Paul Ernst
Die Taufe
Paul Ernst

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In der Kirche

Während der Russentage in Ostpreußen wurde ein Dorf von den Russen besetzt. Fast alle Einwohner waren geflohen. Der Offizier, welcher Deutsch sprach, rief die wenigen Zurückgebliebenen auf dem Markt zusammen und sagte ihnen, daß die Russen nur mit den Soldaten kämpfen, nicht mit dem Volk; er ermahnte, freundlich gegen die russischen Soldaten zu sein und wenn ihnen ein Unrecht geschehe, es ihm mitzuteilen. Während er noch redete, ertönten Schüsse von dem Ende der Straße am Ausgang des Dorfes; der Offizier lief nach der Richtung, mit ihm die Soldaten, welche bei ihm waren.

Unter den Zurückgebliebenen befand sich eine arme Familie mit drei Kindern, von denen das älteste, ein Knabe, acht, und das jüngste ein Jahr alt war. Der Mann war teilweise gelähmt, hinkte und machte wunderliche Armbewegungen beim Gehen. Wie die Leute auf dem Marktplatz allein gelassen waren, drängten sie sich verängstigt zusammen; der Hinkende machte sich auf den Weg, um nachzusehen, was geschehen sein konnte.

Das Dorf wurde von Deutschen angegriffen, welche die Russen verjagen wollten. Die Deutschen waren im Feld versteckt und schossen, die Russen hatten Deckung in den Häusern gesucht. Der Hinkende ging allein auf der leeren Straße; ein Russe mochte wohl annehmen, daß er den Deutschen draußen Zeichen gab, denn plötzlich richtete sich aus einem Haus ein Gewehrlauf auf ihn, er erhielt einen Schuß und fiel hin, mit dem Gesicht auf den Boden.

Die Leute auf dem Marktplatz, die alles sehen konnten, schrien auf. Die meisten liefen in ihre Häuser; nur die Frau des Ermordeten, das eine Kind auf dem Arm, das andere an der Hand und das älteste an ihren Rockfalten, starrte die Straße hinunter. Jetzt erschienen deutsche Soldaten und stürzten in die Häuser, Russen liefen auf die Straße; die Frau stand vor der offenen Kirchtür, denn der Pfarrer hatte gerade eine Leiche einsegnen wollen, als der Offizier die Leute zusammenrufen ließ; die Leiche stand noch in der Kirche im offenen Sarg, eine alte Frau, die vor Schrecken gestorben war, denn sie hatte als Kind viel von den napoleonischen Kriegen gehört. Nun zog der Knabe seine Mutter am Rock in die Kirche. Sie folgte ihm besinnungslos, ging an dem Sarg vorbei hinter den Altar und kauerte sich da mit den Kindern nieder. Das Jüngste war erwacht, rieb sich verdrießlich das Näschen und wollte schreien; sie öffnete gedankenlos die Jackenknöpfe und reichte ihm die Brust; es faßte gierig zu, ergriff die Brust mit beiden Händchen und trank. Nun war nur noch eine Schwalbe in der Kirche, die lautlos unter dem Gewölbe hin und her flog oder hörbar an einem Fenster flatterte. Von draußen aber ertönten Schüsse, Schreien, Fluchen und Jammern.

Der russische Offizier trat in die Kirche. Er stützte sich auf ein Gewehr, kam mühsam nach hinten und ließ sich schwer neben der Frau nieder, hinter dem Altar.

Ein Bild, das früher vorn in der Kirche gehangen hatte, hing hier, in dem Gang hinter dem Altar, an der geweißten Wand unter dem Fenster, ein verstaubter bunter Steindruck, der einen segnenden Christus darstellte, mit der Unterschrift: »Frieden auf Erden«. Der Offizier war in großer Erregung und mußte reden. Er zeigte auf das Bild und sagte bitter: »Frieden auf Erden«. Die Frau neben ihm antwortete nicht; die beiden älteren Kinder hingen erschrocken an seinem Gesicht; der Säugling war aufmerksam geworden; er hörte auf zu trinken und wendete ihm den Kopf zu. Der Offizier hatte ein Fernglas um den Hals hängen, das dem Kind durch sein Blitzen in die Augen fiel; es griff ungeschickt mit der Hand nach dem Glas und beugte sich vor.

Der Offizier nahm das Kind aus dem willenlosen Arm der Mutter, hielt es sich vor das Gesicht; das Kind strampelte mit den Beinchen und jauchzte. Dem Mann liefen Tränen in den blonden Bart, er sagte: »Ich habe auch Kinder zu Hause, das Kind ist so arm wie ich.« Die tiefe Stimme erschreckte vielleicht das Kleine; das eben noch strahlende Gesicht verzog sich, es wollte weinen. »Still, still,« sagte der Offizier und drückte es ängstlich an sich; »wenn die Deutschen uns hören, dann erschießen sie uns.«

Das Schießen war verstummt, nun hörte man draußen auf dem Marktplatz, auf der Straße, eiliges Gehen und Rufen von Soldaten. Das Kind hatte sich beruhigt, es spielte mit dem blitzenden Fernglas. Die Mutter und die anderen Kinder sahen ängstlich auf die beiden. Endlich fragte die Frau: »Sind das die Deutschen?« Der Offizier nickte; es war, als ob die beiden ganz vergessen hätten, daß sie ja den feindlichen Völkern angehörten. Der älteste Knabe rief: »Die Deutschen haben gesiegt,« wollte aufstehen und aus der Kirche laufen; aber der Offizier hielt ihn an der Jacke zurück, und er blieb sitzen, indem er den Offizier verwundert anstarrte. »Sind Sie verwundet?« fragte die Frau weiter. Der Offizier nickte wieder.

Da hörte man über den Platz eine laute Stimme eines Mannes, der einem andern zurief; die in der Kirche vernahmen nur die Schlußworte: »... in der Kirche nachsehen«. Ein Mann ging schwer auf die Kirche zu, trat ein.

Der Offizier hatte das Kind schnell der Mutter zurückgegeben, den Revolver vorgezogen und dann sich an das Ende des Altars geschoben, um in die Kirche vorzuspähen. Die Frau hielt die beiden kleinsten Kinder an sich gedrückt. Eben wollte der Offizier auf den Soldaten losschießen, der in die Tür trat und die Hand über die Augen haltend das Innere der Kirche musterte; da warf sich der älteste Junge von hinten auf ihn, der Revolver schlug nieder und entlud sich. Mit ein paar Sprüngen war der Soldat hinter dem Altar; schon hielt er das Gewehr mit dem aufgepflanzten Bajonett hoch und wollte zustechen, der Russe griff mit beiden Händen in das Bajonett; da hatte die Frau den Säugling auf den Boden gelegt und hatte, sich auf den Russen stürzend, sich zwischen die beiden geschoben, soweit das durch das Ringen um die Waffe möglich war. Der Deutsche, ein Mann mit Vollbart und Brille, starrte unschlüssig auf die beiden zu seinen Füßen, dann rief er dem Russen zu: »Willst du dich ergeben?« Der Russe erwiderte nichts; der Deutsche sah den Revolver sich zu Füßen liegen, gab ihm einen Stoß, daß er fortglitt, und fuhr dann fort: »So laß doch los.« Ihm in die Augen starrend ließ der Offizier los, das Blut quoll ihm aus den Händen, er hatte tiefe Schnitte. »Aufstehen!« befahl der Soldat. Der Offizier erhob sich mühsam. »Ich bin verwundet. Beinschuß,« sagte er leise.

Da war es, als ob der Frau erst jetzt mit einem Mal klar wurde, daß ihr Mann erschossen war. »Gustav! Gustav!« schrie sie und stürzte aus der Kirche. Der älteste Knabe schrie mit auf und folgte ihr, der Säugling weinte.

Der deutsche Soldat hob den Säugling auf und nahm ihn auf den Arm; die andere Hand gab er dem älteren Kind, dann winkte er dem Offizier, voraufzugehen; der ergriff das Gewehr, das er vorher an den Altar gelehnt hatte, stützte sich und humpelte nach vorn, und der Deutsche folgte ihm mit den beiden Kindern.


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