Paul Ernst
Die Taufe
Paul Ernst

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Die Hirtenschalmei

Es war in Frankreich zur Zeit der Restauration. Ein Marschall des Kaisers, der auf dem Schlachtfeld zum Herzog gemacht war und dann beim Umschwung der Dinge sich klug zur siegreichen Seite gehalten, reiste mit seiner Gattin und seinem dreizehnjährigen Sohn in einem vornehmen Wagen mit Extrapost; er wollte seine alte Heimat wiedersehen, wo er als Junge barfüßig die Ziegen geweidet hatte. Auf dem Kutschbock saß neben dem stattlichen, tressengeschmückten Postillon der schwarzgekleidete, glattrasierte, schweigsame Diener; der zweite Postillon ritt auf dem linken Vorderpferd des Viergespannes.

Der Herzog beugte sich aus dem Fenster, nickte einem Bauern zu, der, in schwerfälligen Holzschuhen am Wege stehend, die Hand über die Augen gelegt, dem daherrasselnden, blitzenden Wagen entgegengesehen hatte. Der Mann sprang vor Erstaunen oder Schrecken zurück, verlor einen Schuh, bückte sich und schlüpfte wieder hinein. Der Herzog legte sich in seinem Wagen zurück, lachte, daß ihm der Bauch wackelte, haute mit der flachen Hand der Herzogin auf das Knie und sagte: »Das war Meunier, er hat mich nicht erkannt; der hätte Augen gemacht.« Die Herzogin zog eine verletzte Miene und erwiderte: »Aber bitte, Herr Herzog!« Der Herzog krauste ärgerlich die Stirn und sprach zu seinem Sohn: »Deine Mutter auch nicht, wie er sie vor zwanzig Jahren gesehen hat, mit Mannsstiefeln so hoch, wie sie von ihrem Marketenderwagen herunter für zwei Sous Schnaps verkaufte.« Die Herzogin antwortete: »Ich bin müde, ich will etwas zu schlafen versuchen.«

Die Herzogin schlief oder schien zu schlafen, Vater und Sohn schwiegen. Einmal sah der Vater dem Sohn forschend in das blasse Gesicht und sagte: »Nicht immer so hinter den Büchern sitzen, du brauchst dir doch nichts abgehen zu lassen; wie ich so alt war wie du, da hatte ich andere Backen, und da gab's nur hartes Brot und Magerkäse.« Die Landstraße stieg etwas an, die Pferde gingen langsamer, der Herzog kletterte mit seinem Sohn aus, und die beiden gingen neben dem Wagen her. »Ich kann das Schleichen nicht ausstehen,« sagte er, »lieber laufe ich mir die Sohlen wund.«

»Was hat man nun eigentlich von seinem Leben,« fuhr er fort. »Ich habe doch nun alles, was ich wünschen kann: Ich kann essen, was ich will, die Leute buckeln vor mir, ich habe auch einen guten Magen, aber das alles stillt das Sehnen des Herzens nicht. Wenn ich bei den Schafen geblieben wäre, dann wäre ich gescheiter gewesen. Du sollst es ja einmal besser haben wie ich, du heiratest deine hunderttausend Frank Rente.«

Sie waren hinter dem Wagen zurückgeblieben, nun waren sie allein. Mit einem Male hörten sie die Töne einer Hirtenschalmei. Sie gingen einige Schritte vorwärts, um einen freieren Blick zu bekommen, da sahen sie einige hundert Schritte abseits von der Straße, in dem violett blühenden Heidekraut, auf einem abgerundeten einzelnen Felsblock einen Hirtenjungen sitzen; er hatte die nackten braunen Beine von sich gestreckt, die große Zehe stand ihm hoch in der Wonne seines Blasens; die Schafe lagen in dem Heidekraut, einige gingen langsam Kräuter und Gräser abbeißend, ein Lamm hüpfte mit wackelndem Schwänzchen zu seiner Mutter; der Junge aber saß unbekümmert auf dem Felsen, ganz verloren in sein Blasen und Fingern.

Der Sohn sah zu dem alten Herzog auf; dem rollten die Tränen über die gebräunten Wangen, fielen auf die weiße Weste, die über seinem Bauch sich wölbte; er nahm des Sohnes Hand, der fühlte, wie die Hand des Vaters bebte. So schritten sie zusammen durch das Heidekraut. Ein Schaf sprang erschrocken auf, lief mit wackelndem Vliese fort, andere Schafe erhoben sich und liefen, der Hund kam angerannt und sah die beiden fragend an; endlich setzte der Junge seine Schalmei ab und wendete große dunkle Augen mit ruhigem Gesichtsausdruck auf die Herrschaften.

Der Herzog fragte: »Was machst du denn da?«

»Ich hüte,« erwiderte ruhig der Junge.

Ärgerlich setzte sich der Herzog in die Heide, er riß sich die Weste auf und pustete. Dann sagte er zu seinem Sohn: »Ich habe auch gehütet; aber dann bin ich ausgerissen.«

»Bin auch ausgerissen,« sagte der Junge oben.

»Vierundzwanzig Stunden bin ich gelaufen, bis ich zu den Sansculotten kam,« fuhr der Herzog fort. »Da haben sie mich auf ein Pferd gesetzt und dann ging's los. Aber weißt du, nimm dich bloß vor den Weibern in acht. Was könnte ich jetzt für ein Kerl sein, wenn ich nicht deine Mutter immer am Bein gehabt hätte! Der Kaiser hat oft seine Witze über uns gerissen. Aber ich habe nicht auf ihn gehört; na, er hat auf mich ja auch nicht gehört. ›Majestät,‹ sage ich ihm, ›was wollen wir denn noch! Ich habe für zwei Millionen Güter in Preußen. Ich habe genug.‹ Nein, der wollte immer noch mehr haben.«

»Eine schöne Schalmei!« sagte der Hirtenjunge. »Ich habe auch mein ganzes Schwanzgeld dafür bezahlt.« Er reichte die Schalmei dem jungen Herzog. »Aus Birnbaum,« fuhr der Junge fort; »die Ringe sind aus Knochen, das Mundstück ist aus Horn.«

Der Herzog nahm die Schalmei seinem Sohn aus der Hand, setzte sie an den Mund und spielte. Die beiden Jungen sahen ihm erstaunt zu.

Der Herzog setzte die Schalmei ab und fragte den Hirten: »Wieviel Schwanzgeld kriegst du denn?« »Einen Sou,« antwortete der. »Verdammte Aristokratenbrut,« rief der Herzog. »Kommen auch noch unter die Guillotine,« schloß der Hirt ruhig das Gespräch.

Der junge Herzog sah den Schafen zu, welche ruhig standen und fraßen, dem Hund, welcher sich gelagert hatte, jappend die Zunge aus dem Maul hängen ließ und aufmerksam seinem Herrn ins Gesicht blickte; die Luft zitterte leise durch die Sonnenglut über der blühenden Heide; der Hirt dehnte sich auf seinem Stein, dann legte er sich auf den Rücken, die Arme unter den Kopf und sah in den blauen Himmel, der Hund streckte sich lang aus und blinzelte mit den Augen.

»Wie hast du denn das gemacht, wie du ausgerissen bist?« fragte der junge Herzog den Hirten. »Na, so, bin ausgerissen,« antwortete der. Nach einer Pause fügte er hinzu: »Mein Alter hatte mich zu einem Schneider in die Lehre gegeben, paßte mir eben nicht. Ich, des Nachts aufgestanden, mich angezogen, aus dem Fenster, und fort.«

»Und hast du denn gleich eine Stellung bekommen?« fragte der junge Herzog weiter.

»Gebt mir meine Flöte wieder, Ihr macht sie mir noch kaputt,« antwortete der Junge. »Natürlich, die freuen sich, wenn sie überhaupt einen Jungen kriegen für die Schafe.«

Der Herzog stand auf, nahm seinen Sohn an der Hand, sagte: »Die Lebensverhältnisse im Volk sind einfacher wie in unseren Kreisen, sie nähern sich mehr dem Naturzustand,« und ging mit ihm fort, auf die Landstraße zurück. Die beiden gingen eine Weile, dann trafen sie auf den Wagen, der sie erwartete. Der Diener stand neben dem Schlag, den Zylinder in der Hand, öffnete die Tür, die beiden stiegen ein.

Die Herzogin versteckte ein Fläschchen und sprach: »Und das sage ich Ihnen, Herr Herzog, ich verlange, daß der Herzog von Aumale sich entschuldigt. Ich brauche nicht neben einem kleinen Leutnant zu sitzen. Er ist Herzog und ich bin Herzogin. Was mache ich mir aus seinen Ahnen! Ich habe auch Ahnen. Majestät haben mir gesagt: ›Aber was haben Frau Herzogin für prachtvolles Haar.‹ Habe ich auch ...« Und in ähnlicher Weise redete sie weiter.

Vater und Sohn schwiegen; der Vater trommelte mit der Hand auf der Wagentür; der Sohn hatte ein Stückchen Papier aus der Brusttasche gezogen und schrieb verstohlen einige Zeilen auf. »Was schreibst du denn da?« fragte der Herzog; der Sohn errötete tief und antwortete stotternd: »Ich... ich... ich möchte wohl, daß Lamartine das Leben des Hirten besänge.« Der Herzog seufzte tief, dann sagte er: »Daß die von der leichten Kavallerie doch alle so einen verfluchten Wanst bekommen mit den Jahren. Ich bin ganz außer Atem. Wozu bezahlt man eigentlich den Ärzten das viele Geld! Arme und Beine abschneiden, weiter verstehen sie nichts!«

Der Wagen kam in dem Bestimmungsort an; der Postillon auf dem vorderen Pferd blies ein lustiges Stück, alle Leute stürzten zu den Fenstern, im schnellsten Lauf rasselte der Wagen durch die Straßen; vor dem Gasthaus stand der Wirt im besten Anzug, mit einem Orden auf der Brust, die Kellner, der Schlag wurde aufgerissen, die herzogliche Familie stieg heraus; die ganze Zimmerfront war für sie belegt, und auf dem Markt sammelten sich die Leute, um nach den Fenstern hochzusehen, wo die Herrschaften wohnten.

Das Essen wurde gebracht, viele Gänge; der Wirt servierte selber, er sagte: »Hier lasse ich eine Tafel anbringen, daß die Herrschaften in diesen Zimmern gewohnt haben. Das ist eine Ehre für Kinder und Kindeskinder.«

Der junge Herzog aß wenig, er sah oft traurig zu seinem Vater hin. Der streichelte ihm mit der Hand über den Kopf und sagte »Guter Junge, guter Junge«. Nach dem Essen schmiegte er sich an den Vater und fragte: »Darf ich etwas bei dir bleiben?« Der Herzog streichelte ihn wieder und sagte »Guter Junge, guter Junge«. Nach einer Weile schickte er ihn ins Bett; der Junge küßte ihn auf den Mund, küßte der Mutter die Hand und ging. Wie die Alten allein waren, sagte der Vater: »Ja, wenn man den Jungen nicht hätte, dann wüßte man nicht, wozu man lebt.«

Der junge Herzog hatte sich den Anzug des Hirten genau angesehen; er bestand aus einer zerlumpten Hose, die bis an die Knie ging, und einem Hemd; dann war da noch etwas wie ein Mantel, auf dem er saß. Wie er nun allein war, da schnitt er seine Hose ab, suchte sich ein einfaches, ungesticktes Nachthemd aus und nahm eine Reisedecke; das alles legte er zur Seite; und wie es tiefe Nacht war, da zog er das Vorbereitete an, schlich auf den Zehenspitzen die Treppe hinunter, öffnete das Flurfenster, stieg hinaus, drückte es wieder fest und lief dann eilig aus der Stadt. Er ging eine Strecke auf der Landstraße, dann bog er in den Wald.

Am anderen Tag suchten die Eltern nach ihm; sie suchten im ganzen Hause, sie suchten in der Stadt, auf den Landstraßen, in der ganzen Gegend, alle Dienstboten wurden verhört, man schrieb Artikel in der Zeitung, man bot Belohnungen aus, die Polizei gab überall Nachricht im Lande; aber der junge Herzog blieb verschwunden.


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