Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Siebenter Abschnitt.

Im nächsten Augenblick gewann es den Anschein, die Geister seien doch herablassender, als der Küster gemeint hatte; denn plötzlich erschien die bleiche dünne Gestalt Silas Marner's mitten im Zimmer, der ohne ein Wort zu sprechen die Gesellschaft mit seinen seltsamen geisterhaften Augen überblickte. Die langen Pfeifen machten eine gleichzeitige und gleichförmige Bewegung, wie die Fühlhörner erschreckter Insekten, und alle An [65]wesenden, selbst der ungläubige Hufschmied nicht ausgeschlossen, hatten den Eindruck, sie sähen nicht Silas Marner in Fleisch und Bein, sondern eine Erscheinung; denn die Thür, durch die er hereingekommen war, verdeckte ein hoher Vorsatz, und niemand hatte ihn eintreten sehen. Der Küster, der dem Gespenst am fernsten saß, empfand wahrscheinlich eine Siegesfreude, die seinem Antheil an dem allgemeinen Schreck das Gegengewicht hielt. Hatte er nicht immer gesagt, wenn Silas Marner seinen kuriosen Anfall hätte, dann ginge seine Seele außer dem Leibe um? Nun war der Beweis da; indeß, alles in allem hätte er doch gern darauf verzichtet. Einige Augenblicke lang herrschte tiefes Schweigen, da Marner selbst zu aufgeregt und außer Athem war, um sprechen zu können. Endlich erinnerte sich der Wirth, er sei verpflichtet, sein Haus für jedermann offen zu halten, und im Vertrauen auf den Schutz seiner strengen Neutralität nahm er es auf sich, den Geist zu beschwören.

»Meister Marner«, sagte er freundlich zu ihm, »was fehlt Euch? Was sucht Ihr hier?«

»Bestohlen!« antwortete Silas, nach Luft schnappend. »Ich bin bestohlen! Ich verlange den Konstabler – und den Friedensrichter – und Squire Caß – und Euern Pastor.«

»Haltet ihn fest, Hans Rodney«, sagte der Wirth, da er sah, er habe es mit keinem Geist zu thun. »Ich glaube, er ist von Sinnen. Er ist ganz durchnäßt.«

Hans Rodney saß vornan und bequem nahe an der Stelle, wo Marner stand, aber die verlangte Dienstleistung lehnte er ab.

»Kommt doch her und faßt ihn selbst, Herr Wirth, wenn Ihr Lust habt«, erwiderte Hans etwas trotzig. »Er ist bestohlen – und umgebracht auch, wie mir scheint«, fügte er murmelnd hinzu.

»Hans Rodney!« rief Silas, indem er sich umwandte und seinen seltsamen Blick auf den verdächtigen Menschen heftete.

»Ja, Meister Marner, was wollt Ihr von mir?« erwiderte [66] Hans, ein wenig zitternd und indem er zur Vertheidigung nach dem Bierkrug griff.

»Wenn Ihr mein Geld gestohlen habt«, sagte Silas, indem er die Hände flehend verschlang und die Stimme schmerzlich hob, »gebt's mir wieder, und ich will Euch weiter nichts anhaben. Die Polizei soll Euch nichts thun. Gebt's mir wieder und Ihr sollt auch – Ihr sollt auch ein Goldstück haben.«

»Ich Euer Geld gestohlen?« rief Hans ärgerlich. »Ich werfe Euch diesen Krug an den Kopf, wenn Ihr das noch mal sagt.«

»Still, still, Meister Marner«, sagte der Wirth, indem er nun muthig aufstand und den Weber bei der Schulter packte; »wenn Ihr eine Aussage zu machen habt, so sprecht verständig und zeigt, daß Ihr bei Sinnen seid, wenn wir Euch anhören sollen. Ihr seid so naß wie eine Ratte. Setzt Euch hin und trocknet Euch und sprecht gerade heraus.«

»Ja wohl, so ist's Recht«, meinte der Hufschmied, dem es vorkam, er habe sich bisher der Gelegenheit nicht ganz gewachsen gezeigt. »Nichts mehr von Eurem Anstarren und Schreien; sonst muß man Euch binden wie einen Tollen. Darum habe ich bisher auch geschwiegen; ich meinte, Ihr wäret toll.«

»Ja, ja, daß er sich hinsetzt!« riefen mehre Leute auf einmal, höchlich vergnügt, daß es immer noch eine offene Frage blieb, ob es wirklich Geister gebe.

Der Wirth nöthigte Marner, seinen Rock auszuziehen und sich auf einen Stuhl in der Mitte der Gesellschaft und im vollen Scheine des Feuers niederzulassen. Der Weber war zu angegriffen, um an etwas anderes zu denken, als wie er sein Geld wieder bekäme, und fügte sich ohne Widerstand. Die Befürchtungen der Gesellschaft hatten nun einer starken Neugierde Platz gemacht, und alle Gesichter waren auf Silas gerichtet, als der Wirth, der sich wieder gesetzt hatte, zu ihm sagte:

»Und nun, Meister Marner, was habt Ihr von dem Diebstahl zu sagen? Heraus damit!«

»Daß er nicht noch mal sagt, ich hätt'n bestohlen«, rief [67] Hans Rodney schnell dazwischen. »Was sollte ich wohl mit dem Gelde anfangen? Eben so gut könnte ich unserm Pastor seinen Chorrock stehlen und am Leibe tragen.«

»Halt den Mund, Hans, und laß ihn reden«, sagte der Wirth. »Also, Meister Marner?!«

Oft von Fragen unterbrochen, je dunkler die Sache mit dem Diebstahl wurde, erzählte Silas seine Geschichte.

Dieses ganz neue Verhältniß, seinen Mitmenschen die Noth zu klagen, an einem fremden warmen Heerde zu sitzen und die Nähe von Gesichtern und Stimmen zu empfinden, die ihm hüfreich zu sein versprachen, – das hatte ohne Zweifel seine Wirkung auf Marner, trotzdem er so leidenschaftlich mit seinem Verluste beschäftigt war; aber nur selten verzeichnet unser Gedächtniß den Anfang einer inneren Entwickelung, eben so wenig wie wir ihn in der äußern Natur wahrnehmen können; der Saft hat schon oft zirkulirt, ehe wir das kleinste Zeichen eines Keims bemerken.

Der leise Verdacht, mit dem die Anwesenden ihn zuerst angehört hatten, verschwand allmälich vor der überzeugenden Einfachheit seines Schmerzes; die Nachbarn konnten die Wahrheit seiner Erzählung unmöglich länger bezweifeln, nicht etwa, weil sie fähig gewesen wären, aus der Natur seiner Angaben sofort den Schluß zu ziehen, daß gar kein Grund zu einer falschen Aussage für ihn vorlag, sondern weil, wie der Küster bemerkte, die Leute, die es mit dem Teufel hielten, nicht leicht so herunter wären wie der arme Silas. Vielmehr, der seltsame Umstand, daß der Dieb keine Spur zurückgelassen und genau den rechten Augenblick gewußt habe (den einer von dieser Welt unmöglich hätte wissen können), wo Silas ausgegangen sei, ohne sein Haus zu verschließen – dieser Umstand schien es viel wahrscheinlicher zu machen, daß die schändliche Bekanntschaft in jener bedenklichen Richtung, wenn sie je existirt habe, nun abgebrochen sei, und daß folglich der böse Streich von jemand herrühre, auf den es doch vergeblich sei die Polizei zu hetzen. Warum dieser übernatürliche Dieb warten müsse, bis er die Thür mal [68] nicht verschlossen fände, das war eine Frage, die niemanden einfiel.

»Hans Rodney ist's nicht gewesen, Meister Marner«, sagte der Wirth. »Ihr dürft den armen Hans nicht darauf ansehen. Er mag wohl manches auf dem Kerbholz haben, einen Hasen oder so, wenn man's zu genau nehmen will, aber heut hat er die ganze Zeit hier gesessen und sein Bier getrunken, wie der anständigste Mensch im Dorfe, längst ehe Ihr nach Eurer eigenen Rechnung von Hause weggegangen seid, Meister Marner.«

»Ja ja«, meinte der Küster, »keine Anklage gegen Unschuldige! Das ist gegen das Gesetz. Es müssen Zeugen gegen einen sein, ehe man ihn anpacken darf. Keine Anklage gegen einen Unschuldigen, Meister Marner!«

Marner's Gedächtniß war nicht so völlig betäubt, daß es nicht bei diesen Worten erwacht wäre. Mit einem Gefühl von Reue, das ihm so neu und seltsam war wie alles andere, was er in der letzten Stunde erlebt hatte, erhob er sich von seinem Stuhl und trat dicht an Hans heran, indem er ihn ansah, als wolle er sich des Ausdrucks in seinem Gesicht bestimmt vergewissern.

»Ich hatte Unrecht«, sagte er. »Ja, ja, ich hätt's mir überlegen sollen. Kein Verdacht liegt gegen Euch vor, Hans. Bloß, Ihr wart öfter bei mir gewesen, als sonst jemand, und da kamt Ihr mir in den Sinn. Ich klage Euch nicht an – ich klage keinen an – nur«, fügte er hinzu, indem er die Hände an den Kopf hielt und sich im tiefsten Jammer abwandte, – »ich überlege mir nur – wo mein Geld wohl ist.«

»Ih«, meinte der Küster, »die Diebe werden schon damit sein, wo Feuer genug ist zum Einschmelzen.«

Der Hufschmied schüttelte abwehrend den Kopf und fügte mit wichtiger Miene hinzu: »Wie viel Geld mag wohl in den Beuteln gewesen sein, Meister Marner?«

»Zweihundertzweiundsiebzig Pfund zwölf Schilling und sechs Groschen waren's gestern Abend, als ich nachzählte«, stöhnte Silas, indem er sich wieder hinsetzte.

[69] »Pah, die sind nicht so schwer zu tragen; 's wird ein Landstreicher gewesen sein, und was das angeht, daß er keine Fußtapfen gelassen hat und daß die Steine und der Sand in schönster Ordnung waren – na, Ihr habt Augen, Meister Marner, ziemlich wie ein Insekt; Ihr müßt genau zugucken und könnt nicht viel auf einmal sehen. Nach meiner Meinung, wenn ich Ihr gewesen wäre oder Ihr ich – denn das kommt auf dasselbe hinaus – dann hättet Ihr nicht geglaubt, alles wäre noch so, wie Ihr's verlassen habt. Mein Vorschlag ist nun, zwei verständige Leute von uns gehen mit Euch zu Meister Kench, dem Konstabler – er liegt krank im Bett, wie ich weiß – und dann ernennt er einen von uns zu seinem Stellvertreter; so ist's Gesetz; darin wird mir wohl keiner widersprechen, denk' ich. 's ist nicht weit zu Kench, und wenn er mich zum Stellvertreter nimmt, denn gehe ich mit Euch nach Haus, Meister Marner, und untersuche die Sache an Ort und Stelle, und wenn einer gegen den Vorschlag was hat, denn mag er vortreten und es offen sagen.«

Durch diese nachdrückliche Rede hatte sich der Hufschmied in seiner eigenen Achtung wieder hergestellt und erwartete mit Zuversicht, man werde ihn selbst als einen der Verständigsten bezeichnen.

»Wir müssen doch erst sehen, wie das Wetter draußen ist«, sagte der Wirth, der sich auch persönlich bei diesem Vorschlage interessirt glaubte. Er sah hinaus und meinte: »das regnet noch immer fürchterlich.«

»Nun, ich bin nicht bange vor 'nem bischen Regen«, sagte der Hufschmied. »Es sähe auch übel aus, wenn der Friedensrichter hörte, verständige Leute wie wir hätten so 'ne Anzeige erhalten und doch nichts gethan.«

Damit stimmte der Wirth überein, und nachdem er den Beschluß der Versammlung ermittelt und das übliche bescheidene Sträuben durchgemacht hatte, willigte er ein, sich der frostigen Würde zu unterziehen, und nun erhob der Küster, zum großen Abscheu des Hufschmieds, Einwendung dagegen, daß dieser sich [70] selbst zum Stellvertreter des Konstablers vorschlüge; der weise alte Herr nämlich, der sich auf seine Gesetzeskunde etwas zu gute that, erklärte, er habe von seinem Vater positiv gehört, ein Doktor könne kein Konstabler sein.

»Und Ihr seid ein Doktor, sollt' ich meinen, wenn auch bloß ein Viehdoktor, denn eine Fliege ist 'ne Fliege, wenn's auch bloß eine Pferdefliege ist«, schloß der Küster, selbst verwundert über seinen eigenen Scharfsinn.

Darüber entspann sich eine heiße Erörterung; der Hufschmied war natürlich nicht geneigt, auf seine Doktorwürde zu verzichten, behauptete aber, ein Doktor könne wohl Konstabler sein, wenn er wolle; das Gesetz sage nur, er brauche es nicht zu werden, wenn er nicht wolle. Der Küster erklärte das für Unsinn; das Gesetz werde doch die Dokters nicht lieber haben als andere Leute. Zudem, wenn es die Dokters in der Art hätten, nicht so gern Konstabler zu sein als andere Leute, wie ginge es denn zu, daß Meister Dowlas sich so eifrig darum bemühe?

»Ich verlange gar nicht danach, Konstabler zu spielen«, entgegnete der Hufschmied, den dieses unbarmherzige Raisonnement in die Enge trieb, »und wer bei der Wahrheit bleibt, kann das nicht von mir sagen. Wenn's aber Eifersucht giebt und Neid, wer in diesem Regen Meister Kench aufsuchen soll, dann mag gehen wer Lust hat – mich bringt jetzt keiner dazu, das kann ich Euch versichern.«

Durch die Vermittelung des Wirths wurde der Streit indeß beigelegt; Dowlas willigte ein als zweiter mitzukommen, und so ging der arme Silas, dem man einen alten Mantel überhängte, mit seinen beiden Begleitern wieder hinaus in den Regen und dachte an die lange Nacht, die vor ihm lag, nicht wie einer, der nach Ruhe verlangt, sondern wie einer, der darauf gefaßt ist, den Morgen heran zu wachen.

[71]


 << zurück weiter >>