Paul Ernst
Die Taufe
Paul Ernst

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Der Scharfrichter

Ein Scharfrichter war in seinem Beruf ein reicher Mann geworden. Er trieb mancherlei Wissenschaften, und da er mit großem Bedauern verspürte, daß ihm doch zu seinem Lernen der rechte Grund fehlte, so beschloß er, seinen einzigen Sohn, damit der es einmal in diesen Dingen besser habe, studieren zu lassen. Er schickte ihn aber, damit er nicht wegen seiner Herkunft von der Universität abgewiesen werde, in ein fremdes Land, wo man andere Sitten und Gebräuche hatte und bei den vielen ausländischen Studenten nicht sorgsam nach Stand und Namen des einzelnen fragte, sondern ihn gern zu allem zuließ, wenn er nur das Gebührliche bezahlen konnte.

Der Sohn trat denn auch an der fremden Universität so auf, wie es die reichlichen Mittel seines Vaters erlaubten, galt dort für den Sohn eines angesehenen Mannes, besuchte fleißig seine Vorlesungen, hatte Umgang mit den anderen Studenten und später auch in den Familien der Professoren und erwarb im Laufe der Jahre gute Kenntnisse und angenehme Manieren. Wie ihm sein Vater aufgetragen und er selber gewünscht, betrieb er die medizinischen Studien.

Unter seinen Lehrern hatte ihn, wie das so geht, einer besonders in sein Herz geschlossen, weil er in seinem Fach hauptsächlich gearbeitet, hatte ihn in den letzten Semestern als Famulus in sein Haus aufgenommen, ließ ihn an seinen Arbeiten und Unternehmungen teilnehmen, hielt ihn mit an seinem Tisch und behandelte ihn ganz als seinen Sohn. Der Professor hatte eine einzige Tochter; die beiden jungen Leute wurden bald miteinander vertraut, es entspann sich ein Liebesverhältnis zwischen ihnen; der Vater sah natürlich bald alles, aber das Verhältnis war ihm nicht unwillkommen, ja vielleicht hatte er es sogar, nachdem er den guten Charakter, Fleiß und Verstand des jungen Mannes erprobt, selber gewünscht und ihn auch deshalb mit zu sich gezogen; und so nahm er ihn denn eines Tages auf sein Arbeitszimmer und sprach mit ihm. Er sagte ihm, daß er als alter und alleinstehender Mann, denn er war seit langen Jahren Witwer, seine Tochter gern einem Manne geben wolle, der bei ihm wohnen, ihm bei seinen Arbeiten helfen, allmählich manches abnehmen, einige seiner Vorlesungen halten und später einmal ganz in seine Stelle eintreten könne. Der Jüngling, welcher bis dahin sich gedankenlos hatte gehen lassen und nicht an Morgen und Übermorgen gedacht hatte, wurde auf das Tiefste erschüttert durch die Rede seines Lehrers. Er kniete vor ihm nieder, küßte seine Hand und weinte. Der alte Mann war wohl erstaunt über diese Art, dachte aber, daß die große Liebe des Jünglings und das Glück über ihre Erfüllung die Ursache seiner Bewegung sei; deshalb hob er ihn sanftmütig auf und sagte, er wolle seine Tochter rufen, um ihr alles mitzuteilen.

Da aber ergriff der Jüngling seine Hand, hielt ihn zurück, und wie der andere ihn verwundert fragte, was denn mit ihm sei, antwortete er weinend: »Ich liebe Eure Tochter über mein Leben, aber ich kann sie nicht heiraten.« Der alte Mann beugte sich vor und schrie ihm hitzig zu: »So bist du ein Schurke, wenn du dem Mädchen etwas in den Kopf gesetzt hast, das du nicht erfüllen kannst. Hast du schon ein Weib?« Der Jüngling schüttelte den Kopf. »Bist du zu vornehm, um die Tochter eines Gelehrten zu heiraten, der sich für einen Fürsten in seiner Wissenschaft halten darf und einem Fürsten nicht nachzustehen braucht in berechtigtem Selbstgefühl?« Der Jüngling seufzte.

Da sprang der Gelehrte auf und sprach bittere Worte über törichte Standesvorurteile und sagte, daß es nur zwei Arten von Menschen gebe, tüchtige und untüchtige, und alle anderen Unterschiede seien unsinnig, das habe er als Arzt an so viel Krankenbetten gesehen, wo Könige zitterten und Arbeiter lachten, und er selber würde, trotz seines Ruhms und Reichtums, doch einen Schwiegersohn nicht verschmäht haben auch aus der untersten Klasse der Menschen, wenn er nur tüchtig wäre. Hierauf antwortete der andere stockend, er sei eben von solcher Herkunft, daß er noch unter der untersten Klasse stehe. »Wie?« fragte der Alte; »bist du unehelich? Ich hätte es mir denken sollen, daß so ein Kerl wie du nicht in einem schläfrigen Ehebett gezeugt ist. Komm her, gib mir die Hand, wenn das alle deine Sorgen sind.« Der Jüngling aber schüttelte betrübt noch immer den Kopf und sagte endlich in abgebrochenen Worten: »Ich bin ein Scharfrichterssohn.«

Der Alte strich sich verdrießlich den Bart und antwortete: »Das ist ja nicht sehr erfreulich, das habe ich freilich nicht gewußt.« Dann aber erinnerte er sich an seine früheren Reden und fuhr beherzt fort: »Auch das macht mir nichts. Du brauchst es ja niemandem weiter zu sagen, und deine Heimat ist von hier so entfernt, daß ohne dein Geständnis es niemand erfahren wird.«

Die Tochter, welche an der Tür gelauscht hatte, entfernte sich nun geräuschlos und ging in ihr Zimmer; der Vater öffnete die Tür und rief über den Gang nach ihr; nach dem zweiten Ruf erschien sie mit unbefangenem Gesicht und fragte: »Brauchst du etwas, lieber Vater?« Der Vater ließ sie in die Stube kommen, stellte ihr alles vor, sie errötete und wurde verlegen, wendete stockend ein, daß sie doch noch so jung sei und daß sie gedacht habe, sie wolle immer bei ihrem Vater bleiben; der Vater erwiderte, das solle sie ja denn nun eben auch; und so beredete er sie mit Mühe, daß sie dem Antrag des Jünglings zustimmte. Derart wurde nun die Verlobung gefeiert.

Nachher erzählte sie dem Jüngling, sie habe ja wohl gemerkt, daß er nicht aus vornehmem Hause sei, aus allerhand Äußerlichkeiten; so trage er sein Geld immer in einem festen Beutel bei sich und nicht lose in der Tasche, habe auch immer nur eine kleine Summe auf dem Leibe und das Übrige in seiner Lade verschlossen zu Hause; er borge nie und handle den Geschäftsleuten immer herunter, er führe (was er sich noch abgewöhnen müsse) das Messer beim Essen zum Mund und Ähnliches. Da sie aber wisse, daß ihr Vater trotz seiner Reden viel auf Vornehmheit gebe, so habe sie dem einmal erzählt, scheinbar ganz so nebenbei, daß sie ihn gelegentlich auf der Straße in seiner heimatlichen Tracht gesehen mit einem Hut, der mit einer Reiherfeder geschmückt gewesen, und habe ihn gefragt, ob das nicht bei manchen fremden Völkern ein Abzeichen des hohen Adels, von den Grafen an aufwärts, sei. Seitdem sei ihr Vater auf ihn aufmerksam geworden und habe ihn zu sich herangezogen.

Der Student sollte nun zu seinen Eltern reisen, ihnen alles erzählen und um ihre Einwilligung bitten. Er kaufte sich ein Pferd, machte sein Bündel zurecht; am frühen Morgen ging er aus dem Hause seines Schwiegervaters, schritt die breite marmorne Treppe hinunter, stieg auf sein Pferd; von dem zierlich gemeißelten Balkon herab sah ihm seine Geliebte nach, wie er die Straße mit den stattlichen Häusern hinunterritt. Er reiste durch die weite, fruchtbare und lachende Ebene, über das hohe, schneebedeckte Gebirge in sein kaltes, von düsteren Wäldern bedecktes Heimatland; nach Wochen ritt er durch das alte Stadttor, durch die engen Straßen seiner Stadt, die mit niedrigen hölzernen Häusern eingefaßt waren; er kam durch die schmutzigen, ungepflasterten Gassen, wo das niedere Volk wohnte, zu dem Winkel, in welchem neben den Häusern der Dirnen das schmale Haus seines Vaters lag. Vor der Haustür stand eine große Butte mit Wasser, in welcher der alte Scharfrichter mit aufgestreiften Hemdärmeln hantierte. Als der Reiter vor ihm hielt und absprang, sah er ihn unter buschigen Augenbrauen an, dann reichte er ihm den kleinen Finger der nassen Hand und sagte: »Ich habe gestern einem Missetäter Riemen aus der Haut geschnitten, die lege ich heute ins Wasser; gegerbte Menschenhaut, die vom lebendigen Leib abgezogen ist, soll gut sein gegen die Gicht. Hast du darüber etwas auf der Universität gelernt?« Der junge Mann war blaß geworden und fragte nach der Mutter; da kam die Mutter aus dem dunkeln Flur, trocknete sich die Hände an dem kurzen Beiderwandrock und umarmte ihn. »Du bist breit geworden,« sagte sie; »du trägst feines Tuch, das ist uns hier doch verboten; weißt du denn das nicht mehr? Du mußt gleich einen Leinenkittel anziehen.«

Die drei gingen in das Wohnzimmer; da hing an der Wand, der Tür gegenüber, in einem Futteral das große Richtschwert. Der Vater bemerkte den Blick, welchen der Sohn auf das Schwert warf, und sagte: »Ja, ich werde alt, der Arm ist nicht mehr sicher; mein Vater hat sich ja frei gerichtet, aber damals wurde auch noch mehr geköpft wie heute, ich werde die Zahl nicht voll machen. Nun ist es gut, daß du da bist; in vierzehn Tagen ist eine Hinrichtung, die kannst du gleich übernehmen.« »Ich?« rief entsetzt der junge Mann. »Bist du denn nicht mein Sohn?« fragte der Alte ihn ruhig. »Du mußt auch nun heiraten. Ich habe schon mit einem Scharfrichter gesprochen, der eine Tochter hat. Sie ist gesund, eine gute Hausfrau und paßt zu deinen Jahren.« Draußen scharrte das Pferd auf dem Pflaster, dessen Zügel verloren um den Pfosten geschlungen waren. »Es ist wohl im Stall Platz,« sagte der Junge, ging hinaus, führte das stolpernde Pferd durch den Flur in den Stall neben die beiden Ziegen, schirrte es ab und hängte ihm den mitgebrachten Hafersack um. Dann kehrte er langsam in die Stube zurück.

»Du gefällst mir nicht,« sagte der Vater. Er hatte das Richtschwert von der Wand geholt und aus dem Futteral genommen und betrachtete es nun sorgfältig am Fenster. Aus einem Kalender, der auf dem Fensterbord lag, riß er ein Blatt und führte es an der Schneide entlang; das Schwert schnitt das Blatt mit einem quäkenden Tone durch. »So habe ich es von meinem Vater übernommen, so übergebe ich es dir,« fuhr er fort. »Was hast du, du verheimlichst etwas,« schloß er, indem er ihm ins Gesicht sah.»

»Ich – ich habe mich verlobt,« stotterte der Sohn.

»Dort unten?« fragte der Vater.

»Ja,« antwortete er.

Nach einer Pause fragte der Vater: »Nun?«

Er wendete sein Gesicht ab und sagte: »Ich kann nicht Scharfrichter werden. Ich gehe zurück und werde Arzt.«

Der Vater erhob das blanke Schwert mit beiden Händen und schrie ihn an, indessen ihm die Ader auf der Stirn schwoll: »Knie nieder.« Der Junge wich zurück und streckte angstvoll die Hände aus. »Knie nieder!« schrie der Vater von neuem. Die Mutter stürzte in die Stube, lief ihm unterm Arm durch und faßte ihn mit beiden Händen an der Brust am Hemd, das offen war über den grauen Brusthaaren. »Versündige dich nicht an deinem Blut,« rief sie ihm zu, er legte das Schwert auf den Tisch, stieß sie fort, griff dann wieder zum Schwert. Die Mutter stellte sich vor dem Sohn auf, mit beiden Händen den Rock ausbreitend, und rief: »Dann schlage mir den Kopf mit ab.« Dem Sohn klapperten hörbar die Zähne, wie er das schreckliche Gesicht des Alten sah; er sagte leise: »Ich will ja bleiben.«

»Es ist gut,« antwortete der Alte, schob das Schwert wieder in das Futteral und gab es dem Sohn zum Aufhängen; der nahm es mit bebendem Arm.

So schrieb nun der Verlobte an seine Braut, erzählte alles, was geschehen, und gab ihr das Wort zurück.

Die Braut aber, wie sie den Brief gelesen, besorgte sich heimlich Männerkleider, nahm Geld aus dem Schubfache ihres Vaters, indem sie das Schloß mit einem Haken öffnete, kaufte sich ein Pferd und machte sich vorsichtig, ohne daß jemand etwas von ihrem Vorhaben merkte, auf den Weg zur Heimat ihres Verlobten. Ihr Vater suchte lange nach ihr, aber da sie alle ihre Gänge mit großer Schlauheit getan, so konnte er keinerlei Spur von ihr entdecken. So kam sie denn an einem Nachmittag in der fremden Stadt an, fragte sich durch und hielt endlich vor dem Hause des Scharfrichters.

Ihr Verlobter stand vor der Tür, in blauem Leinwandkittel; er hatte einen jener Riemen aus Menschenhaut in Arbeit und reckte ihn; die Arbeit nahm ihn so hin, daß er das Näherkommen des Reiters gar nicht merkte und plötzlich zusammenschrak, wie das Pferd ihm die Mütze vom Kopf stieß; er wollte zurück und blickte auf, da sprang seine Braut aus dem Sattel, eilte auf ihn zu, er stand entgeistet, den halbfertigen Riemen in der Hand, und starrte sie an, sie lachte silberhell auf und umarmte ihn.

Der Vater trat aus der Tür und blickte nach den beiden, dann knüpfte er den Zügel des Pferdes um den Pfahl und machte ihnen eine Handbewegung, daß sie in das Haus treten sollten. Nun standen im Zimmer die beiden Alten und die beiden Jungen einander gegenüber. Dem Mädchen verging das Lachen, als sie in das Gesicht des Vaters blickte, sie flüchtete sich an die Brust des Sohnes, der sah verlegen zur Seite.

»Habt Ihr gewußt, daß ich ein Scharfrichter bin, oder hat Euch mein Sohn etwas vorgelogen?« fragte der Alte.

»Er hat es mir erzählt – nachher,« antwortete sie.

»So, nachher,« sagte er langsam, den Sohn ansehend. Dann fuhr er fort: »Habt Ihr gewußt, daß der Scharfrichter keine Ehre hat und seinem Sohn keine Ehre mitgeben kann?«

Stockend erwiderte sie: »Ich habe mir das nicht so klar gemacht.«

Der Alte sah einen Augenblick mit einem weicheren Ausdruck der Augen auf sie und sagte: »Armes Tier!«

»Ihr seid wochenlang allein durch die Welt gezogen. Das tut kein ehrbares Mädchen,« sagte er dann. »Aber Ihr seid nicht schuld, Ihr habt einen Narren zum Vater, der sein Kind nicht leiten kann.« Dann wendete er sich zu seinem Sohn und fuhr fort: »Bringe das Pferd in den Stall. Dann bestelle das Aufgebot. Du schläfst in der Dachkammer, bis ihr verheiratet seid.«

Das Mädchen riß sich mit einem Ruck von dem Geliebten los, errötend und mit blitzenden Augen sagte sie zu dem Alten: »Jetzt habe ich zum erstenmal einen Mann gesehen. Ich mag Euren Sohn nicht mehr.«

»Nun denn, es ist besser so,« antwortete der.

Sie begrüßte die beiden alten Leute zum Abschied und ging hinaus; ihr Verlobter folgte ihr, löste die Zügel von dem Pfosten und half ihr auf das Pferd. Dann ritt sie ab, und er sah ihr traurig nach.


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