Paul Ernst
Die Taufe
Paul Ernst

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Fortsetzung der Geschichte von der Taufe

Der Erzähler der letzten Geschichte hatte geendet, und eben wollte ein Nachbar seine Erzählung beginnen. Man räusperte sich, rückte auf den Stühlen; dieser nahm seine Tasse und trank einen Schluck Kaffee, ein anderer machte eine leise Bemerkung zu seinem Nachbarn.

Plötzlich verspürte man eine merkwürdige Unruhe im Haus; Türen wurden geschlagen, auf den Gängen liefen hastig Leute, ein Fenster klirrte, man hörte Rufen, ein lautes weibliches Klagen erscholl. Die Gäste sahen sich verwundert an, Herr v. Brake erhob sich und ging zur Tür; eine Dame hatte von außen die Tür aufgerissen, stürzte ihm entgegen und rief: »Das Kind ist fort, es ist von den Zigeunern gestohlen.«

Die Anwesenden waren zunächst mehr erstaunt als erschrocken. Zuerst teilte sich die Erregung den Damen mit; dann dem jungen Vater, dann Herrn v. Brake, indessen die anderen Herren noch eine Weile ungläubig waren. Alle aber standen auf, fragten, verließen das Zimmer und kehrten zurück, suchten Erkundigungen einzuziehen, wo man denn die Zigeuner gesehen hatte; Herr v. Brake eilte zum Telephon und benachrichtigte die Polizei; der als Gast anwesende Landrat verlangte, daß ihm ein Pferd gesattelt werde; die Kinderfrau erzählte beständig, daß eine Zigeunerin vor ihr im Gange gestanden habe, wie aus der Erde gewachsen, die ein Bündel im Arm gehabt und ihr zugewinkt habe, zu schweigen.

Bei Taufen ist der Täufling ja gewöhnlich eine nebensächliche Person. Er wird getauft, er bekommt seine Milch, man bündelt ihn aus und wickelt ihn wieder ein, und sonst bekümmert man sich nicht um ihn.

Die junge Frau war nach der Taufe mit dem Kleinen ins Schlafzimmer gegangen und hatte ihm die Brust gegeben. Wegen der versalzenen Suppe war sie dann noch rechtzeitig zum Essen gekommen; sie hatte die letzte Geschichte mit angehört, und nun war es wieder Zeit gewesen, daß er Nahrung bekam. Sie hatte die Gesellschaft unbemerkt verlassen und war zum Schlafzimmer geeilt. Aber wie sie an das Bett des Kindes getreten, da hatte sie nur zerwühlte Kissen gesehen, und das Kind fehlte. Sie hatte geklingelt, das Stubenmädchen war gekommen, sie hatte das Stubenmädchen gefragt, das Stubenmädchen hatte von nichts gewußt; die beiden Frauen waren ängstlich geworden, hatten gesucht, niemand hatte ihnen etwas sagen können. Das ganze Haus war durchforscht, das Kind war nirgends zu finden.

Georg Müller hatte mit Paul Ernst abgemacht, daß er die neue Novellensammlung »Die Taufe« verlegen sollte, weil »Die Hochzeit« ein so fabelhafter buchhändlerischer Erfolg gewesen war. Müller, welcher mit zu den Geladenen gehörte, sah sofort ein, daß der unbefriedigende und unwahrscheinliche Schluß, daß das Kind von Zigeunern geraubt sein sollte, dem Buch sehr schaden mußte. Er beschloß deshalb, mit mehr System nachzuforschen, und vielleicht den merkwürdigen Vorfall aufzuklären.

Er fragte zunächst die Kinderfrau nach der Zigeunerin, und die erzählte denn auch willig, daß es vielleicht mehrere Zigeuner gewesen seien, und daß sie jedenfalls wie aus der Erde gewachsen auf dem Gange vor ihr gestanden hätten. Es wären auch Männer dabei gewesen, und einer hatte ein Gewehr gehabt. Müller fragte weiter, wie die Kinderfrau auf den Gang gekommen sei, und die Frau erzählte, sie sei von dem Kind gekommen, das geschlafen habe wie ein Engel und so gesund ausgesehen habe, was auch kein Wunder sei, wenn man die Eltern betrachte, und der Herr Professor werde ja wohl auch glücklich durch den Krieg kommen, denn bis jetzt habe ihn ja unberufen noch keine Kugel getroffen. Müller unterbrach sie und erkundigte sich, wo sie das Kind zuletzt gesehen habe; die Frau antwortete, sie habe es natürlich zuletzt in ihrer Stube gesehen, wohin sie es aus dem Schlafzimmer gebracht, weil es in dem Schlafzimmer zu kalt für das arme Wurm gewesen sei, und die moderne Hygiene verlange, daß die Kinder warm liegen, weil sie sonst blutarm werden. Nun ließ sich Müller die Stube der Kinderfrau zeigen, sie lag neben dem Schlafzimmer der jungen Mutter; als die beiden die Tür öffneten, sahen sie einen grauen Regenmantel über das Bett der Frau geworfen. »Ach Gott, wie unordentlich!« rief die Frau verwirrt, »was muß der Herr von mir denken, habe ich den Mantel vergessen aufzuhängen,« und damit nahm sie den Mantel von dem Bett. Unter dem Mantel aber lag, zufrieden schlummernd, der Säugling. Er schien zu träumen, daß er trinke, denn er schmatzte behaglich mit den Lippen.

Georg Müller ist Junggeselle und versteht nicht mit kleinen Kindern umzugehen. Deshalb nahm er das Kind nicht selber, sondern bedeutete die Frau, es zu nehmen, die es denn mit verwirrtem Gesichtsausdruck aufhob und zu ihm sagte: »Haben dich die Zigeuner stehlen wollen, mein Goldkind! Die schwarzen Zigeuner! Haue, Haue müssen sie kriegen!« Der Säugling erwachte, rieb sich die Augen, verzog das Gesicht und begann zu weinen.

Die beiden gingen in den Saal, wo die Gesellschaft versammelt war. Die unglückliche junge Mutter lag auf einem Ruhebett ohnmächtig, der junge Gatte und andere Freunde waren um sie beschäftigt. Aber wie das Schreien des Kindes erscholl, da schlug sie die Augen auf, stürzte auf die Frau zu, entriß ihr das Kind und drückte es an ihr Herz.

Die Freude der Mutter über ihr wiedergefundenes Kind ist natürlich nicht zu schildern. Wir berichten also nur, daß sich alle wieder beruhigten.

Nun war ja eigentlich die Feststimmung gestört, und die meisten der Gäste dachten auch daran, nach Hause zu fahren. Aber dann wären doch nicht genug Novellen zusammengekommen. Deshalb bemühte sich Müller, wenigstens einen Teil der Herren, die ja ohnehin nicht so durch den Vorfall aufgeregt gewesen waren wie die Frauen, wieder im Rauchzimmer zu sammeln. Es gelang ihm auch; man setzte sich, jeder steckte sich eine Zigarre an, man kam schnell wieder in behagliche Stimmung, und bald wurde die erste Geschichte erzählt; da war der Bann gebrochen, und die anderen Geschichten folgten.

Dieses sind nun die Novellen, die im Rauchzimmer erzählt wurden.


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