Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Siebenzehnter Abschnitt.

Während Silas und Eppie in dem zitternden Schatten der Esche zusammen saßen, war Fräulein Priscilla Lammeter mit ihrer Schwester in Verhandlung, die ihr zuredete, sie möchte doch zum Thee bleiben und ihren Vater ruhig ausschlafen lassen, statt gleich nach Tisch nach Hause zu fahren. Die Familie – es waren ihrer nur vier – saß in dem dunkeln, getäfelten Wohnzimmer am Tisch und hatte das Sonntagsdessert von frischen Lambertsnüssen, Aepfeln und Birnen vor sich, welches Nancy mit eigener Hand schon vor der Kirche hübsch mit Blättern geschmückt hatte.

Eine große Veränderung ist über das dunkle getäfelte Wohnzimmer gekommen, seit wir's zuerst in der Zeit sahen, wo Gottfried noch als Junggesell drin lebte und der alte Squire keine Hausfrau hatte. Jetzt ist alles blank und kein Stäubchen wird mehr geduldet – von dem ellenbreiten eichenen Paneel unten an den Wänden bis hinauf zu den Flinten und Peitschen und Spazierstöcken des alten Squire, die auf den Hirschgeweihen über dem Kamin liegen. Alles andere Jagdgeräth und was die Männer sonst draußen gebrauchen, hat Nancy in ein anderes Zimmer geschafft, aber die Gewohnheit kindlicher Ehrfurcht hat sie in das rothe Haus mitgebracht und gönnt [183] gewissenhaft diesen Erinnerungen an den verstorbenen Vater ihres Mannes einen Ehrenplatz. Die Humpen stehen noch immer auf dem Nebentisch, aber das getriebene Silber ist nicht mehr blind vom Anfassen, und keine Neigen geben bösen Geruch. Der einzige Duft ist vom Lawendel und den Rosen in den Alabaster-Vasen. Alles ist Sauberkeit und Ordnung in dem einst so unbehaglichen Zimmer, seit vor funfzehn Jahren ein neuer Geist da einzog.

»Aber Vater«, sagte Nancy, »ist es denn wirklich nöthig, daß Du zum Thee zu Hause bist? Kannst Du nicht eben so gut hierbleiben? Der Abend wird gewiß so schön.«

Der alte Herr hatte sich mit Gottfried über die steigende Armenabgabe und die schlechten Zeiten unterhalten und das Gespräch seiner Töchter nicht gehört.

»Kind, Du mußt Priscilla fragen«, sagte er, und die einst so kräftige Stimme klang etwas gebrochen; »sie regiert mich und die ganze Wirthschaft.«

»Und das ist recht gut, daß ich Dich regiere, Vater«, erwiderte Priscilla, »sonst holtest Du Dir den Tod mit dem ewigen Erkälten. Und mit der Wirthschaft ist's auch so; wenn mal was schlecht geht, und in diesen Zeiten kann das nicht anders sein, denn ärgert sich einer zu Tode, wenn er keinen auszuschelten hat als sich selbst. Es ist am allerbesten, daß einer Herr ist und 'nen andern befehlen läßt, denn behält er doch zum Schelten freie Hand. Wenn jeder das thäte, denn gäb's manchen Schlag weniger in der Welt.«

»Gut, gut, Kind«, sagte der Vater ruhig lachend, »ich hab' ja nicht bestritten, daß Du für's allgemeine Wohl regierst.«

»Denn richt's heute mal so ein, daß Du zum Thee hier bleibst, Priscilla«, sagte Nancy und faßte ihre Schwester zärtlich am Arm. »Jetzt komm und laß uns in den Garten gehn, während Vater sein Schläfchen hält.«

»Liebes Kind, er soll wunderschön im Einspänner schlafen, denn ich werde fahren. Und zum Thee kann ich auf keinen Fall bleiben; seit unser Milchmädchen weiß, daß sie nach Michaelis [184] heirathet, da ist die im Stande und schüttet die frische Milch in den Schweinetrog statt in die Satten Gefäß aus Keramik, Emaille, Glas, Holz, das in der vorindustriellen Milchwirtschaft zur Entrahmung von Rohmilch diente.. So machen sie's alle; 's ist grad als ob sie meinten, die Welt würde wieder jung, weil sie heirathen. Komm mit, ich will mir den Hut aufsetzen, und wir haben Zeit genug, in den Garten zu gehn, während das Pferd angespannt wird.«

Als die beiden Schwestern über die sauber gehegten Gartenwege gingen, wo der frische Rasen gegen die dunkeln Taxus-Hecken und Pyramiden hübsch abstach, sagte Priscilla:

»Ich bin recht froh, daß Dein Mann das Land mit Vetter Osgood getauscht hat und Milchwirthschaft anfängt. Es ist jammerschade, daß Ihr's nicht schon längst gethan habt; nun kriegst Du doch ordentlich was zu bedenken. Wenn einer sich ein bischen abplagen will, daß ihm die Tage rasch hingehen, denn geht nichts über 'ne Milchwirthschaft. Mit dem Möbelabputzen, da ist man bald fertig. Man reibt 'ne Tischplatte so lange, bis man sein Gesicht drin sehen kann, und denn ist's aus, aber bei 'ner Milchwirthschaft, da ist immer was los, und selbst im tiefen Winter hat man seine Freude dran, wenn man's mit der Butter so lange versucht, daß sie kommen muß, sie mag wollen oder nicht. Sollst sehen, Schwester« – und dabei drückte sie ihr zärtlich die Hand, »wenn Du erst 'ne Milchstube hast, denn bist Du nie mehr betrübt.«

»Du gute Priscilla«, sagte Nancy, indem sie den Händedruck mit einem dankbaren Blick ihrer klaren Augen erwiderte; »aber für Gottfried ist's kein Ersatz; für 'nen Mann ist 'ne Milchkammer nichts. Und wenn ich betrübt bin, so ist's blos seinetwegen; ich bin mit dem zufrieden, was uns der Himmel bescheert hat, wenn er nur auch zufrieden wäre.«

»Wie die Männer es treiben, das geht über meine Geduld«, sagte Priscilla heftig; »immer wollen sie noch mehr, und nie sind sie zufrieden mit dem was sie haben; gemüthlich auf ihrem Stuhl sitzen, wenn sie auch noch so gesund sind, das genügt ihnen nicht; entweder müssen sie 'ne Pfeife in den Mund stecken, damit sie's noch besser haben als gut, oder sie müssen [185] was starkes trinken, wenn sie auch kaum Zeit haben von einer Mahlzeit zur andern. Gott sei Lob und Dank, daß unser Vater nicht auch so ist, und wenn es Gott gefallen hätte, Dich häßlich zu machen wie mich, daß die Männer nicht hinter Dir hergelaufen wären, dann wären wir hübsch zusammen geblieben und hätten nichts mit Leuten zu thun, die unruhiges Blut in den Adern haben.«

»O, sprich nicht so, Priscilla«, sagte Nancy, der es leid that, diesen Ausbruch veranlaßt zu haben; »kein Mensch hat Grund, Gottfried zu tadeln. Wenn es ihm leid thut, daß wir keine Kinder haben, so ist das natürlich; jeder Mensch hat gern jemand, für den er arbeitet und was zurücklegt, und er hatte immer so darauf gerechnet, was er mit den Kleinen aufstellen würde. Mancher andere würde noch mehr jammern als er. Er ist der beste Mann, den's giebt.«

»O, ich weiß schon«, sagte Priscilla spöttisch lächelnd, »ich kenne schon die Art von Euch Frauen; erst reizt Ihr einen auf, daß man Eure Männer schlecht macht, und denn macht Ihr Kehrt und lobt sie, als wolltet Ihr sie verkaufen. Aber Vater wird schon auf mich warten; wir müssen umkehren.«

Der geräumige Einspänner mit dem ruhigen alten Grauschimmel stand schon vor der Hausthür, und der Schwiegervater setzte Gottfried auseinander, was das mal für ein schönes Thier gewesen sei, als er's noch zum Reiten benutzte.

»Ich hielt immer auf gute Pferde, weißt Du«, sagte der alte Herr, der die Erinnerung an die feurige Jugendzeit nicht gern ganz untergehen lassen wollte.

»Und Herr Schwager, daß Sie uns ja noch diese Woche Nancy bringen!« sagte Priscilla zum Abschied, indem sie die Zügel ergriff und das Pferd sanft antrieb.

»Ich will noch einen Gang ins Feld machen«, sagte Gottfried, »und nach dem Drainiren sehen, da oben am Steinbruch.«

»Du bist doch zum Thee wieder hier, lieber Mann?«

»Gewiß, in 'ner Stunde bin ich wieder da.«

[186] Sonntag Nachmittags trieb Gottfried gewöhnlich etwas beschauliche Landwirthschaft und machte einen ruhigen Gang durch die Felder. Nancy begleitete ihn selten; denn damals gingen die Frauen – die Priscilla's natürlich ausgenommen – nicht viel draußen spazieren, da sie in Haus und Hof und Garten genügende Bewegung hatten. Wenn Priscilla nicht bei ihr war, saß sie meist an der Bibel, las eine kurze Zeit und ließ dann die Augen den Gedanken auf die Wanderschaft folgen, welche diese meist schon begonnen hatten. Aber Nancy's Sonntagsgedanken stimmten fast immer zu der frommen andächtigen Absicht, mit der sie sich an das Buch setzte. Sie hatte nicht genug religiöse Bildung, um die Beziehung zwischen den heiligen Zeugnissen der Vergangenheit, die sie ohne Plan aufschlug und las, und ihrem eigenen stillen, einfachen Leben ganz klar herauszufinden, aber der rechtschaffene Sinn und das Bewußtsein, sie müsse andern ein Beispiel geben, welches die beiden Grundzüge ihres Charakters waren, hatten es ihr zur Gewohnheit gemacht, ihre ganze Vergangenheit an Empfindungen und Handlungen aufs gewissenhafteste zu durchforschen. Da ihrem Geiste keine große Auswahl von Gegenständen zu Gebote stand, so füllte sie ihre leeren Augenblicke damit aus, immer wieder ihr ganzes Leben, namentlich die funfzehn Jahre des Ehestandes innerlich durchzuleben, die ihrem Dasein und ihrer Wirksamkeit doppelte Bedeutung gegeben hatten. Alle Einzelheiten, Worte und Blicke der entscheidenden Scenen, welche ihr ein neues Leben eröffnet hatten, indem sie ihr tiefere Einsicht in die Beziehungen und Prüfungen dieser Welt gaben, oder die ein Opfer an Nachsicht und Pflichttreue von ihr verlangt hatten – alles das rief sie sich ins Gedächtniß zurück und prüfte immerfort, ob sie sich wohl etwas habe zu Schulden kommen lassen. Diese übertriebene Grübelei und Selbstprüfung ist vielleicht eine krankhafte Gewohnheit, aber für einen Menschen von feinem sittlichen Gefühl fast unvermeidlich, wenn ihm die nöthige Thätigkeit nach außen versagt ist und seine Neigungen eines Gegenstandes entbehren, an dem sie sich bethätigen können, – gewiß unvermeid [187]lich für eine edelsinnige kinderlose Frau in beschränkten Lebenskreisen. »Ich kann so wenig thun – hab' ich das wenige auch gut gemacht?« – das ist der ewig wiederkehrende Gedanke, und keine Stimme ruft sie hinweg von diesem Selbstgespräch, keine gebieterische Pflicht leitet ihre Thätigkeit von vergeblichem Bedauern und unnöthigen Gewissensbissen ab.

In ihrem Ehestande hatte Nancy hauptsächlich eine schmerzliche Erfahrung gemacht, an die sich tief empfundene Vorgänge knüpften, welche sie sich bei ihrem Rückblick auf die Vergangenheit am häufigsten vergegenwärtigte. Auch heute hatte das kurze Gespräch mit Priscilla im Garten ihre Gedanken wieder in diese oft betretene Richtung geleitet. Als ihre Gedanken von dem biblischen Texte, auf dem Auge und Lippe noch immer weilten, zuerst abschweiften, nahmen sie die Vertheidigung ihres Mannes wieder auf, die sie gegen Priscilla begonnen hatte. Die Rechtfertigung dessen, den man liebt, ist der beste Balsam, den das Gefühl für seine Wunden finden kann. »Er hat soviel zu bedenken« – mit diesem Glauben tröstet sich eine Frau oft bei rauhen Antworten und gefühlloser Behandlung. Und die tiefsten Wunden gab Nancy das Bewußtsein, ihr kinderloser Heerd sei für ihren Mann eine Entbehrung, mit der er sich nicht aussöhnen könnte. Und doch hätte Nancy selbst es wohl noch schmerzlicher empfinden dürfen, daß ihr ein Segen versagt war, dem sie mit vielfachen Erwartungen und Vorbereitungen, feierlich ernsten und zierlich heiteren, entgegen gesehen hatte, wie sie ein liebendes Weib beschäftigen, wenn sie Mutter zu werden hofft. Hatte sie nicht eine ganze Schieblade voll zierlicher Handarbeiten, alle ungebraucht und unberührt, noch grade so wie sie sie vor vierzehn Jahren hineingelegt hatte, nur daß das eine Kleidchen fehlte, woraus man ein – Todtenkleid gemacht hatte?! Aber diese persönliche Prüfung hatte Nancy so fest und ohne Murren bestanden, daß sie vor Jahren schon sich plötzlich entschloß, diese Schieblade nicht mehr zu öffnen, damit sie nicht ein Sehnen nähre, welches doch nicht in Erfüllung ginge.

Vielleicht war es grade diese Strenge gegen sich selbst und [188] ihren, wie sie meinte, sündhaften Schmerz, die sie abhielt, ihren Mann mit demselben Maaße zu messen. ›Das sei doch ganz was anderes; für 'nen Mann sei eine solche Enttäuschung viel schlimmer; eine Frau könne immer ihre Befriedigung finden, indem sie sich ganz ihrem Mann widmete, aber ein Mann bedürfe etwas für die Zukunft, und am Feuer zu sitzen sei für ihn viel trübseliger als für eine Frau.‹ Und wenn Nancy in ihrem Nachdenken soweit gekommen war – im voraus entschlossen, alles so anzusehen wie Gottfried es ansah – dann erneuerte sich wieder die alte Selbstprüfung, und die Frage drängte sich ihr auf, ob sie wirklich alles gethan habe, was in ihren Kräften stehe, um Gottfried seine Entbehrung zu erleichtern? ob sie wirklich recht gehabt habe, sich vor sechs Jahren und wieder vor vier Jahren dem Wunsche ihres Mannes – freilich mit schwerem Herzen zu widersetzen, sie sollten ein Kind annehmen? So fern die Adoptirung eines Kindes den Vorstellungen jener Zeit stand, hatte Nancy doch ihre besondere Ansicht darüber. Es war ihr so nothwendig, über alles, was ihr vorkam und was nicht ausschließlich Sache der Männer war, ihre bestimmte Ansicht zu haben, wie es ihr Bedürfniß war, für jede Sache im Hause einen ganz bestimmten Platz zu haben, und ihre Ansichten waren immer Grundsätze, nach denen sie unwandelbar handelte. Die Festigkeit dieser Grundsätze stammte nicht daher, daß sie so gut begründet gewesen wären, sondern weil sie mit einer Zähigkeit daran hielt, die all ihr geistiges Thun bezeichnete. Für jede Pflicht im Leben, von der Kindespflicht an bis zur Abend-Toilette, hatte die hübsche Nancy Lammeter, als sie kaum die zwanzig überschritt, ihr unabänderliches kleines Gesetz, und all ihr Thun war genau nach diesem Gesetze geregelt. Sie trug diese entschiedenen Ansichten mit sich herum, ohne sie irgend jemand mitzutheilen; sie wurzelten auf der Tiefe ihres Innern und wuchsen da so ruhig wie Gras. Jener Vorgang aus ihren Mädchenjahren, wo sie drauf bestand, Priscilla und sie müßten gleich gekleidet gehen, weil sich das für Schwestern schicke, und wo sie erklärte, sie würde nöthigenfalls ein käsefarbenes Kleid tragen, – dieser Vorgang ist [189] ein an sich unbedeutendes, aber charakteristisches Beispiel von der Art, wie Nancy ihr Leben regelte.

Aus einem solchen starren Grundsatze und nicht aus kleinlicher Selbstsucht erklärte sich auch der Widerstand Nancy's gegen jenen Wunsch ihres Mannes. Ein Kind anzunehmen, weil ihr selbst Kinder versagt seien, das hieß in ihren Augen der Vorsehung trotzen und sich eigenmächtig sein Loos wählen; ein angenommenes Kind, davon war sie fest überzeugt, würde nicht gut ausschlagen und Fluch bringen über die, welche eigenmächtig und rebellisch gesucht hätten, was doch offenbar aus einem höhern Grunde für sie nicht gut war. Wenn etwas mal nicht sein sollte, sagte Nancy, dann sei es eine heilige Pflicht, selbst dem Wunsche danach zu entsagen.

»Aber warum soll denn das Kind nicht gut ausschlagen?« stellte ihr Gottfried vor. »Bei dem Weber ist sie so gut gediehen wie nur ein Kind kann, und er hat sie doch auch angenommen. Im ganzen Kirchspiel giebt's nicht so 'n hübsches kleines Mädchen mehr, oder das besser für die Stellung paßte, die wir ihr geben können. Wie ist's da wahrscheinlich, daß sie uns Unglück bringen sollte?«

»Doch, lieber Gottfried«, sagte Nancy, die mit fest verschlungenen Händen da saß und aus deren Augen Sehnsucht und Bedauern sprach, – »doch, Gottfried, bei dem Weber mag das Kind sich ganz gut machen, aber er ist auch nicht danach gegangen, es zu suchen, wie wir thäten. Es ist unrecht; es ist ganz bestimmt unrecht. Erinnerst Du Dich nicht, was uns die alte Dame, die wir im Bade trafen, von dem Kinde erzählte, das ihre Schwester angenommen hatte? Das ist der einzige Fall, von dem ich je gehört habe, und mit dreiundzwanzig Jahren wurde das Kind auf Lebenszeit transportirt Die wörtliche Übersetzung meint »deportiert«, nämlich als Strafmaßnahme, in die Strafkolonie Australien. Im engl. Original fehlt der Hinweis »auf Lebenszeit«, da jede solche Deportation dies einschloss.. Lieber Gottfried, verlange nicht von mir, wovon ich weiß, daß es unrecht ist; ich würde nie wieder glücklich. Ich weiß, 's ist recht hart für Dich – mir wird's leichter – aber 's ist mal Gottes Wille.«

Es könnte auffallend erscheinen, daß Nancy, deren religiöse Anschauung aus beschränkten sozialen Ueberlieferungen, halb ver [190]standenen Bruchstücken kirchlicher Lehre und mädchenhaften Betrachtungen über eigene Erlebnisse zusammengeflickt war, zu beinahe denselben Ansichten gelangt war, wie so manche fromme Leute, deren Glaube die Form eines geschlossenen Systems angenommen hat, welches über Nancy's Wissen und Verstehen weit hinausging – das könnte auffallend erscheinen, sag' ich, wenn man nicht wüßte, daß menschlicher Glaube, wie jedes andere natürliche Gewächs, der Schranken eines Systems spottet.

Von Anfang an hatte Gottfried die damals zwölfjährige Eppie als das Kind bezeichnet, welches sie am besten annehmen könnten. Daß Silas lieber sein Leben ließe, als sich von Eppie zu trennen, das kam ihm nie in den Sinn. Sicherlich mußte der Weber doch das beste des Kindes wünschen, von dem er so viel Last gehabt hatte, und freute sich gewiß, daß ihr ein solches Glück blühe; natürlich mußte sie ihm immer dankbar bleiben, und er würde bis an sein Lebensende gut versorgt – so gut, wie es sein ausgezeichnetes Benehmen gegen das Kind verdiente. Und war es nicht höchst passend für höher gestellte Leute, einem armen Mann eine Last abzunehmen? Gottfried schien es ausgezeichnet passend, er wußte selbst am besten warum, und mit einem gewöhnlichen Trugschlusse hielt er die Sache für sehr leicht, weil er besondere Gründe hatte, sie zu wünschen. Es war eine etwas rohe Art, Marner's Verhältniß zu Eppie aufzufassen, aber wir müssen bedenken, daß Gottfried aus manchen Eindrücken, die er im Verkehr mit den arbeitenden Klassen empfangen hatte, wohl auf den Gedanken kommen konnte, tiefes Gefühl und aufopfernde Liebe vertrügen sich kaum mit ihren schwieligen Händen und spärlichen Mitteln, und wie sehr der Weber eine Ausnahme bildete, das zu ermitteln hatte er nicht einmal die Gelegenheit, geschweige die Einsicht. Denn nur noch aus Mangel an Einsicht hätte jetzt Gottfried einer bewußten Härte fähig sein können. Seine natürliche Herzensgüte hatte jene gefährliche Zeit grausamer Wünsche überlebt, und das Lob, welches ihm Nancy als Ehemann gab, beruhte nicht lediglich auf freiwilliger Täuschung.

[191] »Ich hatte ganz recht«, sagte sie zu sich selbst, als sie alle diese Verhandlungen sich vergegenwärtigte, »ich fühle, ich hatte recht mit meinem Widerspruch, obschon's mir so bitter weh that, aber wie gut hat es Gottfried genommen! Mancher Mann wäre mir gewiß sehr böse geworden für meinen Widerstand und hätte fallen lassen, es sei ein Unglück, daß er mich geheirathet hätte, aber Gottfried hat mir nie ein unfreundliches Wort gesagt. Nur kann er's nicht ganz verbergen, daß ihm alles so öde und leer ist, und unser Land – was wäre das für ein Unterschied für ihn bei seiner Wirthschaft, wenn er Kinder hätte, für die er alles thäte! Aber ich will nicht murren, und vielleicht, wenn er eine Frau genommen hätte, die ihm Kinder brächte, dann gäb's sonst Aergerniß.«

Diese Möglichkeit war Nancy's bester Trost, und um ihn zu verstärken, mühte sie sich ab, zärtlicher und aufopfernder gegen ihn zu sein, als eine andere Frau hätte sein können. Gottfried war nicht unempfindlich gegen ihre liebevollen Bemühungen und that Nancy in Bezug auf die Gründe ihres Widerspruchs kein Unrecht. Er hatte unmöglich funfzehn Jahre mit ihr leben können, ohne zu erkennen, daß eine selbstlose Hingebung an das Gute und eine Aufrichtigkeit, die so durchsichtig war, wie der Thautropfen in einer Blume, die Hauptcharakterzüge ihres Lebens waren; ja, Gottfried fühlte das so stark, daß seine eigene schwankende Natur, welche einer Schwierigkeit zu ungern ins Gesicht sah, um unwandelbar offen und wahr zu sein, mit einer gewissen heiligen Scheu vor dieser sanften Frau stand, die ihm mit bereitwilligem Gehorsam an den Augen absah, was er wünschte. Daß er ihr je die Wahrheit über Eppie sagen könnte, schien ihm unmöglich; sie würde nie den Widerwillen überwinden können, den die Geschichte seiner ersten Heirath in ihr hervorrufen müßte, wenn er sie jetzt nach so langem Stillschweigen erzählte. Und auch das Kind, meinte er, müsse ihr ein Gegenstand des Abscheus werden, sein bloßer Anblick ihr peinlich sein. Endlich könne ein solcher Schlag bei Nancy's Stolz und Unbekanntschaft mit der Welt sogar für ihre zarte Gesundheit zu viel sein. Nein, da er [192] sie mal mit diesem Geheimniß im Herzen geheirathet habe, so müsse er es auch bewahren bis ans Ende; was er auch sonst thue, er dürfe keinen unheilbaren Bruch zwischen sich und seiner heißgeliebten Frau machen.

Indessen, warum konnte er sich doch nicht daran gewöhnen, daß die Kinder an dem Heerde fehlten, den eine solche Frau verschönte? Warum kam er immer wieder auf diese unbehagliche Leere zurück, als wenn sie der einzige Grund wäre, warum das Leben nicht eitel Freude für ihn sei? Ich denke mir, so geht's allen Menschen, welche die Mitte des Lebens erreichen, ohne sich klar zu werden, daß das Leben nicht eitel Freude sein kann; ihre Unzufriedenheit sucht nach einem bestimmten Gegenstand, und findet ihn in der Entbehrung eines Gutes, welches sie noch nicht kennen. Die Unzufriedenheit, die an einem kinderlosen Heerde sitzt und grübelt, denkt mit Neid an den Vater, den bei seiner Rückkehr Kinderstimmen begrüßen – und wenn sie beim Mahle sitzt, wo die kleinen Köpfe hervorgucken, einer noch höher als der andere, wie kleine Schößlinge in der Baumschule, dann sieht sie hinter jedem ein schwarzes Gespenst lauern und erklärt den Drang der Menschen, auf ihre Freiheit zu verzichten und sich in Fesseln zu begeben, für nichts als vorübergehenden Wahnsinn. Für Gottfried kam noch etwas anderes hinzu: sein Gewissen, welches sich wegen Eppie's nie ganz beruhigte, ließ ihm jetzt seinen kinderlosen Heerd als eine Wiedervergeltung erscheinen, und da die Zeit verging, ohne daß Nancy einwilligte, sie an Kindesstatt anzunehmen, so wurde es immer schwieriger, den ersten Fehler wieder gut zu machen.

Am heutigen Sonntag waren es gerade vier Jahr, daß er zum letzten Mal darauf angespielt hatte, und Nancy glaubte, die Sache sei für immer abgethan.

»Mich soll wundern,« dachte sie, »wie er's trägt, wenn er älter wird; ich fürchte, er nimmt sich's noch mehr zu Herzen. Alte Leute entbehren Kinder recht. Ich möchte wissen, was Vater ohne Priscilla anfinge. Und wenn ich sterbe, denn ist Gottfried sehr einsam; mit seinen Brüdern hält er nicht sehr zusammen. [193] Aber ich will mich nicht zu viel quälen, wie es in Zukunft wird; jetzt muß ich meine Pflicht thun, so gut es geht.«

Damit erhob sich Nancy aus ihrer Träumerei und blickte wieder in das aufgeschlagene Buch. Sie hatte länger weggeblickt als sie wußte, denn gleich darauf trat das Dienstmädchen mit dem Theezeug herein. Es war zwar noch ein klein wenig vor der Theezeit, aber Hannchen hatte ihre Gründe.

»Ist der Herr schon auf dem Hofe, Hannchen?«

»Nein, Madam, noch nicht«, erwiderte Hannchen, ein wenig aufgeregt, was indeß ihre Herrin nicht bemerkte.

»Ich weiß nicht, Madam, ob Sie's gesehen haben«, fuhr das Mädchen nach einer Pause fort, »aber die Leute laufen so an unserm Hause vorbei. Es muß was passirt sein. Auf dem Hofe ist kein Mensch zu sehen, sonst hätt' ich einen weggeschickt, um's zu erfahren. Ich bin bis oben unter's Dach gewesen, aber da kann man vor lauter Bäumen nichts sehen. Wenn nur kein Unglück passirt ist!«

»Es wird wohl nicht so schlimm sein«, sagte Nancy. »Vielleicht ist dem Wirth sein Ochse mal wieder ausgebrochen.«

»Denn will ich nur wünschen, daß er keinen blutig stößt«, meinte das Mädchen, ohne jedoch im Stillen eine Vermuthung zu verschmähen, welche die Möglichkeit einiger interessanter Unglücksfälle einschloß.

»Das Mädchen macht mir immer bange«, dachte Nancy, »ich wollte, Gottfried wär' wieder da.«

Sie trat an das Fenster vorn heraus und sah, so weit sie sehen konnte, die Straße entlang. Ihre Besorgniß erkannte sie bald für unbegründet, denn von der Aufregung, wovon Hannchen gesprochen hatte, war nichts zu merken, und zudem fiel ihr ein, Gottfried sei nach einer ganz andern Seite ins Feld. Doch blieb sie stehen und blickte auf den friedlichen Kirchhof hinüber, wo die Grabsteine ihre langen Schatten über die hellgrünen Grabhügel warfen, und darüber weg auf die leuchtende Herbstfärbung der Bäume im Pfarrgarten. Bei so ruhiger Schönheit [194] der Natur empfindet man eine unbestimmte Angst um so lebhafter, – wie man in sonnenheller Luft den schweren Flug eines Raben um so deutlicher sieht. Immer stärker wünschte Nancy: »wenn Gottfried doch da wäre!«


 << zurück weiter >>