude macht, wenn deine Kinder bittend oder dankend zu dir kommen. Wir vertrauen deinen Verheißungen für Leben und Sterben. Amen.«

Sie ließ die Hände sinken, die sie gegen die Brust gepreßt hatte, und wartete bange, bis der Erstickungsanfall vorüber war und die Kranke schwach und schwer atmend dalag, mit halbgeschlossenen Augen.

»Was sagt ihr? Andrees Strandiger ist tot?«

Ingeborg beugte sich über die Sterbende: »Nein, Rieke, er will fort von uns.«

»Betet für ihn! Es weht frische, reine Luft über meine Brust, wenn du betest. Bete!«

Maria schluchzte laut auf.

Da sagte Ingeborg: »Laß mich!« Und sie betete mit zuversichtlicher Stimme: »Lieber Gott! Wir sind alle in Not, der ganze Eschenwinkel und wir und seine Mutter und er selbst. Du kannst wohl thun, was du willst; aber er kann nicht thun, was er will. Zeige ihm deine Stärke. Ich erinnere dich an deine Verheißungen, daß du willst, daß allen Menschen geholfen werde. So hilf uns, gieb uns allen Brot, Heimat und Häuser. Wir sind umgeben von Not und verstehen dich und dein Thun nicht, aber wir vertrauen auf Jesus Christ und sehen auf ihn. Du wirst alles zum guten Ende führen. Amen.«

So ungefähr betete sie, die Stirn zwar voll Falten; aber ihre Augen glänzten. Der Wind zog rauschend über den Wehl, und der Regen schlug gegen die Fenster.

Während sie noch betete, war Reimer Witt eingetreten. Er hatte sein Arbeitszeug an und die Wintermütze über die Ohren gezogen. Er sah müde aus. Als er die vielen Menschen sah und das Beten hörte, merkte er, daß es zu Ende ging. Er weinte nicht; seine Augen wurden nicht einmal naß; aber es ging eine fahle Blässe über sein Gesicht, und seine Augen bekamen einen starren, finstern Ausdruck. Er reichte das Medizinglas, das er in der Hand hielt, Maria hin und beugte sich über das Bett.

»Andrees?« sagte sie.

»Der steht draußen am Fenster und sieht in die Stube. Gott mag wissen, was er da will... Rieke...«

»Mein Reimer... Das Kleid sitzt ihr gut, Reimer! Nun kann ich in diesem Jahr nicht zum Abendmahl gehen... im nächsten Jahr gehe ich. Das Kleid sitzt gut, Bertha!... Fritz, du kannst nicht mit in die Kirche gehen. Deine Jacke... Nun sind noch sechs übrig, Reimer. Nun gehen wir. Gott sei Dank, daß mal Sonntag ist.«

Die Seele versuchte die ersten matten Flügelschläge; der Atem wurde schwach und leicht. So leicht hatte Rieke Witt lange nicht geatmet. Die Seele trat auf die Schwelle, da hielt das Herz still. Die Seele flog auf; da stand das Haus leer. Und wenn ein Haus leer steht, verfällt es. Es war ein stilles Totenantlitz.

Da ging Maria Landt hinüber zu den Kindern. Die Thür vor ihr ging leise, wie von selbst auf. Fritz kam ihr entgegen. Sie kniete vor ihm nieder. Nun war er gerade so groß wie das große, schöne Mädchen.

»Du, Fritz, deine Mutter ist weggegangen.«

»Ist sie tot?«

Die Großen fingen an zu weinen, die Kleineren schlossen sich an. Nur Fritz blieb ruhig. Er zog die Stirn kraus, wie Ingeborg vorhin beim Beten gethän hatte:

»Du sagst, sie ist weggegangen?«

»Weit weg in ein anderes Land.«

»Scheint da die Sonne? Und giebt's da fix was zu essen?«

»Das glaube ich, Fritz.«

»Na ... denn ist's man gut, daß sie weggegangen ist. Hier giebt's nicht immer was Ordentliches. Aber jetzt kriegen wir erst mal was. Als Hans Leesen sein Vater wegging, haben die Leute Fleisch und Kuchen hingeschickt, große, weiße Kringel.«

Maria Landt erhob sich. In ihr weinte es heiß auf: »Es ist zuweilen gut, daß einer weggeht. Dann werden die andern satt. Das ist das ›für die andern sterben‹.«

Es wurde ihr dumpf im Kopf, als legte sich eine schwere Hand auf ihr Haar. Sie trat wieder in die Stube. Sie waren alle fortgegangen; nur Reimer Witt saß am Bett. Sie erbot sich, die Nacht mit ihm Wache zu halten; aber er bat sie, zu gehen.

Da ging sie, nachdem sie Antje, die verstört auf der Diele stand, zu den Kindern geschickt hatte. Als sie am Wehl entlang ging – es war sehr dunkel, und sie hatte Mühe, vorwärts zu kommen, so stark schlug der Wind das Kleid gegen sie an –, kam wieder die Schwäche über sie, daß sie stehen blieb. Wieder kam der dumpfe Gedanke, als würde er durch eine schwere Hand in ihr Hirn hineingedrückt, daß der Tod des einen das Glück des andern sei. So plötzlich und körperlich stieß der Gedanke in ihre Seele, daß sie taumelte. Aber sie riß sich diesmal noch auf. Sie erhob sich schwerfällig von den Knieen und ging mutlos, in dumpfem Traum heim.

Das Sterben, das sie mit angesehen, traf ihre Seele, die von Natur weich und zart war, zu hart; sie zerfloß und verlor den Zusammenhang des Erkennens und Willens. Die trübselige, trostlose Verwirrung der Dinge auf dem Hof und im Eschenwinkel ging in ihre Seele über. Der Sturm hatte schon lange in ihr getobt, immer stärker werdend. Jetzt, in dieser Nachtstunde, erschien der erste weiße Gischt überm Deich. Noch ein Stoß, und das wilde Wasser überschwemmt ihre Seele.

Dennoch schlief sie in diesen folgenden Nächten, soweit Ingeborg es erinnert, tief und fest und erholte sich etwas.

Indes hielt Reimer Witt allein die Totenwache.

Er ging immer rund um den Tisch, der in der Mitte stand. Jedesmal, wenn er an der Bettseite entlang ging, sah er auf das bleiche, stille Gesicht, und jedesmal, wenn er an der Fensterseite entlang ging, sah er auf ein Bild, das da zwischen den beiden Fenstern an der Wand hing. Eigentlich sollte dort ein Spiegel hangen, und sie hatten oft davon gesprochen, daß sie einen schönen Spiegel kaufen wollten, wenn die vier ersten Kinder konfirmiert wären. Früher glaubten sie kein Geld dazu zu haben. Also hing das Bild da. Es war ein bunter Druck, zwei Hand breit nach unten und zur Seite, wohl über zwanzig Jahre alt, und darunter stand: Die Schlacht bei Verneville.

Und zuerst wußte er nicht, was die beiden miteinander zu thun hätten, das bleiche Gesicht und das bunte Bild. Aber dann mit einem Male durchfuhr es ihn. Schweiß trat ihm auf die Stirn, als er nun fortfuhr, darüber nachzudenken.

Er hatte bisher in seinem Leben einen erschütternden Tag erlebt, das war jener Tag von Verneville, und nun fügte sich an jenen Tag dieser heutige, ebenso furchtbare, ebenso herzerschütternde. Jener Tag hatte ihn zu einem ernsten Mann gemacht, dieser machte ihn zu einem stillen Mann. Und diese Erkenntnis machte seinen Herzschlag stocken.

Da seine Seele aus den Wogen des gegenwärtigen Jammers herausstrebte, geriet sie in den Jammer der Vergangenheit.

»Hörst du die Kanonen, Reimer?«

Jan Requast, sein Nebenmann, der Knecht vom Stülperkoog, sieht ihn mit weit aufgerissenen Augen an. Sein Helm sitzt im Nacken, und auf seiner Stirn stehen große Schweißtropfen wie blanke Nagelköpfe.

Sie sind beide noch Knaben, zwanzig Jahr alt; sind hinterm Pflug hergegangen, umkreist von Möven, und haben ihr Lied dazu gesungen. Sie sind dann und wann in die Kirche gegangen, dann und wann zum Tanz und haben sich weiter keine Gedanken gemacht.

»Wie Mutters Kaffeemühle! Hörst du, Reimer?«

Reimer Witt preßte die Lippen fest zusammen. Seine Augen starren finster auf die aufgewühlte weiße Grantstraße. Das zweite Bataillon zieht vorüber, gegen diese Kanonen. Von Heinrich Thiel ist nichts zu sehen.

»Marsch! Marsch!«

Es ist gut, daß sie alle mitziehen. Zehntausend vorn und zehntausend hinten ... sonst würde er alles, alles von sich werfen und würde laufen, laufen, bis er einen Acker träfe, fern von diesem Knattern und Dröhnen und Rollen und Rasen, und einen Pflug auf diesem Acker, oder einen Spaten, an den er seine Hand legen könnte, den Acker fleißig, sauber zu bestellen, den lieben, stillen Acker, über den die Möven fliegen, bis zum süßen Feierabend.

»Hörst du, Reimer? Das sind Gewehre von unsern Leuten.«

»Da vorne brennt die Heide ... oder was ist das?«

Da vorne ist alles voll von blaugrauen Wolken. Die wälzen sich, lange, träge Riesen, in ihrer ganzen Länge auf der Erde und brüllen.

»Wir sind noch weit vom Schuß, Jan!... Ich glaube, wir kommen noch nicht vor ... morgen vielleicht.«

»Meinst du? ... Ich möchte sonst ...«

»Was möchtest du ...«

»Schützenzüge! ... schwärmen ...«

Rechts hat sich das Feld gesenkt ...

»Ja ... wo sind die Zehntausend vor uns?«

Nur spärlich, hier und da, die Gestalt eines Offiziers, geduckt wie zum Sprung, die Säbel vor sich in die Erde gesteckt. Zwei, drei Pferde mit langen, blauen Schabracken jagen über die liegenden Menschen.

In langen Reihen liegen sie da, die Beine gespreizt, das Kinn an der Erde, den Kolben an der Wange; in Rauch gehüllt.

»Reimer ... Mensch!«

Es schrie irgend etwas auf. »Es war ein Tier, Reimer.«

Da liegen sie nebeneinander.

»Rück' beiseite. Ich kann nicht anlegen. Siehst du die roten Kerle?«

»Rück' beiseite, Fritz!«

Wie tot liegt er da.

Wie tot? Das Bajonett liegt schräg vorn gegen die Erde, und der Kopf ist gegen den Kolben gesunken, und das linke Auge ist geschlossen, aber das zielende, das rechte ... das ist doch offen?

»Du, Jan! Fritz Hellerwatt ist tot!«

Vorn stürzt ein Offizier, noch einer; der eine vornüber wie ein Bleisoldat, der andere sinkt in die Knie, hält die Hände hoch überm Degenknauf gefaltet. Von links kommt ein weher Schrei. Ein Husar kommt in schräger Richtung gegen sie an, kümmert sich nicht um das Schießen, barhaupt, mit entblößtem Arm, an dem das Blut herunterträufelt. Als er näher kommt, sieht Reimer Witt, daß seine Stiefel rot sind vom roten Gras.

»Herrgott!«

Mit einem Male, wie wenn auf dem Theater die Scene wechselt, mit einem Ruck ... verschiebt sich in seiner Seele alles ... Was da wichtig war und breitbeinig und großartig im Vordergrund stand: die bunte Uniform und das Mädchen in der Stadt und die Peitsche mit dem ledergeflochtenen Stiel und Jan Nequast, der lustige, sein bester Freund ... die werden alle ganz klein und treten zurück, und da war etwas ... das hatte ganz hinten in seiner Seele gelegen ... unter allerhand zerbrochenem und verachtetem Kinderspielzeug. In diesen Winkel stürzten seine Gedanken und suchten und fanden noch einige halbzerbrochene Stücke und hielten sie fest umklammert mit beiden Händen.

»Dort hinterm Wall die verdammten braunen Kerle! ... Witt! ziel ... gut ...!«

Ich bin ja nur ein Kindlein klein.
Und meine Kraft ist schwach;
Ich wollt' so gerne selig sein
Und weiß nicht, wie ich's mach'.

»Dreihundert Meter! Mensch, ich hab' getroffen. Der hat genug ... Ich bin getroffen ... hab'... auch ... genug ...«

Wenn du wollt'st in der letzten Not
In Treuen bei mir sein,
Sollt' wohl der harte, bittere Tod
Mein Himmelfahren sein.

»Auf!« Die Trommeln lärmen. »Sie sollen weg, so wahr wir Schleswig-Holsteiner sind.« Drei stürzen mit einem Male.

»Grüß' sie ...«

Wenn ich vor deinem Hofthor steh',
Gott, Vater, laß mich ein:
Dein Hof so rein, dein Haus so hell,
Laß meine Heimat sein.

Reimer Witt wandte sich von dem Bilde ab und ging langsam und zögernd um den Tisch, so wie ein Knabe, der etwas bestellen soll, kurz vor seinem Ziel langsam geht, überlegend, was er sagen soll. Wie er in die Nähe des Bettes kam, wollte er vorübergehen. Da drehte er sich halb um, wie wenn er auf fernen Ruf, auf Kommandowort horchte, und dann fiel er mit einem Male nieder, gerade wie einst im Feld bei Verneville, und lag still auf seinen Knieen, und wieder, wie damals, stammelte er die Kindergebete. Aber diesmal holte er sie nicht aus dem Winkel. Sie lagen glänzend vorn an der Thür, blinkende Perlen.

Seit dem Tag bei Verneville wußte Reimer Witt, daß ein Gott die Welt regiert, ein Gott so nah, so persönlich, daß man ihn mit »du« anredet.

Sie sagen, es ist so und so lange her, daß wir nach Frankreich zogen! Es giebt viele tausend Häuser im ganzen Vaterland, kleine und große, an Bergesabhängen, an Strömen und am Meerstrand, in denen noch heute gegen Frankreich gekämpft wird. In der Erinnerung, in Wachen und Schlafen, kämpfen die einen; die anderen haben in nassen Lagern, auf kalten Vorposten, in Hunger und Kälte, durch Wunden und Krankheit den Keim des Todes mitgebracht, fallen noch immer fürs Vaterland; andere, die den Gefallenen, den nachher Gestorbenen nahe standen, tragen an Seele und Leben, an Nahrung und Kleidung, an Erziehung und Lebensführung die Narben von Verneville. Wie lange kämpfen wir noch? Dies ganze Geschlecht wird vergehen, ehe wir Frieden haben.


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