Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Neunzehnter Abschnitt.

Des Abends zwischen acht und neun Uhr saßen Eppie und Silas allein in der Hütte. Nach der gewaltigen Aufregung des Nachmittags hatte der alte Mann nach dieser Ruhe verlangt und sogar Frau Winthrop und Aaron, die natürlich länger blieben als die andern, freundlich gebeten, ihn mit seinem Kinde allein zu lassen. Noch war die Aufregung nicht vorüber; sie hatte nur das Stadium erreicht, wo die innere Gereiztheit jeden äußern Anreiz unerträglich findet, – wo man kein Gefühl von Ermüdung hat, sondern innerlich so angespannt ist, daß man unmöglich schlafen kann. Wer jemals einen Mitmenschen in [199] solchen Augenblicken beobachtet hat, der weiß, wie ihm dann die Augen glänzen und selbst grobe Züge vorübergehend eine wunderbare Klarheit und Bestimmtheit annehmen. Es ist dann, als habe das Gehör eine neue Feinheit für alle geistigen Stimmen gewonnen und der ganze plumpe Menschenbau sei damit in wundersame Schwingungen versetzt und die Schönheit des sanften Geisterhauches spiegle sich im Gesicht des Hörers.

So verklärt sah Marner's Antlitz aus, als er im Lehnstuhl saß und Eppie ansah. Sie hatte ihren Stuhl nahe an seine Kniee gerückt und hielt vornüber gebeugt seine beiden Hände umfaßt und blickte zu ihm auf. Auf dem Tische nebenan lag im Schein einer kleinen Lampe das wiedergefundene Gold das alte vielgeliebte Gold in regelmäßigen Haufen aufgeschichtet, wie es Silas früher zu ordnen pflegte, als es noch seine einzige Freude war. Er hatte ihr gesagt, wie er es jeden Abend gezählt habe und wie seine Seele so ganz verlassen gewesen, bis sie zu ihm gekommen.

»Zuerst ging's mir oft durch den Kopf«, sagte er mit unterdrückter Stimme, »Du würdest vielleicht wieder in Gold verwandelt; denn ich mocht's anfangen, wie ich's wollte, bisweilen glaubte ich das Gold leibhaftig vor mir zu sehen, und hätte mich recht gefreut, wenn ich's wieder gehabt hätte, wenn ich's hätte fühlen können. Aber das dauerte nicht lange. Schon nach kurzer Weile wär's mir ein Fluch gewesen, wenn es Dich von mir getrieben hätte, so nöthig war mir Dein Anblick und Deine Stimme und die Berührung Deiner kleinen Finger. Damals, als Du noch so klein warst, da wußtest Du nicht, Eppie, wie lieb Dich Dein alter Vater Silas hatte.«

»Aber jetzt weiß ich's, Vater«, sagte Eppie; »wenn Du nicht gewesen wärst, dann wär' ich ins Armenhaus gekommen, und da hätte mich keiner lieb gehabt.«

»Ei, Herzenskind, der Segen war mein. Wärst Du mir nicht zur Rettung gesandt, dann wär' ich im Elend in die Grube gefahren. Zur rechten Zeit wurde mir das Geld geraubt, und Du siehst, es ist uns erhalten – ist uns aufbewahrt, [200] bis wir's für Dich nöthig haben. Es ist ganz wunderbar – Gottes Wege sind ganz wunderbar.«

Einige Minuten lang schwieg Silas still und sah das Gold an. »Jetzt hat's keine Gewalt über mich«, sagte er nachdenklich; »es sollte mich wundern, ob es die je wieder gewönne; wenn ich Dich verlöre, Eppie, – ja, dann wär's möglich. Dann würde ich mich wieder verlassen fühlen – würde nicht mehr glauben, daß Gott gut gegen mich ist.«

In dem Augenblick wurde an die Thür geklopft, und Eppie mußte aufstehen, ohne ihrem Vater antworten zu können. Sie sah schön aus, als sie an die Thür ging. Thränen der Liebe feuchteten ihre Augen, die Wangen waren leise geröthet. Die Röthe stieg, als sie Herrn und Frau Gottfried Caß vor sich sah. Sie machte ihren kleinen ungeschickten Knix und hielt die Thür weit auf, um den Besuch einzulassen.

»Wir stören Euch zu später Stunde«, sagte Frau Caß, indem sie Eppie bei der Hand nahm und ihr mit einem Ausdruck inniger Theilnahme und Bewunderung ins Gesicht sah. Nancy selbst war blaß und zitterte.

Eppie setzte Stühle für die beiden Gäste und stellte sich dann zu Silas, ihnen gegenüber.

»Nun, Marner«, sagte Gottfried mit möglichst fester Stimme, »es ist mir ein rechter Trost, daß Ihr Euer Geld wieder habt, nachdem Ihr's so viele Jahre habt entbehren müssen. Der sich so an Euch vergangen hat, war einer von meiner Familie; desto mehr thut's mir leid, und ich fühle mich verpflichtet, es in jeder Weise an Euch gut zu machen. Alles was ich für Euch thun kann, ist ja doch nur die Abtragung einer Schuld, selbst wenn es sich blos um das Geld handelte. Aber es giebt noch anderes, wofür ich Euch verpflichtet bin und verpflichtet bleibe.«

Gottfried hielt inne; er hatte mit seiner Frau ausgemacht, sein Verhältniß als Vater solle sehr vorsichtig behandelt werden und die vollständige Mittheilung womöglich der Zukunft vorbehalten bleiben, so daß Eppie erst darauf vorbereitet werden könnte. Nancy hatte es so gewollt, weil sie deutlich fühlte, [201] wie schmerzlich für Eppie das Verhältniß zwischen ihrem Vater und ihrer verstorbenen Mutter sein müßte.

Silas, der sich immer unbehaglich fühlte, wenn er mit vornehmen Leuten, wie Herr Caß, zu thun hatte – so großen stattlichen Leuten, die meist hoch zu Roß stolzirten – Silas antwortete etwas verlegen:

»Herr, ich habe Ihnen ja schon für so viel zu danken. Und bei dem Diebstahl hab' ich nichts verloren. Und wenn ich's auch hätte, Sie können nichts dafür. Sie haben's nicht zu verantworten.«

»Wenn Ihr's auch so anseht, Marner, ich kann's nicht, und ich hoffe, Ihr laßt mich thun, was mein Rechtsgefühl verlangt. Ich weiß, Ihr seid mit wenigem zufrieden; Ihr habt immer schwer gearbeitet Euer Lebelang.«

»Ja wohl, Herr«, sagte Marner nachdenklich, »ohne die Arbeit wär' ich übel dran gewesen; da hab' ich mich dran gehalten, als mich alles andere verließ.«

»Freilich«, sagte Gottfried, der diese Worte lediglich auf seine leiblichen Bedürfnisse bezog – »freilich, 's war ein gutes Geschäft hier zu Lande, wo man so viel Leinenzeug gebraucht. Aber jetzt seid Ihr für so anstrengende Arbeit wohl etwas zu schwach; es ist Zeit, Ihr hört auf und gönnt Euch mehr Ruhe. Ihr seht recht angegriffen aus und seid doch eigentlich noch nicht alt, nicht wahr?«

»So an fünfundfünfzig, wenn ich richtig rechne«, antwortete Silas.

»Ei, da könnt Ihr ja noch Eure dreißig Jahre leben – seht nur mal den alten Küster an! Und das Geld da auf dem Tisch ist am Ende doch nicht viel. Weit reicht's nicht, Ihr mögt's nun auf Zinsen legen oder vom Kapital leben, so lange wie's vorhält; ja weit reicht's nicht, und wenn Ihr blos für Euch allein zu sorgen hättet, aber nun habt Ihr so viele Jahre für zweie sorgen müssen!«

»Ei, Herr«, meinte Silas, den Gottfried's Worte sehr gleichgültig ließen, »ich bin nicht bange, daß ich mal Noth leide. [202] Wir werden schon durchkommen – Eppie und ich, wir kommen schon durch. Es giebt nicht viele Leute in meinem Stande, die so viel erspart haben. Ob's für vornehme Leute viel ist, das weiß ich nicht. Aber für mich ists tüchtig viel – beinah zu viel. Und denn, wir gebrauchen ja so wenig.«

»Bloß den Garten, Vater«, sagte Eppie und wurde im nächsten Augenblicke roth bis über die Ohren.

»Einen Garten habt Ihr so gern, liebes Kind?« sagte Nancy, die sich freute, ihrem Manne zu Hülfe kommen zu können. »Darin denken wir überein; ich halte auch viel auf unsern Garten.«

»O, bei uns im rothen Hause, da giebt's viel im Garten zu thun«, sagte Gottfried, sehr erstaunt über die Schwierigkeit, die es ihm machte, mit einem Vorschlage herauszurücken, der ihm von fern so leicht erschienen war. »Ihr habt recht gut an Eppie gehandelt, Marner, diese sechzehn Jahre lang. Es wär' Euch doch eine rechte Beruhigung, wenn Ihr sie gut versorgt sähet, nicht wahr? Sie sieht zwar blühend und gesund aus, aber doch nicht stark genug für schwere Arbeit, gar nicht so drall und fest, wie ein Bauernkind. Es wär' Euch gewiß lieb, wenn Leute sich ihrer annähmen, die ihr mal ordentlich was hinterließen, daß sie leben könnte wie 'ne vornehme Dame; dazu paßt sie sich besser als für so'n mühseliges Leben, wie ihr gewiß über kurz oder lang bevorsteht.«

Eine leichte Röthe überzog Marner's Gesicht und verschwand wieder wie ein vorübergehender Lichtschein. Eppie wunderte sich nur, wie Herr Caß von solchen Sachen reden könnte, die doch gar nicht wirklich waren; aber Silas fühlte sich verletzt und unbehaglich.

»Ich verstehe Sie nicht, Herr«, antwortete er, da ihm nicht die Worte zu Gebote standen, um seine gemischte Empfindung auszudrücken.

»Nun, Marner, dann muß ich mich deutlicher erklären«, sagte Gottfried, entschlossen, die Sache zu Ende zu bringen. »Meine Frau und ich haben keine Kinder, wie Ihr wißt, und [203] unser schönes Haus und was wir sonst haben, – es ist mehr als wir brauchen – davon hat kein anderer was. Und nun hätten wir gern jemanden an Kindes Statt bei uns – Eppie möchten wir haben und als Kind annehmen. Für Euch wär's doch ein großer Trost im Alter, wenn sie so ihr Glück machte, nachdem Ihr sie so gut erzogen habt. Und es versteht sich, daß Ihr dafür ordentlich belohnt werdet, – ganz bestimmt. Und Eppie wird Euch gewiß immer lieb haben und dankbar gegen Euch sein; sie würde Euch recht oft besuchen, und wir wollten's uns angelegen sein lassen, Euch das Leben möglichst behaglich zu machen.«

Ein schlichter Mann wie Gottfried Caß und in seiner Lage, vergreift sich natürlich in den Worten und gebraucht Ausdrücke, die weniger zart sind als seine Absicht und die ein feines Gefühl leicht verletzen. Während er sprach, hatte Eppie ihren Arm ruhig dem Vater hinten um den Kopf gelegt und ihn liebkosend mit der Hand gestützt; sie fühlte, daß er heftig bebte. Er schwieg einige Augenblicke, als Gottfried geendet hatte, – ganz überwältigt von widerstreitenden Empfindungen, die alle gleich peinlich waren. Eppie schwoll das Herz, als sie ihren Vater so leiden sah, und eben wollte sie sich zu ihm hinabbeugen und mit ihm sprechen, als endlich eine schreckliche Angst alle andern Empfindungen seines Innern überwand und er mit matter Stimme sagte:

»Eppie, mein Kind, sprich Du; ich will Dir nicht im Wege sein. Bedank Dich bei den Herrschaften.«

Eppie zog die Hand vom Kopf des Vaters und trat einen Schritt vor. Ihre Wangen glühten, aber diesmal nicht vor Schüchternheit; das Gefühl, ihr Vater sei in Angst und Sorge, ließ diese Art von Selbstbewußtsein nicht zu. Sie machte einen tiefen Knix, erst gegen Frau Caß, dann gegen Herrn Caß, und sagte:

»Ich danke Ihnen, Madam – ich danke Ihnen, Herr. Aber meinen Vater laß ich nicht, und er bleibt mir immer der Nächste. Und 'ne Dame möchte ich gar nicht sein – ich danke [204] Ihnen aber doch (und dabei machte sie wieder einen Knix). Ich möchte mich nicht von denen trennen, an die ich gewöhnt bin.«

Bei den letzten Worten fing ihre Lippe an, etwas zu zittern. Sie trat wieder zu ihrem Vater an den Stuhl und umfaßte seinen Hals, während Silas mit unterdrücktem Schluchzen die Hand ausstreckte und die ihre umklammerte.

Nancy standen die Thränen in den Augen, aber in ihre Theilnahme für Eppie mischte sich natürlich Betrübniß wegen ihres Mannes. Zu sprechen wagte sie nicht; sie wußte nicht, was in seiner Seele vorging.

Gottfried empfand den Aerger, den wir immer empfinden, wenn wir auf ein unerwartetes Hinderniß stoßen. Er war ja so voll von Reue, so entschlossen, seinen Irrthum möglichst wieder gut zu machen. Er hatte bei sich ausgemacht, was recht sei und wie es kommen müsse, und auf die Gefühle anderer, die sich diesen tugendhaften Beschlüssen widersetzten, war er gar nicht vorbereitet einzugehen. Mit großer Aufregung nahm er wieder das Wort.

»Aber ich hab' ein Recht auf Euch, Eppie – das allerstärkste Recht. Es ist meine Pflicht und Schuldigkeit, Marner, Eppie als mein Kind anzuerkennen und für sie zu sorgen. Sie ist mein rechtes Kind – ihre Mutter war meine Frau. Und so hab' ich ein natürliches Recht auf sie, welches jedem andern vorgeht.«

Eppie war entsetzt zusammengefahren und ganz blaß geworden, Silas dagegen, der durch Eppie's Antwort von der Besorgniß frei war, sie dächten in dieser Sache verschieden, fühlte den Geist des Widerstandes in sich aufsteigen, und zugleich regte sich ein wenig sein väterlicher Grimm. »Wenn das so ist, Herr«, antwortete er mit einer Bitterkeit, die er seit dem unvergeßlichen Tage, wo die Hoffnung seiner Jugend zerstört war, selbst nicht an sich gekannt hatte – »wenn das so ist, Herr, warum haben Sie's denn nicht vor sechzehn Jahren gesagt und Ihr Recht geltend gemacht, ehe ich das Mädchen lieb hatte, und kommen nun jetzt her und wollen sie mir entreißen, wo Sie [205] mir eben so gut das Herz aus dem Leibe reißen könnten?! Gott hat sie mir geschenkt, weil Sie sich von ihr abgewandt hatten, und in seinen Augen ist sie mein Kind; Sie haben auf Eppie kein Recht! Wenn einer einen Segen von seiner Thür weist, dann fällt er denen zu, die ihn bei sich aufnehmen.«

»Ich weiß das, Marner. Ich hatte Unrecht und ich habe das schon oft bereut«, erwiderte Gottfried, dem die Worte des Alten ins Herz schnitten.

»Das freut mich um Ihretwillen«, sagte Silas mit steigender Aufregung, »aber was sechzehn Jahre bestanden hat, wird durch keine Reue geändert. Daß Sie jetzt herkommen und sagen: ›ich bin ihr Vater‹, das ändert nichts an unsern Empfindungen für einander. Ich bin's, den sie Vater genannt hat, seit sie das Wort sprechen konnte.«

»Aber Ihr solltet doch die Sache verständiger ansehen, Marner«, erwiderte Gottfried, ganz betroffen, daß der Weber so rücksichtslos die Wahrheit sagte. »Sie soll Euch ja nicht so entrissen werden, daß Ihr sie nie wieder zu sehen bekämt. Sie bleibt Euch nahe und soll recht oft zu Euch kommen. Es bleibt ja unter Euch ganz dasselbe wie früher.«

»Ganz dasselbe?!« sagte Marner, bitterer als zuvor, »wie soll sie wohl dieselbe Liebe für mich behalten wie jetzt, wo wir von demselben Bissen essen und aus demselben Glase trinken und von's Morgens bis des Abends an dasselbe denken?! Ganz dasselbe? – das ist müßiges Gerede. Entzweireißen würden Sie uns.«

Gottfried hatte selbst nicht genug durchgemacht, um das Gewicht dieser einfachen Worte zu empfinden, und fühlte sich wieder sehr geärgert. Es schien ihm so selbstsüchtig von dem Weber – denn von Selbstsucht sprechen die am leichtesten, welche ihre eigene Aufopferungsfähigkeit nie erprobt haben daß er sich widersetze, wo es sich doch offenbar um Eppie's Glück handle, und er fühlte sich berufen, um ihretwillen sein väterliches Ansehen geltend zu machen.

»Ich hätte gedacht, Marner«, sagte er mit strengem Ton [206] – »von Eurer Liebe zu Eppie hätt' ich erwartet, Ihr würdet Euch über eine so gute Wendung ihres Schicksals freuen, selbst wenn sie Euch ein Opfer auferlegt. Ihr solltet doch bedenken, daß Euer eigenes Leben ungewiß ist, und daß sie jetzt in einem Alter steht, wo ihr Schicksal sich vielleicht bald ganz anders gestaltet, als wenn sie in ihres Vaters Hause lebte; sie heirathet vielleicht einen gewöhnlichen Arbeitsmann oder Handwerker, und was ich dann auch für sie thun möchte, sie wär' doch gebunden, und ich könnte nicht mehr so für sie sorgen wie ich sonst thäte. Ihr stellt Euch ihrem Glück in den Weg, und so sehr es mir nach allem was Ihr gethan habt und was ich versäumt habe, leid thut, Euch zu kränken, so erkenne ich es jetzt doch für meine Pflicht, darauf zu bestehen, daß ich mich meiner Tochter annehme. Ich will meine Pflicht thun.«

Es läßt sich schwer sagen, wer von dieser letzten Rede Gottfried's am tiefsten getroffen wurde, Silas oder Eppie. Bei dem Streit zwischen ihrem alten theuren Vater und diesem neuen, halbunbekannten Vater, der so plötzlich an die Stelle jenes schwarzen, unkenntlichen Schattens trat, den sie bisher neben ihrer Mutter stehen und ihr den Ring an den Finger hatte stecken sehen, hatte Eppie mit lebhafter Erregung zugehört. Ihre Einbildungskraft erging sich im raschen Fluge nach rückwärts in Vermuthungen, nach vorwärts in Ahnungen, was dieser neue Vater bedeute, und in Gottfried's letzten Worten war manches, was diesen Ahnungen eine bestimmte Gestalt gab. Nicht als ob diese Gedanken, sei es an die Vergangenheit oder an die Zukunft, ihren Entschluß bestimmten – der wurde durch die Empfindungen bestimmt, die jedem Worte ihres Vaters Marner nachhallten und entsprachen; aber sie riefen, auch abgesehen von diesen Empfindungen, eine Abneigung gegen den neuen Vater und sein Anerbieten hervor.

Silas seinerseits war in seinem Gewissen getroffen und ängstigte sich, ob Gottfried's Vorwurf auch wohl wahr sei ob er sich wirklich aus Eigennutz dem Glücke Eppie's entgegenstellte. Lange war er stumm und rang nach der Selbstüberwin [207]dung, die ihn die Worte kosteten, welche er noch äußern wollte.

Endlich kam's zitternd heraus:

»Ich sage nichts mehr; mag's denn so sein, wie Sie wollen. Sprechen Sie mit dem Kinde, ich hindere nichts.«

Selbst Nancy, so fein sie in Sachen ihrer eigenen Empfindung fühlte, theilte die Ansicht ihres Mannes, daß sich Marner's Wunsch, Eppie zu behalten, nachdem ihr wirklicher Vater sich zu erkennen gegeben, nicht rechtfertigen lasse. Wohl fühlte sie, es sei eine recht schwere Heimsuchung für den armen Weber, aber nach ihrem Sittencodex ging das Recht des leiblichen Vaters unbestreitbar dem jedes Pflegevaters vor. Ueberdies war sie von Jugend auf an Wohlleben und die sonstigen Vorrechte vornehmer Leute gewöhnt und konnte sich gar nicht denken, welche Freuden sich die Armen in ihrem bescheidenen Treiben von früh auf zu schaffen gewöhnen; in ihren Augen erhielt Eppie durch die Anerkennung ihres Geburtsrechts ein zu lange entbehrtes unbestreitbares Gut. Sie fühlte sich daher bei Marner's letzten Worten erleichtert und meinte ebenso wie ihr Mann, das erwünschte Ziel sei erreicht.

»Eppie, liebe Eppie«, sagte Gottfried, indem er seine Tochter, nicht ohne eine gewisse Verlegenheit ansah, da er wohl fühlte, sie sei alt genug, um ihn beurtheilen zu können, – »es wird immer unser Wunsch sein, daß Du einem Manne Liebe und Dankbarkeit beweisest, der Dir so viele Jahre ein lieber Vater gewesen ist, und wir wollen Dir gern helfen, in jeder Weise für ihn zu sorgen. Aber wir hoffen, Du wirst uns eben so lieb gewinnen, und obschon ich Dir alle diese Jahre nicht das gewesen bin, was ein Vater hätte sein müssen, für den Rest meines Lebens will ich alles für Dich thun, was in meinen Kräften steht, und für Dich sorgen als mein einziges Kind. Und an meiner Frau wirst Du die beste Mutter haben – das ist ein Segen, den Du nicht gekannt hast, seit Du alt genug warst, ihn zu würdigen.«

»Liebes Mädchen, Du wärst ein wahrer Schatz für mich«, [208] sagte Nancy mit ihrer sanften Stimme. »Wenn wir unsere Tochter haben, bedürfen wir nichts weiter.«

Dieses Mal trat Eppie nicht vor und machte einen Knix. Sie hielt die Hand ihres alten Vaters fest umklammert – es war eines Webers Hand, fein fühlend genug, um für einen solchen Druck empfänglich zu sein – – und sie sprach, kälter und bestimmter als vorher:

»Ich dank' Ihnen, Madam – ich danke Ihnen, Herr, für Ihr Anerbieten – es ist recht schön und geht weit über meine Wünsche. Denn ich hätte keine Freude mehr am Leben, wenn ich von meinem Vater weg müßte, und er säße dann zu Haus und dächte an mich und fühlte sich einsam. Wir sind glücklich zusammen gewesen jeden Tag, und ohne ihn kann ich mir kein Glück denken. Und er sagt, er hätte keinen Menschen auf der Welt gehabt, bis ich ihm gesandt wurde, und wenn ich wegginge, hätte er auch wieder keinen. Und er hat sich meiner angenommen und mich geliebt von Anfang an, und ich will an ihm halten so lange er lebt, und niemand soll zwischen ihn und mich kommen.«

»Aber bist Du auch ganz gewiß, Eppie«, sagte Silas leise, »daß Dir die Wahl nie leid thut, wenn Du bei armen Leuten bleibst und in dürftigen Kleidern gehst, wo Du doch alles vom besten haben könntest?«

Seine Aufmerksamkeit auf diesen Punkt hatte noch zugenommen, als er Eppie ein solches Zeugniß treuer Liebe ablegen hörte.

»Mir kann's nie leid thun, Vater«, sagte Eppie. »Ich würde gar nicht wissen, was ich mir bei den schönen Sachen denken sollte, an die ich nicht gewöhnt bin. Und's wär' doch 'ne betrübte Geschichte, wenn ich mich so putzte und im Wagen führe und 'nen Kirchenstuhl hätte, und wenn denn meine Freunde, die ich lieb habe, dächten und sagten, ich paßte nicht mehr zu ihnen, was hätte ich dann auf der Welt?!«

Nancy sah mit einem schmerzlich fragenden Blick Gottfried an. Aber er blickte starr zu Boden und fuhr mit dem Stock [209] drüber hin, als überlege er sich etwas. Sie glaubte, es sei nur eins zurück, und das könne sie eher sagen als er.

»Was Du da sagst, liebes Kind, ist natürlich«, sagte sie milde; »es ist natürlich, daß Du an dem hängst, der Dich aufgezogen hat, aber Du hast auch eine Pflicht gegen Deinen leiblichen Vater. Vielleicht ist das Opfer nicht blos auf einer Seite. Wenn Dein Vater Dir sein Haus öffnet, so, denke ich, darfst Du ihm nicht den Rücken wenden.«

»Ich habe nur einen Vater«, sagte Eppie heftig und die Thränen traten ihr in die Augen. »Für mich ist die Heimath immer dies kleine Haus, wo er in der Ecke sitzt und ich arbeite und alles für ihn thue; eine andere Heimath kann ich mir nicht denken. Zu einer vornehmen Dame bin ich nicht erzogen und kann mich nicht dazu entschließen. Ich liebe die gewöhnlichen Leute und ihre Wohnungen und ihr Thun und Treiben. Und«, fuhr sie leidenschaftlich unter strömenden Thränen fort, »ich bin mit einem Arbeiter verlobt, der mit zum Vater zieht und mir hilft, für ihn zu sorgen.«

Gottfried fuhr zusammen, er sah Nancy an und es zuckte ihm schmerzlich in den Augen. Diese Vereitelung eines Planes, an dessen Ausführung er in dem stolzen Bewußtsein gegangen war, er sei im Begriff den größten Fehltritt seines Lebens bis auf einen gewissen Punkt wieder gut zu machen, das war zuviel für ihn; die Luft in dem Zimmer schien ihm den Athem zu nehmen.

»Wir wollen gehn«, sagte er mit dumpfer Stimme.

»Heute wollen wir nicht weiter davon sprechen«, sagte Nancy und stand auf. »Wir bleiben Deine guten Freunde, liebes Kind, und Eure auch, Marner. Wir kommen mal wieder her. Jetzt müssen wir gehn, es ist schon spät geworden.«

So deckte sie den plötzlichen Aufbruch ihres Mannes, der gradeswegs zur Thür hinausgegangen war, weil er kein Wort mehr vorbringen konnte.

[210]


 << zurück weiter >>