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Zehnter Abschnitt.

Der Friedensrichter Malam galt natürlich in Tarley und Raveloe als ein Mann von umfassendem Geist, da er ohne viel weitergehende Schlüsse Beweis ziehen konnte, als seine Nachbarn, die kein Patent als Friedensrichter hatten. Ein solcher Mann [89] ließ natürlich das vielsagende Feuerzeug nicht außer Acht, und eine Nachforschung wurde daher erlassen nach einem Hausirer – »Namen unbekannt, Haare kraus und schwarz, Gesichtsfarbe bräunlich, führt einen Kasten mit Stahl- und Galanteriewaaren und trägt große Ohrringe«. Aber mochte nun die Nachforschung zu langsam sein, um ihn einzuholen, oder mochte die Beschreibung auf so viele Hausirer passen, daß der Arm des Gesetzes nicht wußte, welchen darunter er festnehmen solle, – genug, Wochen vergingen und in Bezug auf den Diebstahl war nichts passirt, als eine allmäliche Beruhigung der Gemüther in Raveloe. Das Ausbleiben von Dunstan Caß wurde kaum besprochen; schon früher mal hatte er einen Streit mit seinem Vater gehabt und war fortgegangen, kein Mensch wußte wohin, um nach sechs Wochen zurückzukommen, sich wieder ungehindert häuslich niederzulassen und zu renommiren wie gewöhnlich. Zu Haus, wo man ebenfalls denselben Ausgang erwartete – mit dem einzigen Unterschiede, daß der Alte entschlossen war, ihm diesmal das Haus zu verbieten – wurde seine Abwesenheit kaum erwähnt. Und als Onkel Kimble und Mr. Osgood davon anfingen, so beruhigten sie sich sogleich als sie hörten, er habe Feuerbrand zu Tode gehetzt und sich gegen seinen Vater vergangen. Dunsey's Verschwinden mit dem gleichzeitigen Diebstahl in Verbindung zu bringen, das lag jedermanns Gedanken ganz fern und fiel selbst Gottfried nicht ein, der doch am besten wußte, wessen man sich zu seinem Bruder versehen konnte. Seit zwölf Jahren, wo sie als Jungen ihre Freude daran gehabt hatten, den Weber zu foppen, hatten sie den Namen Marner's nie unter sich erwähnt, und überdies zeigte ihm seine immer wache Angst im Geist unaufhörlich ein Versteck Dunstan's; er sah ihn immer an einem seiner Lieblingsorte, wohin er sich nach Feuerbrands Sturze begeben habe, – sah ihn sich in seiner Weise mit jedem hergelaufenen Fremden amüsiren und ab und zu darauf bedacht, wieder nach Hause zu seiner alten Beschäftigung zurückzukehren, den älteren Bruder zu quälen. Aber selbst wenn man in Raveloe sich jene beiden Thatsachen kombinirt hätte, so wäre eine [90] so kränkende Vermuthung für den unantastbaren Namen einer Familie, die ein Denkmal in der Kirche und uraltes Silberzeug hatte, zweifellos als halber Wahnsinn angesehen und unterdrückt worden; indeß Weihnachtspuddinge, Rippenstücke und eine Fülle guter Getränke sind sehr geeignet, die öffentliche Meinung einzuschläfern, und vortreffliche Präservativmittel gegen die Gefahr der Rücksichtslosigkeit.

So oft der Diebstahl in der Schenke oder wo anders besprochen wurde, schwankte die Waage immer noch zwischen der natürlichen Erklärung, die sich auf das Feuerzeug stützte, und der Theorie eines undurchdringlichen Geheimnisses, welches jeder Nachforschung spotte. Die Vertheidiger der ersten Auffassung erklärten ihre Gegner für wüstes leichtgläubiges Volk, die, weil sie selbst glasäugig seien, auch jeden andern für halb blind hielten, und die Anhänger des Unerklärlichen deuteten ziemlich stark an, ihre Gegner wären wie Thiere, die krähten, ehe sie ein Korn gefunden – flachköpfig wie eine Schaumkelle – und ihr gerühmter Scharfblick bestehe in nichts weiterem, als daß sie meinten, weil sie nicht durch 'ne Scheunenthür durchsehen könnten, so sei auch nichts dahinter. Auf diese Weise half der Streit freilich nicht zur Aufklärung des Diebstahls, brachte aber doch gewisse Wahrheiten an den Tag.

Während so der Verlust des armen Silas den langsamen Fluß der allgemeinen Unterhaltung etwas belebte, litt er selbst unter dem verzehrenden Jammer jener Beraubung, die seine Mitmenschen so behaglich besprachen. Wer ihn in seiner früheren Zeit beobachtet hätte, ehe er das Gold eingebüßt hatte, der hätte glauben sollen, ein so welkes und verschrumpftes Leben wie seins müsse jeder Wunde, jedem Verlust sofort unterliegen. Aber in Wahrheit war es ein thätiges Leben gewesen, das seinen unmittelbaren Zweck hatte und darin Haltung fand. Und obschon es nur ein todtes abgerissenes Ding war, um welches seine Fasern sich klammerten, so genügte das doch dem Bedürfnisse des menschlichen Herzens, sich an ein Fremdes anzuklammern. Aber jetzt war der enge Kreis durchbrochen, dem [91] Leben sein Halt entzogen. Nicht mehr konnten Marners Gedanken sich in dem alten Kreislauf bewegen; sie standen vor einer Lücke, rathlos wie eine Ameise, die auf dem alten bekannten Wege nach ihrem Bau plötzlich auf eine breite Erdspalte stößt. Der Webstuhl war noch da und das Gewebe und das Muster, welches sich allmälich gestaltete, aber der blanke Schatz unter seinen Füßen war fort; nicht mehr konnte er sich an der Aussicht laben, den Schatz zu befühlen und zu zählen; der Abend hatte keine Freude mehr, den Hunger der armen Seele zu stillen. Der Gedanke an das Geld, welches er fortan verdienen könne, gewährte ihm keine Freude, sondern erinnerte ihn nur immer von neuem an seinen Verlust, und der plötzliche Schlag hatte seine Hoffnungen zu schwer geknickt, als daß seine Phantasie aus so kleinen Anfängen einen neuen Schatz hätte erwachsen sehen.

Sein Gram mußte die Leere ausfüllen. Wenn er beim Weben saß, ächzte er ab und zu leise wie vor Schmerz; das war das Zeichen, daß seine Gedanken wieder vor der jähen Kluft standen – vor der leeren öden Abendzeit. Und den ganzen Abend, wenn er einsam an seinem spärlichen Feuer saß, stützte er die Ellbogen auf die Kniee und nahm den Kopf zwischen die Hände und ächzte ganz leise – als wolle er nicht gehört sein.

Und doch war er in seiner Noth nicht ganz verlassen. Die Abneigung, die seine Nachbarn bisher gegen ihn gehegt hatten, war zum Theil gewichen, seit ihn dies Unglück in einem so ganz andern Lichte gezeigt hatte. Statt eines Menschen, der schlauer war, als ehrliche Leute sich rühmen durften, und der, was noch schlimmer war, gar keine Neigung hatte, die Schlauheit zum Besten seiner Mitmenschen anzuwenden, hatte man in dem armen Silas nun jemand gefunden, der nicht mal schlau genug war, sich selbst vor Schaden zu hüten. Allgemein sprach man von ihm als einem armen gedrückten Geschöpf, und die Scheu vor dem Verkehr mit Menschen, die man früher auf seinen bösen Willen und wohl gar auf eine Neigung zu schlech [92]ter Gesellschaft geschoben hatte, galt jetzt für bloße Verstandesschwäche.

Diese freundlichere Stimmung gab sich auf verschiedene Weise kund. In der Weihnachtszeit liegt leckerer Geruch in der Luft und eine Fülle von Schweinefleisch und mächtigen Puddings mahnen in wohlhabenden Familien zur Nächstenliebe, und wegen seines Unglücks stand Silas in dem Gedächtniß solcher Hausfrauen, wie Frau Osgood, vornan. Auch der Pastor, der ihm zwar ins Gewissen redete, sein Geld sei ihm wahrscheinlich genommen, weil er zu sehr daran gehangen habe und nie zur Kirche komme, begleitete doch diese Lehre, um sie besser einzuprägen, mit einem Geschenk von Schweinsknöcheln, die wohl geeignet waren, unbegründete Vorurtheile gegen die Geistlichkeit zu beseitigen. Solche Nachbarn, die nur Worte zum Trost geben konnten, waren jetzt nicht blos so freundlich, Silas zu grüßen und sein Unglück ausführlich zu besprechen, sondern sie kamen auch zu ihm in seine Hütte und ließen sich an Ort und Stelle alle Umstände ganz genau wiederholen und suchten ihn dann mit den Worten aufzuheitern: »Nun, Meister Marner, eigentlich seid Ihr doch nicht schlimmer dran als andere arme Leute, und wenn Ihr mal ganz hinfällig werden solltet, die Gemeinde giebt Euch schon eine Unterstützung.«

Einen Grund, weshalb wir so selten unsere Mitmenschen wirklich zu trösten vermögen, finde ich darin, daß unsere gute Absicht beim besten Willen gefälscht wird, ehe die Lippen ihr Ausdruck geben. Schönen Pudding und schmackhafte Schweinsknöchel können wir verschenken, ohne daß sie einen Beigeschmack von unserer Selbstsucht annehmen, aber die Sprache ist ein Fluß, der ziemlich sicher nach unreinem Boden schmeckt. Die Leute in Raveloe hatten ihr gut Theil Menschenfreundlichkeit, aber sie war oft ein bischen derbe und nahm meist die Form an, welche der Höflichkeit oder Schmeichelei am wenigsten verwandt ist.

So z. B. kam der Küster eines Abends ausdrücklich zu Silas, um ihn zu benachrichtigen, die neuesten Vorgänge hätten [93] ihm den Gewinn gebracht, daß er in der Meinung eines Mannes, der nicht obenhin urtheilte, jetzt viel günstiger stehe, und zu diesem Zweck eröffnete er die Unterhaltung, sobald er sich gesetzt und seine Daumen übereinander gelegt hatte, mit den Worten: »Hört, Meister Marner, Ihr müßt nicht so dasitzen und jammern. Ihr seid viel besser dran, daß Ihr Euer Geld verloren habt, als wenn Ihr's durch schlechte Geschichten behalten hättet. Als Ihr zuerst in diese Gegend kamt, da glaubte ich, mit Euch wär' nicht alles ganz richtig; Ihr wart damals ein hübsch Stück jünger als jetzt, aber so'n blasses Gesicht und die starren Augen habt Ihr immer gehabt; Ihr saht beinah aus, wenn ich so sagen soll, wie ein Kalb mit 'ner kahlen Blässe. Aber man irrt sich wohl; es sieht manches in der Welt kurios aus, wo der Schwarze doch nicht die Hand im Spiele hat – ich meine Kröten und solch Zeug; die sind oft ganz harmlos und nützlich gegen Ungeziefer. Und mit Euch steht's ungefähr auch so, so weit ich sehen kann. Zwar mit den Kräutern und solchem Zeug, wo man die Leute mit kurirt, wenn Ihr davon Kenntniß mitgebracht habt aus der Fremde, da hättet Ihr wohl von bleiben können. Und wenn Ihr das nicht ganz mit rechten Dingen gelernt habt, dann hättet Ihr's wieder gut machen können durch regelmäßigen Kirchenbesuch; von den Kindern, die die weise Frau besprach, da habe ich manches taufen sehen, und die ließen sich das Wasser grade so gut gefallen wie andere Kinder. Und wenn's so ist, denn ist's auch in der Ordnung; denn wenn der Böse zur Abwechselung mal was gutes thun will, wer sollte da wohl was gegen haben? Das ist meine Meinung, und ich bin schon meine vierzig Jahre Küster hier im Dorf, und ich weiß, wenn der Pastor und ich am Aschermittwoch den Fluch sprechen, denn verfluchen wir die Leute nicht, die sich ohne Doktor kuriren lassen wollen, Kimble mag sagen, was er will. Und also, Meister Marner, wie ich schon sagte, mein Rath ist, Ihr haltet den Kopf oben; denn was das angeht, Ihr hättet es hinter den Ohren und hinter Euch stecke mehr, als das Tageslicht verträgt, – der Meinung bin ich durchaus nicht, und [94] das sag' ich auch immer den Nachbarn. Denn, sag' ich, Ihr schwatzt davon, Meister Marner habe sich die Geschichte ausgedacht, aber das ist ja reiner Unsinn, das müßte schon ein gescheuter Kerl sein, der so was erfindet. Und, sag' ich, er sah so erschrocken aus wie ein Kaninchen.«

Während dieser eingehenden Ansprache war Silas ganz fest in seiner früheren Stellung geblieben, die Ellbogen auf die Knie und den Kopf in die Hände gestützt. Der Küster war gewiß, er habe aufmerksam zugehört, und hielt inne, um eine beistimmende Antwort zu erhalten, aber Marner schwieg still. Er fühlte wohl, der alte Mann meine es gut und freundlich, aber er hatte keinen rechten Sinn dafür; es war wohl Sonnenschein, aber die Sonne stand so weit.

»Nun, Meister Marner, habt Ihr darauf garnichts zu sagen?« fragte der Küster endlich mit einer leisen Andeutung von Ungeduld.

»Oh«, sagte Marner langsam, indem er den Kopf zwischen den Händen schüttelte, »ich danke Euch – danke Euch – recht freundlich.«

»Na ja, gewiß, das konnt' ich mir denken«, meinte der Küster, »und mein Rath ist nun – habt Ihr denn einen Sonntagsanzug?«

»Nein«, antwortete Marner.

»Konnt's mir schon denken«, fuhr der Küster fort. »Nun laßt Euch rathen und schafft Euch 'nen Sonntagsanzug an; der Tookey, der arme Schelm, der hat mein Schneidergeschäft übernommen, und der soll Euch 'nen Anzug ganz billig machen und Euch auch Kredit geben, und dann könnt Ihr zur Kirche gehen und etwas mehr mit den Leuten verkehren. Habt mich ja nicht mal Amen sagen hören, seit Ihr hier seid, und da rath' ich Euch doch dringend, keine Zeit mehr zu versäumen; denn wenn Tookey erst die Geschichte allein macht, denn ist's nicht viel mehr werth, und ob ich mich nächsten Winter noch auf den Beinen halten kann, das kann man noch nicht wissen«. Hier machte der Küster wieder eine Pause, weil er eine gewisse Rührung bei [95] seinem Zuhörer erwartete; es war indeß nichts davon zu spüren, und er fuhr fort: »Und was das Geld angeht für den Anzug, nun, Ihr verdient ja ziemlich ein Pfund die Woche mit Euerm Weben, Meister Marner, und seid noch ein junger Mann, wenn Ihr auch jetzt noch so niedergeschlagen ausseht. Ihr könnt doch höchstens fünfundzwanzig gewesen sein als Ihr hier zu uns kamt, nicht wahr?«

Bei diesem Uebergang in den fragenden Ton fuhr Silas etwas zusammen und antwortete sanft: »ich weiß nicht, kann's nicht genau sagen – 's ist schon so lange her.«

Nach einer solchen Antwort kann es nicht überraschen, daß der Küster denselben Abend in der Schenke bemerkte, Marner sei ganz wüst im Kopf und wisse wahrscheinlich nicht mal, wenn Sonntag wäre, was denn doch beweise, er sei ein schlimmerer Heide als ein Hund.

Außer dem Küster kam noch jemand zu Silas, um ihn zu trösten, und dieser Jemand hatte auch das Herz ganz voll von demselben Gegenstande. Es war Frau Winthrop, die Frau des Stellmachers. Die Leute in Raveloe nahmen's grade nicht strenge mit ihrem Kirchenbesuch, und vielleicht war kaum einer im ganzen Kirchspiel, der nicht gemeint hätte, alle Sonntag zur Kirche zu gehen zeige eine unerlaubte Gier, sich gut mit dem Himmel zu stellen und einen ungehörigen Vorsprung vor seinen Mitmenschen zu gewinnen, – ein Verlangen, besser sein zu wollen als die andern, das sehr anzüglich für die wäre, die doch auch ihre richtigen Gevatter und Gevatterinnen hätten und denselben Anspruch auf 'ne Leichenpredigt. Dabei aber galt es für selbstverständlich, daß alle, die nicht zum Gesinde gehörten oder zu jung waren, an einem der hohen Festtage zum Abendmahl gehen mußten; Squire Caß selbst nahm Weihnachten das Abendmahl, während die wirklich guten Christen zwar häufiger, aber immer doch noch mäßig oft zur Kirche gingen.

Zu diesen gehörte Frau Winthrop; sie war in jeder Beziehung eine streng gewissenhafte Frau, so eifrig in der Erfüllung ihrer Pflichten, daß ihr die Arbeit nicht genug schien, wenn [96] sie nicht um halb fünf aufstand, obschon sie dann in den spätern Morgenstunden einen solchen Mangel an Arbeit empfand, daß es ihr beständiges Problem war, ihn zu beseitigen. Doch hatte sie dabei nicht das verbissene Wesen, welches eine solche Lebensweise meistens zu begleiten pflegt; im Gegentheil, sie war sehr sanft und geduldig und suchte sich meist das Traurige und Ernste im Leben heraus. Sie war die Person im Dorfe, an die man sich immer zuerst wandte, wenn es Krankheit gab oder einen Todesfall, wenn einer sich Blutegel setzen lassen mußte, oder wenn plötzlich etwas mit einer Amme vorfiel. Sie war eine Frau, die einem gut that, von gutem Aussehen, frischer Gesichtsfarbe, die Lippen immer etwas zusammengekniffen, als wär' sie in einem Krankenzimmer in Gegenwart des Doktors oder des Pastors. Aber zimperlich war sie nicht ein bischen; niemand hatte sie je weinen sehen; sie war nur ernst und schüttelte gern den Kopf und seufzte halb verstohlen, wie einer beim Trauerzuge, wenn er kein Verwandter des Verstorbenen ist. Es schien auffallend, daß Ben Winthrop, der gern sein Maaß Bier trank und seinen Scherz machte, sich so gut mit Dorchen vertrug, aber sie nahm die Scherze und das lustige Wesen ihres Mannes so geduldig hin wie alles andere; die Männer wären mal so, meinte sie, und das stärkere Geschlecht kam ihr vor wie Thiere, die von Natur dazu gemacht sind, einem lästig zu fallen, z. B. Ochsen und Truthähne.

Diese gute, herzensgesunde Frau mußte sich natürlich stark zu Silas Marner hingezogen fühlen, da er jetzt in dem Lichte eines Dulders erschien, und eines Sonntags Nachmittags nahm sie ihren kleinen Aaron mit und suchte Silas auf, indem sie in der Hand einige kleine Schmalzkuchen trug, die in Raveloe sehr geschätzt waren. Aaron, ein siebenjähriger Junge mit einem wahren Apfelgesicht und einem reinen gestärkten Kragen, der wie eine Schüssel für den Apfel aussah, mußte die ganze Kühnheit seiner Neugier zusammennehmen, um sich gegen die Besorgniß zu waffnen, der Weber mit den großen Augen werde ihm persönlich ein Leid anthun, und seine Bedenken steigerten sich sehr, [97] als sie, am Steinbruch angelangt, den geheimnißvollen Klang des Webestuhls hörten.

»'s ist leider so, wie ich mir gedacht habe«, sagte Frau Winthrop wehmüthig.

Sie mußte laut klopfen, ehe Silas es hörte, aber als er an die Thür trat und sie öffnete, zeigte er keine Ungeduld, wie er früher bei jedem ungebetenen oder unerwarteten Besuch gewiß gethan hätte. Früher war sein Herz gewesen wie ein verschlossenes Kästchen mit einem Schatze darin, aber jetzt war das Kästchen leer und das Schloß aufgebrochen. Im Dunkeln gelassen und seiner Stütze beraubt, mußte Silas nothwendig das Gefühl überkommen, wenn's auch nur unbestimmt war und nahe an Verzweiflung grenzte, die einzige noch mögliche Hülfe könne ihm nur von außen kommen, und bei dem Anblick seiner Mitmenschen regte sich immer ein leises Gefühl von Erwartung, ein schwaches Bewußtsein, er hänge von ihrem guten Willen ab. Er öffnete die Thür weit, um Dorchen hereinzulassen, aber ihren Gruß erwiderte er dabei nur soweit, daß er den Lehnstuhl ein wenig vorrückte, zum Zeichen, sie möge sich darauf niederlassen. Sobald sie Platz genommen, zog sie das weißleinene Tuch von ihren Schmalzkuchen weg und sagte höchst ernsthaft:

»Ich habe gestern gebacken, Meister Marner, und die Schmalzkuchen sind besser gerathen als gewöhnlich, und ich möchte Euch bitten, ein paar davon anzunehmen, wenn Ihr so gut sein wollt. Ich selbst esse so was nicht; ich esse das ganze Jahr nur Brod, aber die Leute haben so verschiedene Magen, so komisch, sie bedürfen Abwechselung – ja, ja, das weiß ich – wenn Gott einen nur gesund erhält.«

Dorchen seufzte gelinde, als sie Silas die Kuchen hinhielt; er dankte ihr freundlich und besah sie sich ganz nahe, ohne sich dabei was zu denken, denn er war gewohnt, alles so nahe anzusehen, was er in die Hand nahm. Der kleine Aaron, der sich hinter seiner Mutter Stuhl geflüchtet hatte und scheu um die Ecke guckte, sah ihn dabei mit seinen hellen Augen verwundert an.

[98] »Da sind auch Buchstaben drauf eingedrückt«, bemerkte Dorchen. »Ich selbst kann sie nicht lesen, und es weiß kein Mensch recht, was sie bedeuten, auch der Herr Küster nicht, aber sie bedeuten was gutes, denn es sind dieselben Buchstaben wie auf der Altardecke in der Kirche. Was sind's denn für welche, Aaron, mein lieber Junge?«

Aaron retirirte vollständig hinter seine Brustwehr.

»Aber das ist unartig«, sagte die Mutter sanft. »Na, was es auch für Buchstaben sein mögen, was gutes bedeuten sie, und der Stempel, sagt mein Mann, ist schon in unserm Hause gewesen, als er noch ein kleiner Junge war, und seine Mutter hat ihn auf die Kuchen gedrückt und ich thu's auch immer; denn wenn's was gutes ist, das können wir in dieser Welt gebrauchen.«

»Die Buchstaben heißen J. H. S. Das Nomen sacrum IHS leitet sich von den ersten drei Buchstaben des Namens Jesu in griechischen Großbuchstaben É Ç Ó Ï Õ Ó ab, wobei das Sigma durch ein lateinisches S ersetzt ist.«, bemerkte Silas, und bei diesem Beweise von Gelehrsamkeit guckte Aaron wieder hinter dem Stuhl hervor.

»Ja, wirklich, Ihr les't sie ganz richtig«, sagte Dorchen; »Ben hat sie mir oft genug vorgelesen, aber sie kommen mir immer wieder aus dem Gedächtniß, und das ist recht schade; denn es sind gute Buchstaben, sonst ständen sie nicht in der Kirche, und ich drücke sie auch auf alle Brode und auf alle Kuchen, nur wollen sie bisweilen nicht halten, wenn's zu gut aufgeht; denn wie gesagt, wenn sie was gutes bringen, das können wir in der Welt brauchen – ja, recht gut brauchen, und ich hoffe, sie bringen Euch auch was gutes, Meister Marner, und mit guter Absicht habe ich Euch die Kuchen mitgebracht, und Ihr seht, die Buchstaben halten besser als gewöhnlich.«

Silas konnte die Buchstaben eben so wenig deuten wie Dorchen, aber der Wunsch, ihn zu trösten, der sich in ihren sanften Worten aussprach, war nicht mißzuverstehen. Mit mehr Empfindung als vorher sagte er: »ich danke Euch, wirklich, recht freundlich«. Aber die Kuchen legte er hin und saß gleich wieder in Gedanken; in seinem Trübsinn konnte er sich gar nicht den [99]ken, was ihm die Kuchen und die Buchstaben, oder selbst Dorchens Freundlichkeit für gutes bringen könnte.

»Ja, ja, was gutes, das können wir brauchen«, wiederholte Dorchen, die nicht so leicht eine gute Wendung fahren ließ. Mitleidig blickte sie den traurigen Silas an, als sie fortfuhr: »Aber Ihr habt gewiß heut früh nicht gehört, wie sie zur Kirche läuteten. Ich glaube, Ihr wißt nicht mal, daß wir heut Sonntag haben. Ihr lebt hier so einsam, daß Ihr ganz aus der Rechnung kommt, und wenn Euer Webstuhl geht, dann könnt Ihr die Glocken nicht hören, namentlich jetzt nicht, wo der Frost den Schall so dämpft.«

»Doch, doch, ich hab' sie wohl gehört«, antwortete Silas, für den die Sonntagsglocken etwas rein zufälliges waren und nichts mit der Heiligkeit des Tages zu thun hatten. In der Laternengasse waren keine Glocken gewesen.

»Du lieber Himmel«, meinte Dorchen, »aber es ist doch recht schade, daß Ihr am Sonntag arbeitet und Euch nicht rein anzieht, wenn Ihr auch nicht zur Kirche ginget; denn freilich, wenn Ihr Euch das Essen kocht, da könnt Ihr nicht gut von weg, da Ihr ganz allein wohnt. Aber wenn Ihr ab und zu ein paar Sechser dran wenden wolltet – natürlich nicht jede Woche – das thät' ich selbst nicht – dann könnt Ihr ja Euer bischen Essen zum Bäcker in den Ofen tragen, denn natürlich etwas gebratenes Fleisch muß der Mensch am Sonntag haben, und das Essen muß anders sein wie jeden Werkeltag. Aber jetzt, Weihnachten, diese gesegnete Weihnachten, wenn Ihr da Euer Mittagbrod zum Bäcker trügt und zur Kirche ginget und die Zweige von der Stechpalme ansähet und die Taxuszweige und den Lobgesang hörtet und dann das Abendmahl nähmt, das würde Euch ordentlich gut thun, und denn wüßtet Ihr doch, wie Ihr ständet, und wenn Ihr so gethan habt, was uns allen obliegt zu thun, dann könnt Ihr Euer Vertrauen auf Die setzen, die alles besser wissen als wir.«

Dorchen hatte diese Ermahnung in dem beruhigenden überredenden Tone gesprochen, womit sie etwa einem Kranken zuge [100]redet hätte, seine Medizin zu nehmen oder ein Schälchen Haferschleim, worauf er keinen Appetit hatte. Noch nie war Silas über seine Ansicht vom Kirchenbesuch so genau befragt worden wie jetzt, weil sie für einen Theil seiner allgemeinen Verkehrtheit galt, und er war zu gerade und einfach, um auf Dorchens Zureden eine ausweichende Antwort zu geben.

»Nein, nein«, sagte er, »von der Kirche weiß ich nichts; zur Kirche bin ich noch nie gewesen.«

»Noch nie!« sagte Dorchen im leisen Ton der Verwunderung; dann besann sie sich, Silas sei aus der Fremde hergezogen, und sagte: »vielleicht hatten die Leute keine Kirche, wo Ihr geboren seid?«

»Oh doch«, sagte Silas nachdenklich, indem er wie gewöhnlich sich auf die Knie lehnte und den Kopf in die Hände stützte.

»Doch es gab Kirchen – gar viele – die Stadt war groß. Aber mich gingen sie nichts an; ich ging in unsere Kapelle.«

Dorchen war sehr verwundert über dies neue Wort, aber sie mochte nicht weiter fragen, weil Kapelle vielleicht etwas recht böses bedeutete.

Nach einiger Ueberlegung äußerte sie: »Nun, Meister Marner, es ist nie zu spät, eine neue Seite im Leben anzufangen, und wenn Ihr noch nie zur Kirche gewesen seid, dann ist's gar nicht zu sagen, wie gut es Euch thun kann; mich richtet es immer so auf und ich fühle mich so ruhig, wie was sein kann, wenn ich hingewesen bin und habe beten hören und singen zum Preise und Lobe Gottes, wie's der Küster anstimmt, und was Pastor Krackenthorp für 'ne gute Predigt gethan hat, und besonders, wenn das Abendmahl ausgetheilt wird, und kömmt dann ein bischen Trübsal, dann ist's mir, als könnt's mich nicht anfechten, denn ich habe an der rechten Stelle nach Hülfe gesucht und mich ganz Denen ergeben, denen wir uns zuletzt doch alle hingeben müssen. Und wenn wir unser Theil gethan haben, dann können wir getrost hoffen, Die über uns werden auch nicht schlechter sein als wir und auch ihre Schuldigkeit thun.«

Diese Auseinandersetzung des guten Dorchens über ihre [101] einfache ländliche Theologie hatte für Marner's Ohren wenig Sinn; keins ihrer Worte erweckte eine Erinnerung an das, was er früher als Religion gekannt hatte, und völlig rathlos war er bei dem Plural, der übrigens bei Dorchen keine Ketzerei war, sondern nur ein Ausweg, um nicht zu anspruchsvoll vertraulich zu sein. Er schwieg daher still, da er sich nicht geneigt fühlte, dem Theile ihrer Rede beizustimmen, den er vollkommen verstand – ihrer Empfehlung nämlich des Kirchenbesuchs. Ueberhaupt war es Silas so ungewohnt etwas anderes zu sprechen, als die kurzen Fragen und Antworten, die der Betrieb seines einfachen Geschäfts erforderte, daß die Worte ihm nicht leicht kamen, wenn kein bestimmter Zweck vorlag.

Aber inzwischen hatte sich der kleine Aaron an die schreckliche Nähe des Webers gewöhnt und war neben seine Mutter vorgerückt, und Silas, der ihn jetzt zuerst zu bemerken schien, suchte Dorchens Freundlichkeit damit zu erwidern, daß er dem Jungen ein Stück Schmalzkuchen hinhielt. Aaron wich ein bischen zurück und rieb den Kopf an seiner Mutter Schulter, fand aber doch, für den Kuchen könne er schon riskiren, die Hand auszustrecken.

»O schäme Dich, Aaron«, sagte seine Mutter, indem sie ihn freilich zugleich auf den Schooß nahm; »Du wirst doch nicht schon wieder Kuchen essen wollen. 's ist ein recht herzig Kind«, fuhr sie mit einem kleinen Seufzer fort – »Gott segne ihn! Er ist mein Jüngster, und wir verziehen ihn bös, denn einer von uns, ich oder der Vater, muß ihn immer vor Augen haben, sonst können wir nicht leben.«

Sie streichelte Aaron's braune Locken und meinte, es müsse Meister Marner gut thun, so'n Bild von einem Kinde zu sehen. Aber Marner, der an der andern Seite des Heerdes saß, sah bei seiner Kurzsichtigkeit das hübsche rosige Gesicht nur als eine trübe Scheibe mit zwei dunklen Flecken darauf.

»Und eine Stimme hat er wie ein Vogel, Ihr glaubt es gar nicht«, fuhr Dorchen fort; »er kann ein Weihnachtslied singen, was ihn sein Vater gelehrt hat, und mir ist's ein gutes [102] Zeichen, daß er die frommen Melodien so rasch lernt. Komm, Aaron, stell Dich hin und sing Meister Marner das Lied vor.«

Zur Antwort rieb Aaron die Stirn an seiner Mutter Schulter.

»O, das ist unartig«, sagte Dorchen sanft; »stell Dich hin, wenn Mutter es Dir sagt, und laß mich den Kuchen halten, bis Du fertig bist.«

Aaron war nicht abgeneigt, unter günstigen Umständen selbst vor einem Menschenfresser seine Talente zu zeigen, und nachdem er sich noch einige Male gesträubt hatte, indem er sich namentlich mit dem Rücken der Hand über die Augen fuhr und durch die Finger Meister Marner ansah, ob er auch wohl sehr neugierig sei auf den Gesang, ließ er sich endlich den Kopf grade richten und stellte sich hinter den Tisch, über den er nur bis zu seinem weißen Kragen hervorguckte, so daß er aussah wie ein Engelskopf ohne jeden Leib; dann stimmte er mit einem hellen Gezirpe, und in einer Melodie, die den Takt eines Hammerschlags hatte, das Lied an:

Gott geb' euch Freude, liebe Herrn!
Kein Leid euch treffen mag,
Denn Jesus Christ, der Heiland, ward
Gebor'n am Weihnachtstag.

Andächtig hörte Dorchen zu und blickte Marner mit der Zuversicht an, dies Lied werde wohl helfen, ihn in die Kirche zu locken.

»Das ist Weihnachtsmusik«, sagte sie, als Aaron zu Ende war und wieder sein Stück Kuchen ergriffen hatte. »Gegen Weihnachtsmusik kommt keine andere. ›Horch, die Engel künden jubelnd‹ – wie ist das schön! Und nun solltet Ihr mal hören, wie das in der Kirche klingt mit den Posaunen und all den Stimmen; man sollte meinen, man wäre schon in einer bessern Welt, – ich möchte zwar nicht schlecht von dieser Welt reden, denn Die haben uns ja hineingesetzt, die's am besten wissen müssen, aber was man mit dem Trinken erlebt und dem Gezanke und den schlimmen Krankheiten und den harten Todeskämpfen, [103] wie ich sie so oft mit durchgemacht habe – wirklich, man wird dankbar, wenn man von einer bessern Welt hört. Der Junge singt hübsch, nicht wahr, Meister Marner?«

»Ja«, antwortete Silas zerstreut, »recht hübsch.«

Das Weihnachtslied mit seinem hämmernden Takte hatte seinen Ohren ganz seltsam geklungen, gar nicht wie ein Kirchenlied, und es konnte daher auch nicht die Wirkung haben, auf die Dorchen gehofft hatte. Aber er wollte ihr gern seine Dankbarkeit beweisen, und dafür wußte er keinen andern Rath, als daß er Aaron wieder ein Stück Kuchen anbot.

»O nein, nicht mehr, Meister Marner«, sagte Dorchen und hielt die kleine Hand zurück, die Aaron bereitwillig genug ausstreckte. »Wir müssen jetzt nach Haus. Und nun wünsch' ich Euch einen guten Tag, Meister Marner, und wenn Ihr Euch mal ein bischen schlecht fühlt, daß Ihr nicht selbst für Euch sorgen könnt, dann will ich recht gern herkommen und alles in Ordnung bringen und Euch was kochen. Aber ich bitte Euch recht dringend, laßt das Weben am Sonntag, das ist böse für Seele und Leib, und das Geld, was Ihr damit verdient, das wird mal ein hartes und schlechtes Bett für Euch in Eurem letzten Stündlein, wenn es nicht gar wieder wegfliegt, kein Mensch weiß wohin. Ihr entschuldigt doch, daß ich mir die Freiheit mit Euch nehme, Meister Marner, denn ich wünsche Euch alles gute – ja wirklich, das thu' ich. Mach' Deinen Diener, Aaron!«

Silas sagte: »Na, denn adieu und freundlichen Dank!« und dabei ließ er sie aus der Thür, aber er fühlte sich doch recht erleichtert, als sie fort war – erleichtert, weil er nun wieder nach Herzenslust weben und jammern konnte. Ihre einfache Anschauung vom Leben und seinen Freuden, womit sie ihn aufzuheitern gesucht hatte, war für ihn nur wie ein Bericht über unbekannte Dinge, die sich seine Einbildungskraft nicht vorstellen konnte. Die Quellen der Liebe zu den Menschen und des Glaubens an Gott waren in ihm noch nicht erschlossen und seine Seele glich noch immer dem ausgetrockneten Bächlein, mit dem einzigen Unterschiede nur, daß die kleine Sandfurche versperrt [104] war und das bischen Wasser, was noch floß, sich an den dunkeln Hindernissen verlief.

Und so verbrachte denn Silas, trotz der gutgemeinten Ermahnung Dorchens und des Küsters, auch diese Weihnachten wieder einsam und aß sein Stück Braten mit bekümmertem Herzen, obschon ihm das Fleisch von einem Nachbar geschenkt war. Am Morgen blickte er hinaus in den bittern Frost, der grimmig jedes Grashälmchen zu packen schien, während das halb gefrorene Lehmwasser im Steinbruch unter dem schneidenden Winde bebte, aber gegen Abend fiel Schnee und verhüllte ihm auch diese traurige Aussicht und schloß ihn enge ein mit seinem Gram. Und so saß er in seiner beraubten Wohnstätte den lieben langen Abend, unbekümmert um die offenen Läden und die unverschlossene Thür, den Kopf zwischen die Hände gedrückt und jammernd und ächzend, bis der Frost ihn schüttelte und ihn erinnerte, daß sein Feuer erloschen sei.

Niemand auf der Welt außer ihm selbst wußte, daß dies derselbe Silas Marner sei, der einst seinen Nächsten mit zärtlicher Liebe geliebt und auf den unsichtbaren Allgütigen vertraut hatte. Sogar für ihn selbst war diese Erinnerung der Vergangenheit trübe und dunkel geworden.

Aber im Dorf Raveloe klangen die Glocken lustig und die Kirche war voller als sonst jemals im Jahr, und durch ein herzhaftes Frühstück gestärkt, schimmerten die rothen Gesichter unter der Fülle dunkelgrüner Zweige. Diese grünen Zweige und das Weihnachtslied und der Lobgesang, die nur zu Weihnachten gesungen wurden, und selbst das Athanasianische Glaubensbekenntniß, welches man von den andern lediglich durch seine größere Länge Es besteht aus 40 Versen. Der Verfasser ist übrigens nicht Athanasius gewesen, sondern ein unbekannter Kompilator des 6./7. Jh. und besondere Kraft unterschied, da es nur bei seltenen Gelegenheiten vorgelesen wurde – all das gab ein unbestimmtes freudiges Gefühl, für welches die Erwachsenen ebenso vergebens nach Worten gesucht hätten wie die Kinder, – das Gefühl, etwas großes und wunderbares sei oben im Himmel und unten auf Erden für sie geschehen, und durch ihr Erscheinen bekämen sie Theil daran. Und dann begaben sich die [105] rothen Gesichter durch den schneidenden Frost wieder nach Haus und fühlten sich für den übrigen Theil des Tages frei, zu essen, zu trinken und lustig zu sein, und bedienten sich dieser christlichen Freiheit ohne alle Scheu.

In der Familiengesellschaft beim Squire Caß wurde der verschollene Dunstan heute garnicht erwähnt; niemand war über seine Abwesenheit betrübt oder fürchtete, sie würde zu lange dauern. Der Doktor und seine Frau, Onkel und Tante Kimble, waren da, und die jährliche Weihnachtsunterhaltung wurde ohne jede Auslassung durchgemacht und erreichte ihren Gipfel in der Wiederholung von Onkel Kimble's Erzählung, wie er vor dreißig Jahren durch die Londoner Krankenhäuser gewandert sei, und der medizinischen Anekdoten, die er da gesammelt. Darauf folgte das Kartenspiel, wobei Tante Kimble ihren jährlichen Fehler wiederholte, nicht ordentlich nachzuspielen, und Onkel Kimble seinen jährlichen Aerger über das Trick hatte, wenn der Gegner es machte, was denn so unerklärlich war, daß alle Stiche erst wieder durchgesehen werden mußten, und das Ganze war wieder, wie alle Jahre, von einem starken Dufte geistiger Getränke durchweht.

Aber die Weihnachtsgesellschaft beschränkte sich streng auf die Familie und war nicht das Hauptfest dieser Jahreszeit im rothen Hause. Der Glanzpunkt der Gastlichkeit war seit unvordenklichen Zeiten der große Ball am Sylvesterabend. Das war die Gelegenheit, wo die ganze Gesellschaft von Raveloe und Tarley, wo alte Freunde, und wenn sie noch so weit von einander wohnten, oder entfernte Bekannte, mit denen man sich durch Mißverständnisse über fortgelaufene Kälber entzweit hatte, oder etwas niedriger stehende Bekannte, zu denen man sich ab und zu herabließ, – wo alle diese darauf rechneten, sich bei dem alten Herrn zu treffen und sich gegenseitig in einander zu schicken. Das war die Gelegenheit, wo schöne Damen, auf einem Reitsattel hinter ihrem Kavalier sitzend, von weither kamen und ihre Pappschachteln vorausschickten, die viel mehr enthielten als eine Abendtoilette, denn die Festlichkeit dauerte nicht blos einen Abend, wie so'ne dürftige Gesellschaft in der Stadt, wo das ganze [106] Abendessen auf einmal auf den Tisch gesetzt wird und das Bettzeug knapp ist. Das rothe Haus wurde verproviantirt wie für eine Belagerung, und die Fremdenbetten, die man freilich zum Theil auf dem Fußboden machen mußte, waren so reichlich, wie sich's in einer Familie erwarten ließ, die seit vielen Generationen ihre eigenen Gänse geschlachtet hatte.

Gottfried sah diesem Sylvesterabend mit einer thörichten Sehnsucht entgegen, die ihn halb taub machte gegen alle Einflüsterungen seiner lästigen Gefährtin Sorge.

»Dunsey kommt bald wieder; dann giebts großen Skandal, und wie wirst Du dann sein Schweigen erkaufen?« fragte die Sorge.

»O, er wird nicht grade zu Sylvester wiederkommen«, sagte Gottfried, »dann sitze ich bei Nancy und tanze mit ihr und gewinne ihr einen freundlichen Blick ab, sie mag wollen oder nicht.«

»Aber noch anderswo ist Geld nöthig«, fing die Sorge mit lauterer Stimme wieder an, »und wie willst Du das schaffen ohne Deiner Mutter Brillantnadel zu verkaufen? Und wenn Du's nicht schaffst …!«

»Ei, es kann ja was dazwischen kommen und die Sache wird nicht so schlimm. Auf jeden Fall steht mir eine Freude bevor: Nancy kommt!«

»Ja, aber, wenn Dein Vater die Sache nun soweit treibt, daß Du sie ausschlagen mußt und – Deine Gründe angeben?!«

»Halt den Mund und quäl mich nicht. Ich sehe schon Nancy's Augen, wie sie mich anblicken werden, und fühle schon ihre Hand in meiner.«

Aber die Sorge fuhr doch fort zu flüstern, mitten im Geräusch der Gesellschaft, und ließ sich selbst durch vieles Trinken nicht ganz zur Ruhe bringen.

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