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Einundzwanzigster Abschnitt.

Am andern Morgen, als Silas und Eppie beim Frühstück saßen, sagte er zu ihr:

»Eppie, mir hat diese zwei Jahre etwas im Sinn gelegen, und nun das Geld wieder da ist, können wir es ausführen. [213] Letzte Nacht hab' ich's mir ordentlich überlegt, und ich denke, wir benutzen die schönen Tage und machen uns schon morgen auf. Für das Haus wird Dorchen sorgen, und ein kleines Bündel mit Sachen nehmen wir mit und gehen fort.«

»Wohin denn, Papa?« fragte Eppie höchlich überrascht.

»Nach meiner alten Heimath – nach meinem Geburtsorte – in die Laternengasse. Ich möchte unsern alten Vorsteher Paston wiedersehen; vielleicht ist etwas herausgekommen, und sie haben meine Unschuld erkannt. Und Paston war ein recht erleuchteter Mann – auch über das Loosen möcht' ich gern mit ihm sprechen. Und ich möchte ihm auch von der Religion hier zu Lande etwas sagen, denn ich glaube beinah, er kennt sie noch gar nicht.«

Eppie war sehr erfreut über diesen Plan, der ihr nicht nur die Aussicht eröffnete, eine fremde Gegend zu sehen, sondern auch bei der Rückkehr alles an Aaron zu erzählen. Aaron wußte so viel mehr als sie, daß sie sich recht freute, auch mal gegen ihn ein bischen im Vortheil zu sein. Frau Winthrop hatte zwar eine unbestimmte Angst vor den Gefahren einer so weiten Reise und mußte wiederholt mit der Versicherung beruhigt werden, es gebe auf der ganzen Reise überall Kärrnerwagen und sonstige Fahrgelegenheit, aber sie war doch damit einverstanden, daß Silas seine Heimat wiedersähe und heraus zu bringen suche, ob er von jenem falschen Verdachte gereinigt sei.

»Ihr werdet dann ruhiger sein, Meister Marner«, sagte Dorchen, »das ist gewiß. Und wenn Ihr Euch in der Gasse, von der Ihr sprecht, Erleuchtung holen könnt, die haben wir in dieser Welt nöthig, und es sollte mich recht freuen, wenn Ihr die mit heim brächtet.«

Am vierten Tage darauf wanderten Silas und Eppie, in ihren Sonntagskleidern und ein kleines Bündel in ein blau leinenes Taschentuch eingeschlagen, durch die Straßen einer großen Fabrikstadt. Silas war ganz verwirrt über die Veränderung, welche drei Jahrzehnte über seinen Geburtsort gebracht hatten, und sprach mehrere Leute auf der Straße an, um sie nach dem [214] Namen dieser Stadt zu fragen, damit er auch ganz sicher sei, daß er sich nicht irre.

»Frag' nach der Laternengasse, Vater – frag' diesen Herrn mit den Quasten auf den Schultern, der da vor dem Laden steht; er hat's nicht so eilig wie die andern«, sagte Eppie, der die Verwirrung ihres Vaters leid that, und die sich auch selbst bei all dem Geräusch und Gewirr und den vielen fremden gleichgültigen Gesichtern sehr unbehaglich fühlte.

»Ih, Kind, der wird nichts davon wissen«, sagte Silas; »vornehme Leute kamen nie in unsere Gasse. Aber vielleicht kann mir einer sagen, wie wir nach der Gefängnißstraße kommen; von da weiß ich den Weg, als wenn ich ihn erst gestern gemacht hätte.«

Nicht ohne Schwierigkeit erreichten sie nach manchen Wendungen und neuen Fragen die Gefängnißstraße, und die düstern Mauern des Gefängnisses – das erste was wieder einem Bilde in Marner's Gedächtniß entsprach, – gaben ihm die freudige Gewißheit, die ihm keine Versicherung über den Namen der Stadt bisher gegeben hatte, daß er wirklich in seinem Geburtsort sei.

»Aha«, sagte er tief aufathmend, »da ist das Gefängniß, das ist noch unverändert; jetzt bin ich nicht mehr bange. Die dritte Straße linker Hand, da müssen wir hin.«

»O, was ist das für ein düsteres häßliches Haus«, sagte Eppie, »es verdeckt einem ja den Himmel! das ist noch schlimmer als unser Arbeitshaus. Ich bin recht froh, daß Du nicht mehr in dieser Stadt lebst, Vater. Ist die Laternengasse auch so wie diese Straße?«

»Du Herzenskind«, sagte Silas lächelnd, »es ist lange nicht so 'ne breite Straße wie diese. Hier mochte ich selbst nie sein, aber die Laternengasse hatte ich gern. Die Läden sind alle anders geworden, glaub' ich, ich kenne sie nicht mehr, aber an der dritten Ecke links, das ist richtig.«

»Da sind wir«, sagte er vergnügt, als sie in eine enge Gasse einbogen. »Und dann müssen wir wieder links, und dann ein bischen grad aus, die Schuhgasse hinauf, und dann sind wir [215] da; das Fenster des Eckhauses tritt etwas vor, und wo die Straße sich biegt, ist eine kleine Gosse – oh, ich sehe schon alles vor mir.«

»Vater, mir ist's, als verginge mir der Athem«, sagte Eppie. »Ich hätte nie geglaubt, daß Menschen so dicht auf einander wohnen können. Wie hübsch wird's am Steinbruch sein, wenn wir erst wieder da sind!«

»Jetzt kommt's mir auch kurios vor, Kind, und wie schlecht es hier riecht! Früher roch es doch nicht so.«

Hier und da sah ein blasses, schmutziges Gesicht aus einem düstern Hausflur auf die Fremden, und Eppie fühlte sich förmlich erleichtert, als sie aus dem Nebengäßchen in die Schuhgasse einbogen, wo man etwas mehr Himmel sah.

»Du liebe Zeit«, sagte Silas, »da kommen ja Leute aus der Laternengasse, als wären sie um diese Stunde in der Kapelle gewesen; in der Woche ist doch Mittags keine Betstunde!«

Plötzlich fuhr er zusammen und blieb mit einem so betrübten und verwunderten Blick stehen, daß Eppie erschrack. Sie standen vor dem Eingang einer großen Fabrik, aus der viele Männer und Frauen herauskamen, da es grade Mittagszeit war.

»Vater«, sagte Eppie und faßte seinen Arm, »was hast Du?«

Aber sie mußte die Frage mehrmals wiederholen, ehe Silas antworten konnte.

»Alles fort, Kind«, sagte er endlich in großer Aufregung, – »die Laternengasse ist nicht mehr da. Hier muß sie gewesen sein, denn hier ist das Haus mit dem vorspringenden Fenster das kenn' ich – das ist noch unverändert, aber hier haben sie durchgebrochen, und nun steht da die große Fabrik. Es ist alles fort – die Kapelle und alles.«

»Komm hier in den kleinen Bürstenladen und setz Dich, Vater; sie geben Dir gewiß 'nen Stuhl«, sagte Eppie, die im [216]mer sorgte, ihr Vater bekäme wieder einen Anfall. »Vielleicht können Dir die Leute im Laden Auskunft geben.«

Aber weder von dem Bürstenmacher, der erst vor zehn Jahren eingezogen war, als die Fabrik schon stand, noch von irgend einer andern Seite konnte Silas etwas über seine alten Freunde in der Laternengasse oder über den Vorsteher Paston erfahren.

»Es ist alles um und um gekehrt«, sagte Silas am Abend nach der Rückkehr zu Dorchen Winthrop – »der kleine Kirchhof ist weg und alles. Meine alte Heimath ist zerstört; jetzt habe ich keine andere Heimath als diese. Ich werde nie erfahren, ob sie die Wahrheit bei dem Diebstahl herausgekriegt haben, oder ob der alte Vorsteher mir hätte Licht geben können über das Loosen. Mir ist's dunkel, Frau Winthrop, und ich fürchte, es bleibt mir dunkel bis ans Ende.«

»Nun ja, Meister Marner«, sagte Dorchen, deren sanftes Gesicht jetzt von grauem Haar eingefaßt war, »ich fürchte das auch. Die über uns wollen mal, daß uns vieles dunkel bleibt, aber manches giebt's doch auch, wo ich nie im Dunkeln drüber gewesen bin. Euch ist mal hart mitgespielt, Meister Marner, und es scheint, als wenn Ihr nie dahinter kommt, was daran recht war, aber das hindert nicht, daß es ein Recht giebt, Meister Marner, so dunkel es uns auch sein mag, Euch so gut wie mir.

»Nein«, sagte Silas, »nein, das hindert's nicht. Seit mir das Kind gesandt wurde, und ich sie so lieb gewann wie mich selbst, hat mir Licht genug geschienen, dem ich vertrauen konnte, und nun sie sagt, daß sie mich nie verlassen will, werde ich wohl vertrauen bis ich sterbe.«

[217]


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