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Ein jungverheirateter Klavierarbeiter zog in ein Dorf. Er mußte über eine Stunde zu seiner Fabrik gehen; in dem Dorfe wohnten nur zwei große und eine Anzahl kleiner Bauern nebst etwa einem Dutzend Tagelöhnern, so daß er keinerlei Verkehr oder Ansprache fand; dennoch hatte es ihn aus der Stadt getrieben, wo er in einem großen Miethaus gewohnt, denn er war ein etwas wunderlicher und einsiedlerischer Mensch, der viel las und gern im Freien herumging, wo er denn, wie er sich ausdrückte, Gott in der Natur anbetete.
Seine Wohnung, eine leerstehende Tagelöhnerkate, hatte er von dem einen Großbauern gemietet; hinter dem Hause war ein Stall für ein paar Schweine und Ziegen und ein Stück Garten. Da die Frau nicht vom Lande war, so hielt er sich kein Vieh, aber er besorgte fleißig und ordentlich seinen Garten, zog sich Gemüse und pflegte einige Blumenbeete. Die andern Bauern sahen den Zügling nicht gern, denn da er ein vermögensloser Mann war, so fürchteten sie, daß er einmal der Gemeinde zur Last fallen könne, und dachten, daß sie schon genug Armenkosten zu tragen hatten für die Tagelöhner, die seit undenklichen Zeiten in dem Dorf ansässig waren und doch auch bei der Arbeit gebraucht wurden; sie suchten deshalb in der ersten Zeit ihm das Leben zu verleiden, indem sie nächtlich seinen Garten zerstörten, der Frau keine Milch verkauften und Klage über ihn beim Gendarmen führten, daß er ein Sozialdemokrat sei; der Mann aber, der ihm das Haus vermietet hatte, erklärte ihnen, sein Haus habe leer gestanden und keiner von ihnen ersetze ihm den Verlust; seine Überzeugungen könne jeder haben, wenn er nur Steuern und Miete zahle; und die Neuzeit werde auch in ihrem Dorfe ihre Forderungen geltend machen, und wenn sich die Einwohner noch so sehr gegen sie sträubten.
Nach einiger Zeit wurde dem Arbeiter ein Sohn geboren; er ging zum Pfarrer und ließ ihn taufen; die Paten nahm er aus seinen Genossen in der Fabrik.
Indem er nun Jahr für Jahr still und allein mit seiner Frau und dem kleinen Kinde dahinlebte, geschah es, daß die Frau am Typhus erkrankte, weil der Brunnen im Hofe ungesundes Wasser hatte; ein paar Tage darauf befiel die Krankheit ihn selber; bei beiden war der Anfall schwer, und so konnten sie denn nicht gerettet werden. Der Knabe, welcher damals etwa zehn Jahre alt sein mochte, war während der Krankheit zu dem Bauern getan, dem das Haus gehörte; als nach dem Tode der Mutter der Vater merkte, daß es auch bei ihm auf das Letzte ging, ließ er ihn noch einmal zu sich kommen; er stand in seinem Sonntagsanzug mit staubigen Stiefeln vor dem Bett; der Vater weinte, ermahnte ihn, daß er ein nützliches Mitglied der menschlichen Gesellschaft werden solle, und zeigte endlich auf sein kleines Bücherbrett, indem er sagte: »Die Bücher sind mir immer nach dir und deiner Mutter das Liebste auf der Welt gewesen, denn Bildung macht frei. Wenn ich tot bin, so sorge dafür, daß sie nicht verkauft werden, denn da werden sie nur verschleudert; sondern hebe sie auf für später, wenn du Verstand hast, in ihnen zu lesen.« Die Bücher waren aber Zimmermanns Wunder der Urwelt, Bebels Frau, Beckers Weltgeschichte und Schillers und Körners Werke.
Da der Mann lange Jahre in der Gemeinde gewohnt hatte, so hatte er den Unterstützungswohnsitz erworben, und die Gemeinde war verpflichtet, den Knaben zu erziehen. Es hatte sich ein Sparkassenbuch vorgefunden, dessen Betrag gerade für die Kosten der Beerdigung langte. In der Gemeindesitzung wurde beschlossen, die Habseligkeiten zu verkaufen, damit zunächst die Miete des begonnenen Halbjahrs und einige laufende, kleine Schulden bezahlt werden konnten; den Rest des Geldes mußte dann der Gemeindevorsteher verwalten und, soweit es reichte, den Unterhalt des Knaben mit ihm bestreiten; sollte es aufgebraucht werden, ehe der Knabe seinen Unterhalt verdienen konnte, so hatte die Gemeindekasse für ihn zu bezahlen. Man machte dem Bauern, welchem das Haus gehörte, heftige Vorwürfe, daß er der Gemeinde die Last aufgeladen habe, und er konnte nichts erwidern. Es wollte keiner von den anwesenden Männern den Knaben zu sich nehmen, obwohl eine hinreichende Entschädigung ausgesetzt wurde; jeder hatte Mißtrauen, weil die Eltern fremd gewesen waren; nicht, daß man etwas Böses von dem Jungen vermutet hätte; aber man hielt dafür, daß er für ländliche Arbeit nicht geeignet sein könne, und daß man mehr Ärger an ihm haben werde, wie der Verdienst wert sei. So sah sich denn der Hauswirt der Eltern anstandshalber genötigt, zu erklären, daß er selber den Knaben bei sich behalten wolle.
Der Mann ging gleich nach der Sitzung zu dem Haus, wo der Junge nach der Beerdigung der Eltern allein gesessen. Es hatte niemand an ihn gedacht, und so war er denn den ganzen Tag ohne Nahrung geblieben, nur daß er noch einen harten Brotknust im Schapp gefunden, den er gegessen.
Der Mann sagte dem Jungen, daß er zu seinem Vormund bestellt sei und ihn zu sich ins Haus nehmen wolle, und daß der Besitz der Eltern verkauft werden müsse, damit ein Teil der Unkosten, die er der Gemeinde mache, gedeckt werde. Er gehe eigentlich die Gemeinde nichts an, sein Vater habe in der Stadt gearbeitet, und das Recht wäre, daß der Fabrikherr, der den Vorteil von ihm gehabt, nun auch die Kosten trage; aber das Gesetz sei nun einmal so, und es sei nichts dagegen zu tun. Er selber werde ja später auch der Gemeinde mit Undank lohnen und, wenn er so weit sei, daß sie etwas von ihm haben könnte, in der Stadt arbeiten.
Dann sah sich der Mann die Möbel und Gegenstände in Stube, Kammer und Küche an. Die Eltern des Knaben hatten, als sie heirateten, alles mit Liebe von ihrem Ersparten gekauft und es dann immer ordentlich gehalten und geschont. Die Möbel in der Stube waren nußbaumfourniert: das Vertiko, der runde Tisch mit der rotplüschenen Tischdecke und der Visitenkartenschale darauf, das Sofa und die Stühle. An der Seitenwand stand ein viereckiger gestrichener Tisch, auf dem eine rot und weiß gewebte Leinendecke lag, mit drei gestrichenen Stühlen, die untergeschoben waren; der Vater hatte immer gesagt, es sei Unsinn, wenn man seine schönen Sachen nur zum Ansehen habe, er wolle sie auch benutzen; und deshalb hatte die Familie nicht in der Küche gegessen, sondern in der Stube an diesem Tisch, der jedesmal mit einem weißen Tischtuch gedeckt wurde. Der Bauer machte eine mißbilligende Bemerkung über den Leichtsinn der Arbeiter, die nichts haben, aber in polierten Möbeln leben müssen; dann wendete er sich in die Ecke zu dem kleinen Bücherbort und zuckte die Achseln. Der Junge nahm sich ein Herz und bat für die Bücher, weil sein Vater ihm die im Sterben noch anempfohlen; der Mann erwiderte, er solle einmal ein ordentlicher Mensch werden; zum Bücherlesen habe ein Arbeiter keine Zeit.
So wurde denn nun alles verkauft und der Junge kam zu seinem Vormund. In der Schule war er schon immer der Beste gewesen, und das blieb er auch, trotzdem er sich die Zeit für die Schulaufgaben stehlen mußte, denn er wurde zu allerhand Arbeiten in der Wirtschaft verwendet. Der Lehrer war noch ein junger Mensch mit hochgezogenem Schnurrbart; er sagte ihm einmal: »Schade, daß kein Geld da ist, du hast die Gaben, und könntest das Seminar besuchen und Lehrer werden.« Das letzte Schuljahr ging er dem Lehrer schon zur Hand, indem er die Kleinen unterrichtete.
Nach der Konfirmation nahm ihn der Vormund zu sich in die gute Stube, die er vorher noch nie betreten, und sagte zu ihm, daß er und die Gemeinde sich nun Mühe mit ihm gegeben und Kosten von ihm gehabt haben; auf Dank mache niemand Anspruch; er wolle ihn aber weiter bei sich behalten als Jungknecht und ihm auch einen Lohn zahlen, denn er sehe, daß er ordentlich und fleißig sei und immer den Vorteil seines Herrn im Auge habe. Der Junge dachte, daß es doch gut von dem Manne sei, daß er ihn behalten wolle, denn er hatte vor der Konfirmation immer Angst gehabt, daß er nun zu fremden Leuten müsse, und so sagte er mit dankbarem Gemüt: »Abgemacht, Bauer.«
Er bekam zuerst ein Gespann Ochsen; und weil der Bauer sah, daß er ihm vertrauen konnte, so nahm er ihn schon nach einem Jahr zu den Pferden.
Die Gemeinde hatte ihm noch den Konfirmationsanzug, zwei Hemden, zwei Kragen, Strümpfe und Taschentücher gekauft; nun mußte er sich selber seine Kleider beschaffen. In den ersten zwei Jahren ging sein Lohn dafür auf, weil er sich ganz ausstatten mußte; dann aber nahm ihm der Bauer ein Sparkassenbuch und zahlte ihm sein Geld regelmäßig ein. Der junge Mann dachte wohl, wie schön es wäre, wenn er sich jetzt Schillers Werke kaufen könnte, aber dann wagte er es doch nicht, seinem Herrn davon zu sprechen, weil das so hätte aussehen können wie Undankbarkeit. Er überlegte sich auch, daß er ja doch wenig Zeit zum Lesen hatte, denn am Sonntag war er meistens so müde, daß er schlief.
Nun kam plötzlich die Kriegserklärung; alle Reservisten aus dem Dorf fuhren ab; viele der Mütter weinten; einige der jungen Leute waren verlobt, einer war auch schon verheiratet; es ging das Gerücht, daß bald auch ältere Männer eingezogen würden. Viele hatten ein schweres Herz, wenn sie an Wirtschaft und Familie dachten, aber sie sagten: »Es nützt nichts, seine Pflicht muß man tun, und hereinkommen dürfen sie ja nicht.«
Der junge Knecht, der eben siebzehn Jahre alt geworden war, dachte, daß er keine Eltern zurückließ, weder Braut, noch Frau und Kinder, und daß es deshalb besser sei, wenn er mitginge, wie ein anderer. So sprach er denn zu seinem Herrn, daß er sich als Freiwilliger stellen wolle. Dem war das wohl nicht lieb, aber er konnte ihm auch nichts gegen seinen Plan sagen, und so antwortete er ihm nur: »Tu, was du nicht lassen kannst.« So zog er denn seinen guten Anzug an und ging in die Stadt zum Bezirkskommando, und dann erhielt er die Papiere und es wurde ihm angewiesen, wohin er fahren solle.
Unterwegs traf er mit anderen jungen Männern zusammen, Reservisten und Freiwilligen; alle waren fröhlich und stolz, obwohl doch die meisten schweren Herzens fortgegangen sein mochten; es wurden Geschichten erzählt von Freiwilligen, die man nicht hatte nehmen wollen und die sich doch mit eingeschmuggelt; es wurde gesagt, daß es eine schwere Arbeit geben werde, aber daß sie doch geschafft würde; Lieder wurden gesungen; an den Haltestellen warteten junge Mädchen, Frauen und ältere Damen, welche Kaffee, Brote, Blumen verteilten. Er stand schüchtern vor seinem Wagenabteil; da kam ein feines, ganz junges Mädchen und drückte ihm einen Blumenstrauß in die Hand, als wenn er ein feiner, junger Herr wäre. Dann lebte er in einer Kaserne und mußte ausgebildet werden; der Unteroffizier war oft grob, denn manche von den anderen waren auch zu ungeschickt; gegen ihn war er fast immer freundlich; einmal fragte er ihn, ob er weiterdienen wolle, ein tüchtiger Kerl könne jetzt sein Glück machen.
Nach kurzer Zeit kam er mit den anderen aus der Kaserne und fuhr wieder mit der Eisenbahn. Sie fuhren lange, dann erschienen die ersten zerschossenen Dörfer. Als sie ausstiegen, marschierte gerade eine Kompagnie im Schnellschritt vorüber, braungebrannt, schmutzig; sie riefen Hurra, als sie die Leute sahen, und die winkten ihnen freundlich zu. Gleich vom Bahnhof aus wurden sie eilig geführt, erst auf der Landstraße, dann gingen sie einzeln hintereinander im Straßengraben. Schon lange hörten sie das Donnern der Geschütze.
Da, was war das? Er erhielt einen Schlag, daß er hinstürzte. Es wurde geschrien, geschossen, die Kameraden lagen im Graben und schossen über den Straßenrand. Er fühlte sehr viel Nässe auf der Brust, – das war sein Blut. Nun wurden ihm die Zweige der Bäume in der Luft unklar.
»Ich hatte nicht gedacht, daß es so schön ist, ein Vaterland zu haben,« sagte er. Er sagte es laut, obwohl er nicht wußte, ob ihm jemand zuhörte; dann schwanden ihm die Sinne.