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Vierzehnter Abschnitt.

In Raveloe gab's die Woche ein Armenbegräbniß, und in einer kleinen Gasse in Batherley erzählten sich die Leute, die schwarzhaarige Frau mit dem hübschen Kinde, die kürzlich da eingezogen, sei wieder fort. Das war die einzige Notiz, die man davon nahm, daß Molly nicht mehr auf Erden wandelte. Aber der unbeweinte Tod, der für das Allgemeine so leicht wog wie ein Blatt vom Baume, sollte für ein paar Menschen, die wir kennen, die Macht eines Verhängnisses haben und ihre Leiden und Freuden für ihr ganzes Leben gestalten.

Silas Marner's Entschluß, das Vagabondenkind zu behalten, wurde im Dorfe mit kaum geringerem Erstaunen und sicher eben so oft besprochen als der Raub seines Geldes. Zu dem milderen Urtheil über ihn, welches sich seit seinem Unglück geltend gemacht hatte, und dem etwas spöttischen Mitleid, womit man ihn als einen verlassenen halb blödsinnigen Menschen an [147]sah, trat jetzt eine thätige und regere Theilnahme, namentlich seitens der Frauen. Sorgsame Mütter, die wußten, was es hieße, Kinder rund und gesund zu erhalten, – lässige Mütter, die wußten, was es hieß, von dem Unsinn und den Unarten kleiner Kinder, die eben erst auf den Beinen stehen können, in seiner besten Ruhe gestört zu werden, wenn man eben die Arme übereinander geschlagen hatte und sich am Ellenbogen rieb, – alle nahmen gleich lebhaften Antheil an der Erörterung, wie ein einzelner Mann mit einem zweijährigen Kinde wohl fertig werde, und waren eben so gleichmäßig bei der Hand mit ihrem guten Rath, wobei ihm die sorgsamen hauptsächlich sagten, wie er's am besten anfinge, und die lässigen ihm nachdrücklich sagten, was er lieber gar nicht anfinge.

Unter den sorgsamen Müttern war Dorchen Winthrop diejenige, deren freundliche Unterstützung Marner am liebsten annahm, weil sie ihm dabei nicht mit lauten Rathschlägen zur Last fiel. Silas hatte ihr die halbe Guinee von Gottfried gezeigt und sie gefragt, wie er wohl am besten Kleider für das Kind anschaffe.

»Ih, Meister Marner«, meinte Dorchen, »die braucht Ihr nicht zu kaufen und auch kein Paar Schuhe; ich habe noch alles Kinderzeug was Aaron vor fünf Jahren getragen hat; das Geld könnt Ihr sparen bis später; das Kind wird schon wachsen wie Gras im Mai – das liebe Ding!«

Und denselben Tag noch brachte Dorchen ein ganzes Bündel und zeigte Marner die zierlichen kleinen Kleidungsstücke in gehöriger Reihenfolge eins nach dem andern, meist geflickt und gestopft, aber alle sauber und reinlich, wie frisch gewachsene Kräuter. Das war die Einleitung zu einer feierlichen Handlung mit Wasser und Seife, aus der die Kleine mit neuer Schönheit hervorging; dann nahm sie Dorchen auf den Schooß, und sie spielte mit ihren Zehen und gluckste vergnügt und schlug die Hände zusammen und gab verschiedene Entdeckungen, die sie an sich gemacht hatte, in einer Abwechselung von »Göck, göck, göck« und »Mama« zum besten. Das »Mama« hatte weiter [148] keine Bedeutung; das Kind war dran gewöhnt, ohne hinterher die Zärtlichkeit einer Mutter in Wort und That zu erwarten.

»Man sollt' meinen, die Engel im Himmel könnten nicht schöner sein«, sagte Dorchen, indem sie die goldenen Locken streichelte und küßte. »Und in so schmutzigen Lumpen hat das Ding gesteckt – und seine arme Mutter ist todt gefroren, aber Die über uns haben sich seiner angenommen und es an Eure Thür gebracht, Meister Marner. Die Thür war offen und es kam durch den Schnee herein, als wär' es ein kleines hungriges Rothkehlchen gewesen. Die Thür stand offen, nicht wahr?«

»Ja wohl«, sagte Silas nachdenklich. »Ja – die Thür stand offen. Das Geld ist fort, ich weiß nicht wohin, und dies ist gekommen, ich weiß nicht woher.«

Daß er das Kind nicht habe hereinkommen sehen, hatte er gegen niemand erwähnt, damit sich nicht bei weiterer Nachfrage herausstellte, was er selbst vermuthete, daß er nämlich wieder einen Starrkrampf gehabt habe.

»Ja ja«, sagte Dorchen mit freundlich ernstem Zuspruch, »es ist wie Nacht und Morgen, und Schlafen und Wachen, und Regen und Ernten – eins kommt und das andere geht, und wir wissen nicht wie oder wohin. Wir mögen uns plagen und zusammenscharren, wie wir wollen, am letzten Ende ist's doch nicht viel, was wir schaffen – die großen Dinge kommen und gehen ohne uns, ja, das thun sie, und ich glaube, Ihr habt ganz recht, daß Ihr die Kleine behalten wollt, Meister Marner, was auch andere Leute davon sagen mögen; sie ist Euch doch zugeschickt und anvertraut. Ihr werd't wohl ein bischen Mühe davon haben, so lange sie so klein ist, aber ich will recht gern herkommen und nach ihr sehen; die meisten Tage habe ich Zeit über, denn wenn man des Morgens bei Zeiten aufsteht, denn ist's einem um zehn Uhr, als wenn die Glocke still stände bis zum Mittagbrod. Da will ich denn herkommen, wie gesagt, und nach dem Kinde sehen, und recht gern will ich's thun.«

»Danke Euch … danke Euch recht freundlich«, sagte Silas zögernd. »Ich werd' mich recht freuen, wenn Ihr mir alles [149] sagt. Aber«, fügte er unruhig hinzu, indem er sich vornüber beugte und mit einer gewissen Eifersucht zusah, wie die Kleine sich an Dorchens Arm schmiegte und ihn ganz zufrieden aus der Ferne ansah – »aber ich möchte alles selbst thun, sonst könnt' sie wen anders lieb haben und mich nicht. Ich bin gewohnt im Hause allein zu wirthschaften – ich kann alles lernen, alles lernen.«

»Ei gewiß«, sagte Dorchen sanft. »Ich habe Männer gesehen, die waren ungemein handlich mit Kindern. Die meisten Männer sind zwar ungeschickt und verquer, das weiß Gott, aber wenn sie nichts getrunken haben, dann sind sie nicht unverständig, bloß bei Blutigeln und beim Verbinden, da sind sie nicht zu gebrauchen – viel zu hitzig und ungeduldig. Dies kommt zuerst, seht Ihr, gleich auf die bloße Haut«, fuhr Dorchen fort, indem sie das kleine Hemd nahm und es dem Kinde anzog.

»So? – Ja«, sagte Marner gelehrig, indem er sehr genau zusah, um in das Geheimniß einzudringen, worauf denn die Kleine seinen Kopf mit beiden Händchen ergriff und ihm mit den Lippen im Gesicht herumschnurrte.

»Seht Ihr wohl«, sagte Dorchen mit weiblichem Zartgefühl, »Euch hat sie am liebsten. Sie will gewiß auf Euren Schooß. Na, denn nehmt sie doch, Meister Marner. Zieht ihr die Sachen nur an, und dann könnt Ihr sagen, Ihr hättet für sie gesorgt von der ersten Stunde an.«

Marner nahm sie auf den Schooß und zitterte dabei vor einer Bewegung, die er selbst nicht begriff, als gehe seinem Leben ein neues unbekanntes Licht auf. Denken und fühlen ging so wirr bei ihm durch einander, daß er, wenn er zu sprechen versucht hätte, nur hätte sagen können, das Kind sei gekommen statt des Goldes – das Gold habe sich in das Kind verwandelt. Er nahm Dorchen die Kleider ab und zog sie unter ihrer Anleitung dem Kinde an, das ihn natürlich mit Bewegungen und Sprüngen vielfach unterbrach.

[150] »So, da wär't Ihr mit fertig! Ihr habt aber 'ne gute Hand dafür, Meister Marner«, sagte Dorchen; »aber wie wollt Ihr's machen, wenn Ihr am Webstuhl sitzen müßt? denn die wird alle Tage lebendiger und macht immer mehr Unsinn – das liebe herzige Ding, das sollt Ihr sehen. Es trifft sich gut, daß Ihr den hohen Heerd habt und keinen niedrigen Rost; denn kann sie nicht so leicht bei's Feuer; aber wenn Ihr was habt, was sich verderben läßt oder was entzwei geht oder wo sie sich die Finger mit abschneiden kann, da wird sie hinterher sein – das muß ich Euch nur bei Zeiten sagen.«

Silas wußte sich nicht gleich zu helfen und dachte etwas nach.

»Ich werd' sie an den Webstuhl anbinden«, sagte er endlich – »mit 'ner hübschen langen Schnur werd' ich sie anbinden.«

»Nun, das geht vielleicht, weil es ein kleines Mädchen ist, die sitzen eher still als Jungens. Was Jungens sind, davon weiß ich Bescheid; ich hab' ihrer viere gehabt – ja viere hab' ich gehabt, Gott weiß – und wenn man die nimmt und bind't sie an, die strampeln und schlagen und schreien, als wenn man 'nem Schweine 'nen Ring durch die Nase zieht. Aber ich will Euch unsern Kinderstuhl herbringen und ein paar rothe Lappen und so was, wo sie mit spielen kann; denn sitzt sie still und spricht damit, als wären sie lebendig. Ja, wenn's keine Sünde wär' gegen die Jungens, und Gott wolle sie und mich davor bewahren, dann hätt's mich recht gefreut, wenn einer ein kleines Mädchen geworden wäre, und wie hätt' ich der das Scheuern beigebracht, und das Flicken und Stricken und alles. Aber die Kleine soll's von mir lernen, Meister Marner, wenn sie erst alt genug ist.«

»Ja, aber 's bleibt meine Kleine«, fuhr Marner eilig heraus; »und sie gehört keinem andern.«

»Nein, gewiß nicht, Ihr habt ein Recht auf sie, wenn Ihr Vater für sie seid und sie ordentlich erzieht. Aber«, fügte Dorchen hinzu, und damit kam sie auf einen Punkt, den sie sich aus [151]drücklich vorgenommen hatte zu berühren, – »aber Ihr müßt sie erziehen wie ein Christenkind und sie mit in die Kirche nehmen, und den Katechismus muß sie lernen, wie unser kleiner Aaron, der kann schon alles aufsagen, ›ich glaube‹ kann er und alles und ›keinem Menschen Unrecht thun‹, grad' so gut wie der Küster. Das müßt Ihr thun, Meister Marner, wenn Ihr an dem Waisenkinde rechtschaffen handeln wollt.«

Vor plötzlicher Angst stieg Marner das Blut in sein blasses Gesicht. Er war innerlich zu beschäftigt sich klar zu machen, was Dorchen eigentlich sagen wollte, als daß er ihr hätte antworten können.

»Und ich glaube«, fuhr sie fort, »das arme kleine Geschöpf ist noch gar nicht mal getauft, und es ist nicht mehr als billig, daß Ihr mit dem Pastor darüber sprecht, und, wenn's Euch recht ist, kann ich's heute gleich mit dem Küster überlegen. Denn wenn mit dem Kinde mal was passirte, und Ihr hättet nicht Eure Schuldigkeit gethan, Meister Marner, – mit dem Impfen und solchen nützlichen Vorkehrungen – das wäre Euch wie ein Stachel in Eurem Bett, so lange Ihr lebt, und ich kann mir nicht denken, daß einer in der andern Welt ruhig sein kann, der nicht an den hülflosen Kindern seine Schuldigkeit gethan hat, die einem der liebe Gott schickt.«

Dorchen schwieg und blieb am Schweigen; sie hatte aus der Tiefe ihres einfachen Glaubens gesprochen und war nun begierig zu erfahren, ob ihre Worte bei Silas die gewünschte Wirkung hätten. Er war verwirrt und ängstlich, denn das Wort »taufen« hatte für ihn keine bestimmte Bedeutung; er hatte nur von Waschungen gehört und diese nur an Erwachsenen gesehen.

»Was meint Ihr mit ›taufen‹, sagte er endlich schüchtern. »Sind die Leute sonst nicht gut gegen sie?«

»Du lieber Himmel, Meister Marner«, sagte Dorchen, halb traurig halb mitleidig, »habt Ihr denn nicht Vater und Mutter gehabt, die Euch beten gelehrt haben und all die guten [152] Sprüche und was sonst noch in der Bibel steht und dem Menschen gut thut?«

»Ja wohl«, sagte Silas leise: »das kenn' ich recht gut – früher wenigstens da kannte ich's. Aber hier haltet Ihr's anders; wo ich her bin, das ist weit weg«. Er schwieg einige Augenblicke und fuhr dann mit entschiedenerem Tone fort: »Aber ich will für das Kind thun was ich kann. Und was hier zu Lande gut für das Kind ist, und was Ihr für gut haltet, das will ich thun, wenn Ihr's mir nur sagen wollt.«

»Gut, Meister Marner«, sagte Dorchen innerlich triumphirend, »dann will ich den Küster bitten, daß er mit dem Herrn Pastor spricht, und Ihr müßt Euch dann über einen Namen entscheiden, denn 'nen Namen muß es haben, wenn es getauft wird.«

»Meine Mutter hieß Epzibah« sagte Silas, »und meine kleine Schwester wurde nach ihr auch so genannt.«

»Das ist ein schwerer Name«, meinte Dorchen, »und ein rechter Taufname ist's auch nicht, fürcht' ich.«

»Doch, 's ist ein biblischer Name«, sagte Silas, in welchem alte Erinnerungen aufstiegen.

»Dann darf ich wohl nichts dagegen sagen«, erwiderte Dorchen, ganz überrascht von Marner's Kenntniß in diesem Punkt; »aber seht Ihr, ich habe nicht viel gelernt und mit den Worten komme ich nicht recht vorwärts; mein Mann sagt immer, mit mir wär's immer grade als wollt' ich rechts und ginge dann links – so drückt er sich aus – der ist gescheut. Aber es war recht ungeschickt, daß Ihr Eure kleine Schwester mit einem so schweren Namen nanntet, wenn Ihr nicht grade grob gegen sie sein wolltet – nicht wahr, Meister Marner?«

»Wir nannten sie Eppie«, meinte Silas.

»Na, wenn man den Namen abkürzen darf, das wär' viel handlicher. Aber nun will ich gehen, Meister Marner, und wegen der Taufe, das will ich noch heute abmachen, und ich wünsche Euch recht viel Glück, und ich glaube ganz bestimmt, Ihr werdet's auch haben, wenn Ihr an dem Waisenkinde thut [153] was recht ist. Und nach dem Einimpfen müssen wir auch sehen, und was das bischen Wäsche angeht, da laßt mich nur für sorgen, das kann ich mit einer Hand machen, wenn ich mal beim Seifwasser bin. Na adieu, Du kleines Engelherz! Nächster Tage bring' ich Aaron mit; der zeigt ihr denn den kleinen Wagen, den ihm der Vater gemacht hat, und sein schwarz und weiß geflecktes Hündchen.«

Das Kind wurde wirklich getauft, da der Pastor entschied, zweimal taufen sei das geringere Risiko, und bei dieser Gelegenheit erschien Silas, so sauber und schmuck er konnte, zum ersten Mal in der Kirche und nahm an den Gebräuchen Theil, die seinen Nachbarn heilig waren. Nach allem was er sah und hörte, war es ihm unmöglich, die Raveloer Religion mit seinem alten Glauben zu identifiziren; hätte er das zu irgend einer frühern Zeit vermocht, so hätte Gefühl und Herz ihm dabei helfen müssen, nicht eine Vergleichung von Worten und Begriffen, und jenes Gefühl schlummerte schon seit Jahren. Von der Taufe und dem Kirchenbesuch hatte er keine klare Vorstellung; er hielt sich nur daran, daß Dorchen gesagt hatte, es sei dem Kinde gut, und auf diese Weise schuf das Kind fortwährend frische Beziehungen zwischen ihm und den Mitmenschen, von denen er sich bisher in immer engere Einsamkeit zurückgezogen hatte. Ganz unähnlich dem Golde, welches nichts bedurfte und nur in heimlicher Stille verehrt werden konnte, vor dem Tageslichte sich verbarg und taub war gegen den Gesang der Vögel und beim Klange einer Menschenstimme sich nicht regte, – war Eppie ein kleines Geschöpf von endlosen Ansprüchen und immer neuen Wünschen, welches den Sonnenschein suchte und liebte und lebendige Töne und lebendige Bewegungen, welches mit allem was anzufangen suchte, überall ein neues Vergnügen fand und jedem Auge, das sie ansah, einen freundlichen Blick entlockte. Das Gold hatte seine Gedanken in einen ewig gleichförmigen Zirkel gebannt, der nie über sich hinausführte, aber Eppie entwickelte sich und erregte Hoffnungen, die seine Gedanken vorwärts drängten und weit hinwegführten von dem alten [154] unruhigen Drehen in demselben öden Kreise, – weit hinweg zu all dem Neuen, was die kommenden Jahre bringen würden, wenn Eppie erst begreifen gelernt habe, wie ihr Vater Silas für sie sorge, – und das Bild dieser Zukunft lehrte ihn das Kind schon jetzt in dem Familienleben seiner Nachbarn sehen. Das Gold hatte ihn getrieben, daß er immer saß und arbeitete und webte, Stunde für Stunde und Tag für Tag, taub und blind gegen alles andere außer dem eintönigen Geklapper seines Webstuhls und der Einförmigkeit seines Gewebes, aber Eppie lockte ihn weg von seiner Arbeit und machte ihm jede Unterbrechung zu einer Erholung, gab mit ihrem frischen Leben auch seinem Sinn ein neues Leben, so daß selbst die alten überjährigen Fliegen, die im ersten Frühlingssonnenschein sich wieder regten, ihm Freude machten, weil sie ihre Freude daran hatte.

Und als der Sonnenschein immer wärmer und beständiger wurde und die Butterblumen alle Wiesen dicht übersäeten, da konnte man Silas am sonnigen Mittag oder spät am Nachmittage, wenn die Schatten an den Hecken länger wurden, mit bloßem Kopfe umherwandeln sehen, wie er Eppie auf die andere Seite der Steingrube trug, wo die Blumen wuchsen; dann ließ er sich an einer Lieblingsstelle nieder, während Eppie umhertappte und Blumen pflückte und sich mit den geflügelten Wesen unterhielt, die so munter über den glänzenden Blüthenkelchen summten, und dabei immer Papa's Aufmerksamkeit in Anspruch nahm, indem sie ihm die Blumen brachte. Dann wieder, wenn plötzlich der Ton eines Vogels sich hören ließ, horchte sie auf und wenn ihr Silas dann das Zeichen gab, sie müsse still sein, damit sie den Ton noch mal hörten – daß der kleinen Schelmin dies Zeichen des Stillseins viel Spaß machte, hatte er bald herausgefunden – und der Ton sich dann wirklich wieder hören ließ, dann warf sie sich ins Gras und lachte mit lautem Jubel. Bei diesen Gängen über die Wiesen fing Silas wieder an, nach seinen alten Bekannten, den Kräutern, zu sehen, und wenn er die Blätter, an Form und Zeichen unverändert, in der Hand hielt, dann drangen so viel Erinnerungen auf ihn [155] ein, daß er sich scheu abwandte und in Eppie's kleine Welt flüchtete, wo sein geschwächter Geist leicht aufathmete.

Wie das Kind geistig heranwuchs, wuchs auch in ihm die Erinnerung wieder auf; wie ihr Leben sich entfaltete, so entfaltete sich nach langer Verdumpfung in kalter enger Haft auch seine Seele und erblühte allmälich zu vollem Bewußtsein.

Diese Wirkung mußte sich mit jedem neuen Jahre steigern; die Töne, die Silas ans Herz schlugen, wurden bestimmter und verlangten bestimmtere Antwort; immer klarer lernte Eppie sehen und hören und immer mehr hatte Papa zu beachten und zu bedenken. Auch entwickelte Eppie von ihrem dritten Jahr an ein hübsches Talent für Unsinn, so daß Silas nicht bloß seine Geduld, sondern auch seine Wachsamkeit und seinen Scharfsinn schwer auf die Probe gestellt sah. Bei solchen Gelegenheiten gerieth der arme Papa durch den Widerstreit von Liebe und Pflicht in arge Bedrängniß. Dorchen sagte ihm, Strafe sei gut für Eppie und ein Kind zu erziehen, ohne daß man es bisweilen an gefahrlosen Stellen ein bischen klappe, das sei gar nicht möglich.

»Freilich, Ihr könnt auch was anders mit ihr thun, Meister Marner«, fügte Dorchen nachträglich hinzu; »Ihr könnt sie in das dunkle Loch sperren, wo Ihr Eure Kohlen habt. So hab' ichs mit meinem Aaron gemacht; denn mit dem Jüngsten war ich so närrisch, ich konnt's nicht über's Herz bringen, ihn zu schlagen. Ich ließ'n auch bloß eine Minute oder so in dem dunkeln Loch, aber's war grade lange genug, daß er sich über und über schwarz machte und ich ihn frisch waschen und anziehen mußte, und für ihn war's so gut, als wenn er die Ruthe gekriegt hätte, das ist sicher. Aber ich schieb' es Euch ins Gewissen, Meister Marner, eines von beiden müßt Ihr wählen – entweder die Ruthe oder einsperren, sonst wächst sie Euch über'n Kopf und ist nicht mehr zu bändigen.«

Die traurige Wahrheit der letzten Bemerkung fiel Silas schwer aufs Herz, aber ihm fehlte der Muth, sich zwischen den beiden Strafarten zu entscheiden, nicht bloß, weil er Eppie [156] ungern weh that, sondern weil er befürchtete, sie habe ihn dann vielleicht weniger lieb. Laßt selbst einen zärtlichen Goliath sich an ein kleines schwaches Ding binden, und wenn er es zu verletzen fürchtet, indem er die Schnur anzieht, und noch mehr fürchtet, sie könne reißen – was, meint ihr, wird der Riese thun? Es war klar, Eppie würde mit ihren kurzen unsichern Schritten Vater Silas hübsch herumzerren, wenn sich mal die Gelegenheit fände.

Zum Beispiel: mit weiser Umsicht hatte er ein breites Stück Leinen gewählt, um sie an den Webstuhl zu binden, wenn er arbeiten mußte; es ging ihr wie ein breiter Gürtel um die Taille und war lang genug, daß sie an ihr kleines Rollbrett kommen und sich darauf niedersetzen konnte, aber nicht lang genug, um ihr eine gefährliche Kletterei zu gestatten. An einem schönen Sommermorgen war Silas mehr als gewöhnlich vertieft, ein neues Gewebe aufzuziehen, wobei er seine Scheere gebrauchte. In Folge einer besondern Warnung Dorchen's hatte er diese Scheere immer sorgfältig außer Eppie's Bereich gehalten, aber ihr Klang hatte einen eigenen Reiz für ihr Ohr, und indem sie auf die Wirkung dieses Klanges achtete, hatte sie den wissenschaftlichen Schluß gezogen, dieselbe Ursache würde dieselbe Wirkung haben. Silas war mit dem Aufziehen fertig, hatte sich an den Webstuhl gesetzt, und die geräuschvolle Arbeit war im Gange; aber er hatte die Scheere auf einer Leiste liegen lassen, die Eppie's kurzer Arm erreichen konnte, und nun nahm sie die Gelegenheit wahr, schlich aus ihrer Ecke heran, erfaßte die Scheere und watschelte wieder nach ihrem Bette. Sie wußte ganz genau, wozu sie die Scheere gebrauchen wollte, und nachdem sie das Stück Leinwand wohl oder übel durchgeschnitten hatte, war sie im Nu zur offenen Thür hinaus, wohin der Sonnenschein sie lockte, während der arme Silas glaubte, sie sitze hübsch artig hinter ihm. Erst als er mal wieder die Scheere gebrauchen wollte, entdeckte er die schreckliche Wahrheit: Eppie war allein hinausgelaufen – war vielleicht schon in die Steingrube gestürzt. Von der schrecklichsten Angst geschüttelt, die ihn hätte [157] befallen können, rannte er hinaus, rief »Eppie, Eppie!« und lief eilig an die nicht umzäunte Stelle, wo er zuerst nachsah, ob sie in eins von den trockenen Löchern gefallen sei, und dann unter fürchterlichen Zweifeln auf das schmutzige Lehmwasser des tiefsten Loches starrte. Der kalte Schweiß stand ihm auf der Stirn. Wie lange mochte sie schon fort sein? Nur eine Hoffnung blieb ihm – daß sie durch die Umzäunung gekrochen und auf das Feld gegangen sei, wohin er sie gewöhnlich mitzunehmen pflegte. Aber das Gras in der Wiese war hoch, und nicht so leicht zu entdecken, ob sie da sei; an allen Hecken suchte der arme Silas herum, ging durch das Gras die Kreuz und Quer und glaubte Eppie bald hinter jedem Ginsterbusch sitzen, bald sich immer weiter entfernen zu sehen. Die Wiese hatte er vergebens abgesucht, und nun kletterte er über die Umzäunung in das nächste Feld und blickte in halber Verzweiflung auf einen kleinen Teich, der jetzt im Sommer nur wenig Wasser enthielt und einen breiten Rand von gutem zähen Schmutz hatte. Aber da saß Eppie seelenvergnügt im Gespräch mit ihrem kleinen Schuh, den sie als Eimer benutzte, um in eine tiefe Hufspur Wasser zu schöpfen, während ihr kleiner bloßer Fuß behaglich auf einem Kissen von olivgrünem Schlamm ruhte. Ein rothes Kalb sah ihr durch die gegenüberstehende Hecke ganz verwundert zu.

Hier lag offenbar ein Fall vor, der strenge Strafe erheischte, aber Silas war vor krampfhafter Freude über seinen wiedergefundenen Schatz so außer sich, daß er sie nur aufheben und halb schluchzend mit Küssen bedecken konnte. Erst als er sie nach Hause getragen hatte und an das nöthige Waschen dachte, fiel ihm ein, er müsse Eppie bestrafen und ihr einen Denkzettel geben. Der Gedanke, sie könne wieder weglaufen und zu Schaden kommen, gab ihm ungewöhnliche Festigkeit, und zum ersten Male beschloß er, es mit dem kleinen dunklen Verschlage neben dem Heerde zu versuchen, wo er seine Kohlen aufbewahrte.

»Unartige Eppie«, fing er plötzlich an und wies dabei auf [158] ihre schmutzigen Füße und Kleider, – »unartiges Kind, mit der Scheere zu schneiden und wegzulaufen! Eppie muß ins dunkle Loch, weil sie unartig gewesen ist. Papa muß sie in den Kohlenverschlag stecken.«

Er hatte halb und halb geglaubt, die bloße Ankündigung wäre Strafe genug und Eppie würde gleich anfangen zu weinen. Aber statt dessen wiegte sie sich lustig auf seinem Knie, als sei ihr das eine sehr angenehme Abwechselung. Er sah, er mußte zum äußersten schreiten, und schloß sie in das dunkle Loch ein; wer aber dabei zitterte, war er; er überlegte sich, ob er auch zu strenge sei. Einen Augenblick lang war alles still, dann rief eine feine Stimme: »offen, offen!« und Silas ließ sie wieder heraus, indem er sagte: »nun ist Eppie aber nie wieder unartig, sonst muß sie wieder in den Verschlag, in das häßliche schwarze Loch.«

Aus dem Weben wurde heute nicht viel, denn nun mußte Eppie rein gewaschen und neu angezogen werden; aber es stand doch zu hoffen, die Strafe werde eine dauernde Wirkung haben und für die Zukunft Zeit sparen; freilich es wäre nicht so übel gewesen, wenn Eppie etwas mehr geweint hätte.

In einer halben Stunde war sie wieder rein, und indem sich Silas überlegte, was er mit dem leinenen Bande thun solle, warf er es in der festen Ueberzeugung wieder hin, heute werde Eppie auch ohne Anbinden artig sein. Er sah sich nach ihr um und wollte sie auf ihren kleinen Stuhl neben den Webstuhl setzen; da war sie nicht zu finden und mit einem Mal guckte sie, an Gesicht und Händen wieder ganz schwarz, aus dem Verschlage hervor und rief: »Eppie im dunkeln Loch.«

Dieses gänzliche Mißlingen des Versuchs mit dem dunkeln Loch erschütterte Marner's Glauben an die Wirksamkeit einer Strafe überhaupt.

»Sie nimmt alles für Spaß«, äußerte er gegen Dorchen, »wenn's ihr nicht weh thut, und das kann ich nicht über's Herz bringen. Wenn sie mir ein bischen Last macht, das muß ich [159] ertragen, und die Streiche, die sie im Kopf hat, da soll sie schon herauswachsen.«

»Da habt Ihr zum Theil wohl recht, Meister Marner«, antwortete Dorchen, die für eine solche Schwäche Sinn hatte, »und wenn Ihr's nicht über's Herz bringen könnt, sie ein bischen bange zu machen, daß sie die Sachen nicht anrührt, dann müßt Ihr zusehen, daß sie nicht dran kann. So mach' ich's mit den kleinen Hunden, die meine Jungens aufziehen. Die müssen immer beißen und zerren, und wär's meine beste Sonntagshaube, wenn sie nur so hängt, daß sie dran können. Sie kennen keinen Unterschied, die armen Thiere; wenn die Zähne durchwollen, dann müssen sie knabbern, das liegt mal drin.«

So wuchs Eppie auf ohne Strafe, und die Last ihrer Uebelthaten nahm Vater Silas auf sich. Die steinerne Hütte war ihr ein sanftes Nest, mit weicher Geduld gepolstert, und auch in der Welt draußen erfuhr sie nicht böse Blicke noch harte Worte.

So schwer es ihm wurde, das Kind und sein Garn oder Leinen zugleich zu tragen, nahm Silas sie doch meist auf seinen Wanderungen zu den Bauern mit und ließ sie nur ungern ab und zu bei Dorchen, die immer bereit war, sie bei sich aufzunehmen, und so wurde die kleine krausköpfige Eppie ein Gegenstand des Interesses für manche einsam liegende Häuser so gut wie für die Leute im Dorf. Bisher hatte man den Weber meist so angesehen, als sei er ein nützlicher Kobold oder Hausgeist – ein seltsames unerklärliches Geschöpf, bei dem man nur neugieriges Erstaunen und Abneigung empfinden könne und mit dem man jede Begrüßung und geschäftliche Verhandlung gern so kurz als möglich abmachen, den man aber doch freundlich behandeln und ab und zu mit etwas Fleisch oder Gemüse beschenken müsse, weil man ohne ihn kein Leinen bekäme. Aber jetzt traf Silas überall offene freundliche Gesichter und theilnehmende Unterhaltung, denn jetzt war er ja ein Mensch, dessen Freuden und Leiden man verstand. Ueberall mußte er sich etwas hinsetzen und von dem Kinde erzählen, nach welchem man sich stets angelegent [160]lich erkundigte. »Ihr könnt froh sein, Meister Marner«, hieß es, »wenn sie nur erst die Masern glücklich überstanden hat« oder auch »es giebt nicht viele alte Junggesellen, die so 'n kleines Kind angenommen hätten, aber von dem Weben habt Ihr wohl 'ne leichtere Hand, als die Männer, die auf dem Felde arbeiten; Ihr seid beinahe so geschickt wie ein Frauenzimmer, denn Weben kommt gleich hinter Spinnen«. Aeltere Leute, die aus großen Lehnstühlen die Welt beobachteten, ließen sich mit gewichtigem Kopfschütteln über die Schwierigkeiten der Kindererziehung aus, befühlten Eppie's runde Arme und Beine, und erklärten, sie seien merkwürdig fest, und sagten Silas, wenn sie gut anschlüge (was man freilich noch nicht wissen könne), dann sei er gut dran, ein tüchtiges Mädchen im Alter zur Hülfe zu haben. Dienstmädchen trugen das Kind gern auf den Hof zu den Hühnern und Kücken oder in den Obstgarten und schüttelten ihr Kirschen, und die kleinen Jungen und Mädchen näherten sich ihr langsam mit vorsichtigem Schritt und starrem Blick, – wie kleine Hunde, wenn sie ein anderes Hündchen zu Gesicht bekommen, – bis endlich Zärtlichkeit überwog und die zarten Kinderlippen einander küßten. Jetzt war kein Kind vor Silas bange, wenn Eppie bei ihm war; jung und alt hatten ihn gern; das Kind hatte ihn mit der Welt wieder vereinigt. Zwischen ihm und dem Kinde bestand Liebe und sie waren darin eins, und zwischen dem Kinde und der ganzen Welt war Liebe – von Männern und Frauen mit elterlich freundlichem Blick und Wort bis zu den kleinen rothen Marienkäfern und den runden Kieseln im Bach.

Für Silas hatte jetzt das ganze Leben Beziehung auf Eppie; sie mußte alles haben, was in Raveloe gut hieß, und er horchte begierig auf alles, um das Leben besser zu verstehen, von dem er sich funfzehn Jahre lang fern gehalten, wie von etwas fremdem womit er keine Gemeinschaft habe; jetzt glich er einem Menschen, der eine kostbare Pflanze hat, die er gern in neuen Boden pflanzen möchte, und der nun an Regen und Sonnenschein denkt und was sonst für seinen Schößling nöthig ist, und fleißig jede [161] Erkundigung einzieht, die dem zarten Wachsthum zu gute kommen und ihm helfen kann, Blätter und Knospen zu schützen. Die Neigung zu sparen war gleich nach dem Verlust seines Goldes gewichen; das Geld, welches er nachher verdient hatte, schien ihm so gleichgültig wie die Steine zur Vollendung eines Hauses, welches ein Erdbeben zerstört hat; das Gefühl seines Verlustes lastete zu schwer auf ihm, als daß bei der Berührung mit dem neu verdienten Gelde die alte Lust wieder hätte anklingen sollen. Und nun war ihm sein todter Schatz durch etwas ersetzt, was seinem Verdienst einen würdigen Zweck gab und Hoffnung und Freude stets erhob über das bloße Metall.

In alten Zeiten gab es Engel, die kamen und nahmen die Menschen bei der Hand und führten sie hinweg von der Stätte der Zerstörung. Engel mit weißen Flügeln erscheinen uns jetzt nicht mehr. Aber auch jetzt noch werden Menschen dem drohenden Untergange entrissen; eine Hand erfaßt sie und führt sie sanft hinweg in ein schönes ruhiges Land, von dem sie nimmer rückwärts blicken, und die Hand ist vielleicht eines kleinen Kindes Hand.


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