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Zehntes Kapitel.

Lateinische Prosa. Didaktische und polemische Literatur. Atto von Vercelli. Gunzo. Rather.

Gehen wir nun zu der Prosa über und zunächst zu der didaktischen und polemischen Literatur, so sind in dieser der Autoren und der Werke nicht viele, die von allgemeiner literarhistorischer Bedeutung sind, um unsere Berücksichtigung zu verdienen. Nur in der Kürze habe ich hier des Bischofs Atto von Vercelli Attonis opera ad autogr. Vercellens. fidem nunc primum exacta praefatione et commentar. illustrata a Burontio del Signore. Vercelli 1768. – *Migne, Patrol. latina Tom. CXXXIV. – – Histoire littér. de la France T. VI, pag. 281 ff. zu gedenken, dessen Werke auch grösstentheils rein kirchlich-theologischer Natur sind. Er nahm jenen bischöflichen Stuhl seit dem Jahre 924 ein und erfreute sich eines grossen Ansehns bei seinen Amtsbrüdern. Durch sein Capitulare, eine Sammlung von kirchlichen Vorschriften für seine Geistlichkeit, wie auch durch Sendschreiben suchte er ihre Sittlichkeit und 369 Bildung, sowie die ihrer Gemeinden zu heben. So wird c. 61 Theodulfs Anordnung in Betreff des Schulunterrichts (s. oben Bd. II, S. 72) eingeschärft, wie denn aus dessen Capitulare nicht weniges entlehnt ist. – Beachtenswerth sind vielleicht für die Geschichte des Theaters die Kapp. 42 und 78, obgleich jenes nur ein Verbot des Concils von Laodicea, dieses eines afrikanischen wiederholt. Aber wenn diese Verbote keine Anwendung auf die Zeit des Autors gefunden hätten, weshalb sollten sie dann hier eingeschärft sein? Mitten in den Parteikämpfen jener Zeit in Oberitalien wusste er die Integrität seines Charakters zu bewahren. Er starb wohl erst im Anfang der sechziger Jahre. Jedenfalls vor dem Ende des Jahres 964, wo eine Urkunde einen andern Bischof nennt.

Von seinen Werken ist nur eins hier etwas in Betracht zu ziehen. Denn die im »mystischen Latein« verfasste polemische Schrift Polypticum oder Perpendiculum gehört sicher Atto nicht an. Nicht bloss scheint sie mir mit der Individualität dieses Autors unvereinbar, sondern es finden sich auch Angaben darin, die seiner Verfasserschaft direct widersprechen. So wird im Eingang des Todes »des höchsten Hirten Silvester« gedacht, und unter ihm kann nur, wie schon Bähr bemerkte (Gesch. d. röm. Litt. 3. Supplem. S. 545), Gerbert verstanden werden, der 1003 starb. Demnach gehört die Schrift dem elften Jahrhundert an. Ferner wird der, an welchen dieselbe adressirt ist, Fulanus genannt. Das Pseudonym ist offenbar dem spanischen, aus dem Arabischen stammenden fulano entlehnt, das die Bedeutung von quidam hat. So weist der Gebrauch dieses Wortes auf einen spanischen Autor. Es ist der Libellus de Pressuris ecclesiasticis . In dieser Flugschrift von den Bedrückungen der Kirche werden die Rechte der letztern gegen die weltliche Gewalt vertheidigt und zwar in einer dreifachen Rücksicht, wonach das Buch in drei Theile gegliedert ist. Der erste handelt von dem Gericht über die Bischöfe, das nur ein geistliches sein soll, der zweite von den Ordinationen derselben – hier werden die Missbräuche in der Besetzung der Bisthümer bekämpft; der dritte Theil endlich ist dem Kirchenvermögen gewidmet, das während der Erledigung eines Bisthums nicht selten eine Beute der Laien wurde. Da der Verfasser zunächst nur die Missbräuche seiner Zeit und seines Landes beseitigen will und sie daher ins Auge fasst, so hat das Buch kirchengeschichtlichen Werth; es bietet aber auch einzelne kulturgeschichtlich interessante Züge. So erklärt sich der Verfasser im ersten Theil gegen das Gottesurtheil des Zweikampfes, dem bei einer von Rittern erhobenen 370 Criminalklage sogar die Geistlichen sich unterziehen mussten, freilich in der Form, dass ein Stellvertreter für sie kämpfte. Addunt insuper, quoniam si aliquis militum sacerdotes Dei in crimine pulsaverit, per pugnam hoc singulari certamine esse discernendum. pag. 58. ad pugnam producere heu! nostros compellimur vicarios, ut vel istorum caede victi, vel illorum quasi absoluti videamur; nec purgari a crimine, nisi perpetrato crimine, valeamus. pag. 61. – In stilistischer Beziehung gehört die Schrift zu den besseren jener Zeit.

Mit diesem Bischof Atto stand in näherer Beziehung jener Grammatiker Gunzo von Novara, den Otto nach Deutschland berief. So haben wir von ihm, als Diacon der Kirche seiner Vaterstadt, einen Brief an Atto, worin er auf dessen Wunsch seine Meinung über die Ehe des Sohnes eines Pathen mit dem Mädchen, das dieser aus der Taufe gehoben, ausspricht und dieselbe, namentlich unter Anführung eines Schreibens des Papstes Zacharias wegen der geistlichen Verwandtschaft verwirft. S. den Brief unter den Epistolae Atto's No. VI. Opp. ed. l. pag. 111. Gunzo verdient hier aber aus anderm Grunde uns zu beschäftigen: nämlich als Verfasser eines längern Sendschreibens an die Mönche von Reichenau, worin der zu St. Gallen bei der Durchreise in seiner Schulmeister- und Gelehrtenehre beleidigte Magister an diesem Kloster, mit welchem das Reichenauer auf unfreundlichem Fusse stand, sich rächt. Martène et Durand Veterum scriptor. etc. collectio. Tom. I, col. 294 ff. – Migne, Patrol. lat. T. 136, pag. 1283 ff. – – Histoire littér. de la Fr. Tome VI, p. 386 ff. (Ihre Ansicht, dass Gunzo ein Franzose gewesen, ist unhaltbar). So würzte Gunzo durch die Adresse seine Rache noch besonders. Dieses Schreiben ist von nicht geringem kulturgeschichtlichen Interesse in mehrfacher Beziehung. Wichtig ist schon, dass wir durch dasselbe überhaupt erst Gunzo's Berufung nach Deutschland erfahren haben, über die der Schreiber hier auch genauere Auskunft gibt: Otto hätte zuerst durch Vermittelung italienischer Fürsten ihn gewinnen wollen, da aber keiner derselben ihm etwas zu befehlen gehabt, so habe sich der Kaiser an ihn selbst gewendet. Gunzo trat dann zugleich mit ihm die Reise nach Deutschland an, indem er hundert Bände Bücher mitnahm, darunter den Martianus Capella, Plato's Timaeus, Aristoteles' »Peri Ermenias«, Cicero's und Aristoteles' Topica. Ermüdet und von Kälte erstarrt, kommt er zu St. Gallen an, wo er sich 371 zu erholen hoffte. Mit stummen Verbeugungen wird er empfangen, sodass er an die »falschen (weil schweigenden) Philosophen« des Juvenal erinnert wird. Nun will der Zufall, dass Gunzo im Gespräch einmal einen Accusativ für den Ablativ setzt: da ist denn ein junges naseweises Bürschchen ( pusio ), das unter dem Beifall seines Magister ihm diesen Fehler mit impertinenten Redensarten und in »liederlichen Versen« aufmutzt. Es ist, als ob dabei eine Rivalität der deutschen mit der italienischen Gelehrsamkeit mitgespielt hätte. Die St. Galler mögen sich wohl auch dieser Abführung des hochmüthigen ultramontanen Grammatikers berühmt haben. So hat denn Gunzo dieses Schreiben, sich zu entschuldigen und zu glorificiren, die Gegner aber mit gelehrtem Spott an den Pranger zu stellen, verfasst: es soll eben zeigen, wie weit er trotz des einen Fehlers sie überragt. Er kramt dabei allerdings eine für jene Zeit nicht gewöhnliche Gelehrsamkeit und Belesenheit in den römischen Dichtern, namentlich den Satirikern, aus.

Obwohl der Verfasser mit der Freiheit des Briefstils in seiner Epistel verfährt, so lassen sich doch drei Theile unterscheiden. Im ersten versucht er seinen Fehler zu entschuldigen, indem er aus lateinischen klassischen Autoren Stellen citirt, wo auch Vertauschungen der Casus sich finden sollen, darauf dergleichen Stellen aus der Vulgata, woran er dann die entrüstete Frage knüpft, wer es denn nun wage, solche Wendungen, da sie die heilige Schrift habe, zu tadeln oder zu ändern? Es ist dies bezeichnend für jene Zeit. – Was die aus den Klassikern angezogenen Stellen betrifft, so bekunden sie gerade uns recht die niedrige Stufe der grammatischen Bildung Gunzo's, trotz seiner nicht geringen Belesenheit. Das aus der Ilias des Homer gegebene Citat aber, welches, wie Bursian (Gesch. der klass. Philologie in Deutschland S. 43) zeigt, aus Servius entlehnt ist, beweist in seiner falschen Wiedergabe (Achille für Achillea) und Auffassung, dass Gunzo weder den Homer selbst gelesen, noch überhaupt griechisch verstand. Indessen gibt er zu, einer Nachlässigkeit sich schuldig gemacht zu haben, wie auch Homer einmal schlafe. Er schiebt sie auf den Gebrauch seiner Vulgärsprache, die dem Latein so nahe stehe. Dieser an sich sehr beachtenswerthe Grund wäre für uns verständlicher, wenn es sich um eine Vertauschung des Accusativ mit dem Ablativ gehandelt hätte, statt umgekehrt. Uebrigens komme es auf die Worte am wenigsten, vielmehr auf die Bedeutung derselben an; dies illustrirt er 372 durch den Hinweis auf die mystisch-allegorische Auslegungsweise, wobei er nicht nur an die Erklärung der Bibel, sondern auch an des Fulgentius Buch der Mythologien S. oben Bd. I, S. 454 ff. erinnert. Weisheit sei höher als Eloquenz zu achten.

In einem zweiten Theile geht er dann auf den Grund des Tadels ein, den er nur in der Bosheit findet; und hier ergiesst er nun seine Galle in der heftigsten Polemik, indem er den St. Gallern ins Gedächtniss zurückruft, wie sie unlängst ihren eigenen Abt verjagten (er meint offenbar Craloh) und den, der an seine Stelle trat (Anno), in den Tod jagten. Schon aus dem Namen seines Gegners – des Magisters, dessen geschniegeltes stutzerhaftes Aeussere er hier verspottet, – liesse sich auf seine Handlungen schliessen. Er nennt ihn Achar – es ist Ekkehart gemeint Und wohl Ekkehart II. S. Meyers v. Knonau Anmerkung zu S. 327 seiner Ausg. von Ekkeharts IV. Casus S. Galli. – Er weist hier auch nach, dass Gunzo erst im Januar 965 nach St. Gallen kam. – er gleicht dem ersten, dem alttestamentlichen, in dem Grad, dass, wenn man an die Pythagoreische Metempsychose glauben dürfte, die Seele des Beschnittenen sonder Zweifel in seinem Leibe wohne. So muss denn der alttestamentliche Dieb Gunzo den Stoff zu seiner Polemik gegen den St. Galler Magister liefern Da zeigt sich denn auch recht der Hochmuth des Italieners, wenn er die beiden Achar vergleichend sagt: Curtavit ille (der biblische) furto rempublicam, rempublicam multo magis iste (Ekkeh.) curtare voluit, quando accepto itinere me removere tentavit. Sciet forsitan et ipse quantum damnum reipublicae inferre voluit, cum postquam veni, quid utile egerim, cognoverit., die so weit geht, dass er ihm durch einen Vers Juvenals selbst einen Backenstreich ertheilte. Nos colaphum incutimus lambenti crustula servo. In einem dritten Theile verbreitet sich unser Autor über die sieben freien Artes, einzelne schwierige Fragen berührend, um seine Gelahrtheit zu zeigen, dem St. Galler Magister gegenüber, der wohl nur Grammatiker sei, als wenn einer die Wissenschaft einer der Artes vollständig erfassen könnte, ohne die andern studirt zu haben. Die ganze Epistel aber schliesst Gunzo mit einem an Gott gerichteten Gebet für seine Feinde in zweiunddreissig Hexametern (die aber nicht leoninisch sind), offenbar zum Beweise, dass er auch auf die metrische Kunst sich verstand.

373 Weit fruchtbarer als diese Autoren war der Lothringer Ratherius, dessen Werke durch ihren durchaus subjectiven Charakter eine eigenthümliche Originalität besitzen. Sie erscheinen fast ganz durch sein stürmisches wechselvolles Leben hervorgerufen.

Rather, Ratherii episcopi Veronensis opera nunc primum collecta, emend. et ineditis aucta. Curantibus Petro et Hieronymo fratribus Balleriniis. Verona 1765. (In Migne's Patrol. lat. T. 136). – – Vogel, Ratherius von Verona und das zehnte Jahrhundert. Jena 1854. 2 Bde. – Derselbe, Art. Ratherius in der Realencyclopädie f. protest. Theologie. Bd. XII. 2. Aufl. 1883. von edlem Herkommen, war in dem Bisthum Lüttich, vielleicht in dieser Stadt selbst, um das Jahr 890 geboren. Als Kind schon zum Mönch bestimmt, wurde er früh in das Kloster Laubach an der Sambre aufgenommen. Er zeigte, mit einem vortrefflichen Gedächtniss ausgerüstet, für die gelehrten Studien eine grosse Begabung, sodass er sich rühmen durfte, Phrenesis c. 3. nur wenig seinen Lehrern, viel mehr sich selbst sein ausgebreitetes Wissen zu verdanken. Seine Schriften bezeugen durch Citate seine grosse Belesenheit in den lateinischen Klassikern wie in der Bibel und in den Kirchenvätern, unter welchen den grössten Einfluss auf ihn Gregor der Grosse hatte. Ausser in der Grammatik war er auch in der Mathematik und Musik zu Hause, sodass er sie einmal selbst zu unterrichten im Stande war. Auch mit dem kanonischen Recht war er wohl vertraut; und wenn auch nicht in der Jugend, so scheint er doch später eine, obschon nur geringe Kenntniss des Griechischen sich angeeignet zu haben. Diese Gelehrsamkeit sowie seine von den Zeitgenossen hoch gerühmten Gaben des Scharfsinns und der Beredsamkeit, die ihn auch zu einem durch schlagfertigen Witz unterhaltenden Gesellschafter machten, mussten ihn leicht empfehlen; und so trat er mit dem ehrgeizigen Hilduin, der seit 920 als Bischof von Lüttich, Abt des Klosters geworden, in ein näheres Freundschaftsverhältniss. Als dieser, in Folge der politischen Wandlungen Lothringens, 926 das Kloster aufzugeben genöthigt war und sein Glück in Italien bei dem König Hugo, seinem Vetter, zu machen versuchte, nahm er Rather, den auch nach einem bedeutenderen Wirkungskreis verlangte, mit. Beide erreichten auch ihre ehrgeizigen Absichten. Hilduin wurde zuerst Bischof von Verona, dann 374 931 von Mailand, Rather aber durch die Gunst seines Freundes, wennschon schliesslich gegen den Wunsch des Königs, Hilduins Nachfolger auf dem ersteren Bischofsstuhl.

Das schlechte Verhältniss zu Hugo bewog ihn aber, an der Empörung des Grafen von Verona, Milo theilzunehmen und den Baiernherzog Arnulf zu berufen. Nach der Besiegung desselben und der alsbaldigen Unterwerfung des Grafen traf Rather allein der ganze Zorn des Königs (935). Er wurde abgesetzt und in einem Thurme Pavia's zwei und einhalb Jahr gefangen gehalten. Dort war es, wo er in der unfreiwilligen Musse sein erstes und wohl sein bedeutendstes Werk, die Praeloquia zu verfassen unternahm. Nachdem er aus diesem Gefängniss entlassen, wurde er noch der Aufsicht des Bischofs von Como unterstellt, der er sich aber durch die Flucht entzog (939). Er suchte zunächst im südlichen Frankreich eine Zuflucht, und bekleidete auch dort in seiner misslichen Lage eine Zeit lang, um sich zu erhalten, sogar eine Hauslehrerstelle, die ihm den Anlass zu einer leider verlorenen Schulgrammatik: »Sparadorsum« gab. So erzählt uns sein Zeitgenosse der Abt von Laubach Folcuin, der den Titel erklärt mit den Worten: quem librum gentilicio loquendi more »Sparadorsum« vocavit pro eo quod qui scholis assuesceret puerulus, dorsum a flagris servare posset. Gesta abb. Lobiens. c. 20.

Endlich um das Jahr 944 kehrte er in die Heimath, das Kloster Laubach zurück, dem er indessen durch eine Bearbeitung der Vita des heiligen Ursmar, welcher Abt desselben Anfang des achten Jahrhunderts war, sich in die Erinnerung gerufen. Aber nur kurze Zeit verweilte er dort, denn die in Italien ausgebrochenen Unruhen, der Aufstand Berengars gegen Hugo, riefen ihn dorthin zurück, indem sie die Hoffnung auf Wiedergewinnung seines Bisthums ihm erweckten. Und in der That wurde ihm dasselbe, wenn auch nach manchen Fährlichkeiten, im Jahre 946 wieder zu Theil. Doch blieb er nicht ganz zwei Jahre in seinem Besitz. Mit seinem Klerus gänzlich zerfallen, liess er sich durch die politischen Gewalten so einschüchtern, dass er von Verona entfloh. Er irrte nun jenseits der Alpen von einem Bischofssitz zum andern und schloss sich endlich dem Feldzug Liudolfs nach Italien, der seinem Vater vorauseilte, im Jahre 951 an, in der Hoffnung, durch ihn in sein Bisthum wieder eingesetzt zu werden. Aber diese 375 Hoffnung scheiterte mit dem Misslingen des Zuges und wurde auch nach den Siegen Otto's, dem sich Rather dann anschloss, und trotz der Eroberung Verona's nicht erfüllt. So kehrte er nach Laubach zurück, folgte aber bald einem Ruf an Otto's Hof (952), um unter den Gelehrten, die dessen Bruder Bruno umgaben, seine Bildung fördernd, eine der ersten Stellen einzunehmen. Ihm verdankte er dann im folgenden Jahre seine Erhebung auf den Bischofsstuhl von Lüttich. Aber Rather wusste in den Unruhen jener Zeit sich nicht auf ihm zu behaupten. Er suchte zunächst eine Zuflucht in Mainz, wo er sich mit literarischen Arbeiten, namentlich der Abfassung seiner Phrenesis beschäftigte, dann zog er sich auf eine Abtei, die man ihm zum Unterhalt gab, zurück. Damals war es, wo er das Werk des Radbert Paschasius über das Abendmahl studirte und durch sein Schreiben an Patrik die Lehre von der Transsubstantiation verfocht und von neuem auf die gelehrte Tagesordnung setzte (958), von der sie nicht wieder verschwinden sollte.

Indessen ruhte der Ehrgeiz des abgesetzten Bischofs nicht, und so schloss er sich dem Römerzuge Otto's im Jahre 961 an, nachdem ihm die Wiedereinsetzung in das Bisthum von Verona zugesichert worden war. Und in der That erhielt er dasselbe zum dritten Male, das er diesmal wenigstens sechs Jahre behauptete. Freilich waren diese Jahre für ihn eine Zeit fortwährenden Kampfes mit der Bevölkerung, dem Klerus überhaupt und den Kanonikern insbesondere, und schliesslich auch mit der weltlichen Macht. Die Ursache waren namentlich seine reformatorischen Bestrebungen, welche vornehmlich die Ehelosigkeit des Klerus und eine gerechtere Vertheilung der Güter seiner Kirche zum Vortheil der niederen Geistlichkeit, dagegen zum Nachtheil der Kanoniker, zum Ziel hatten. Bei der unbesonnenen Leidenschaftlichkeit seiner streitsüchtigen Natur, die sich ebenso gern in heftigen Anklagen andrer als auch seiner selbst gefiel und damit nur zu viele Blössen den Gegnern gab, Gab er doch ein ganzes Sündenbekenntniss heraus. S. weiter unten. konnte er den Sieg nicht davon tragen: wohl aber muss man die Energie des mehr als siebzigjährigen Greises bewundern, der meist allein so vielen Feinden so lange Trotz zu bieten vermochte, indem er seine stets bereite Feder zu Hülfe nahm, aus der in diesen Jahren eine wahre Fülle von 376 Streit- und Flugschriften sich ergoss. 968 verliess Rather wieder Verona und jetzt zum letzten Male. Er begab sich zunächst nach seinem Stammkloster Laubach. Aber auch dort erregte er Unfrieden, verdrängte schliesslich den Abt Folcuin und machte sich selbst zum Herrn des Klosters, doch nicht viel über ein Jahr. Als sein ihn begünstigender Schüler Ebracher starb, nöthigte dessen Nachfolger im Lütticher Bisthum Rather Laubach wieder aufzugeben (972). Er starb zwei Jahre danach in Namur.

Die meisten der Schriften Rathers hatten ein durchaus actuelles Interesse und waren nur zu seinem eignen persönlichen Nutzen und Frommen abgefasst. Sie gehören dem Gebiet der Publicistik an und können hier nur insoweit Berücksichtigung finden, als ihre Anlage, ihr Stil und ihre kulturgeschichtliche Bedeutung durch besondere Eigenthümlichkeit dazu auffordern. Das einzige grössere Werk, welches, obschon auch reich an persönlichen Beziehungen, und zunächst zum eigenen Troste geschrieben, doch eine objective Anlage und auch allgemeine moralische Zielpunkte hat, sind seine Praeloquia , die seine Beschäftigung in der mehr als zweijährigen Einsamkeit des Kerkers von Pavia bildeten, die aber später, ehe er ihre Redaction abschloss, noch mit manchen Zusätzen versehen wurden. Es sollten, wie der genauere Titel schon belehrt, Er lautete: Meditationes cordis in exilio cuiusdam Ratherii Veronensis quidem episcopi, sed Laubiensis monachi, quas in sex digestas libellos volumen censuit appellari Praeloquiorum eo quod eiusdem quoddam praeloquantur opusculum, quod vocatur Agonisticum. diese Herzensbetrachtungen des Gefangenen nur die »Vorreden«, d. h. hier die Einleitungen (Präludien gleichsam) zu einem noch zu schreibenden Werk, Agonisticum betitelt, Auch nennt er es in der Praefatio Medicinalis sc. liber. Sigebert De Scriptor. eccles. c. 127 nennt es Agonisticon. sein, einem Hülfsbuch zur Stärkung und Heilung für den Ringkampf des Christen mit dem Teufel. Das Material ist, wie die Praefatio sagt, den Aussprüchen der Väter, unter welche auch die biblischen Autoren hier gerechnet werden, entlehnt. Doch scheut der Verfasser sich nicht, zuweilen auch heidnische Autoren, wie z. B. Cicero, Seneca, Terenz, zur Bekräftigung seiner Lehren anzuziehen. In der That aber besteht der Stoff keineswegs bloss in dem Lehrgehalt, sondern es finden sich auch manche polemische 377 Partien, die, wie wir sehen werden, zu kulturgeschichtlich interessanten Schilderungen den Anlass geben.

Das Werk zerfällt in sechs Bücher. Die Eintheilung wird im allgemeinen motivirt im Eingang des ersten Buches, indem es der Verfasser mit den Worten anhebt: Obgleich die Vorschriften des Herrn sämmtlich generell auf die ganze Kirche sich beziehen, so gehen gewisse doch Einzelne insbesondere an nach der Verschiedenheit der Zeiten, der Stände, der Verhältnisse, des Alters, der Sitten, der Neigungen, des Geschlechts. So gibt er denn im ersten Buch nach den allgemeinen Pflichten des Christen in besondern Kapiteln Lebensregeln zunächst für den Soldaten, den Künstler, den Arzt. Er erinnert letzteren Er gibt seine Ermahnungen in der Form der Anrede; z. B. Medicus es? Audi etiam iuxta litteram tibi praecipientem Dominum: Medice, cura te ipsum. an das Wort des Lucas: Arzt, heile dich selbst. Während er für die leibliche Gesundheit andrer Sorge trägt, soll er es für die seiner Sittlichkeit thun. Rather verwarnt ihn namentlich vor Beschwörungen und Zauberformeln, die man auf die Wunden legte, Quiddam vero infandum, hic nec commemorandum, in schedula instar coronae conscriptum et vulneri superpositum, licet idem videatur praestare, nullum confert remedium, quia est maleficium, sed animae letale nimium affert periculum. § 7. indem er selbst an der Macht des Teufels keine Zweifel hegt. Er redet dann zu dem Geschäftsmann, Habgier und Wucher verdammend, zu dem Anwalt, dem Richter, welcher Stand ganz allgemein von ihm der Habsucht beschuldigt wird, § 17. Denique considerans vix unquam potui iudicem cernere sine cupiditia. ferner zu dem Beamten, vornehmlich dem Steuererheber. Procurator, exactor, quod gastaldus usitato multis, Franciloquo vero maior dicitur eloquio, sive thaleonarius, vel cuiuslibet alterius publicae functionis minister es? So beginnt dies Kap. § 19. Sie stecken die Diebe ein, während sie selbst nur auf Raub und Betrug denken; sie bestrafen Ehebrecher und Dirnen, während ihr ganzes Leben der Trunkenheit und den übrigen Ausschweifungen ergeben ist. Der Verfasser wendet sich dann zu dem Adligen, dem Patronus, dem Senior: er soll bedenken, dass alle Menschen gleichen Ursprungs sind. Hier erwähnt auch Rather des Lasters der Undankbarkeit, wie er sie selbst von einem Vornehmen erfahren (§ 25). Er geht dann 378 zu dem Untergebenen des Patronus, dem Clienten, Den er auch mercenarius nennt. § 26. zu dem Consiliarius, dann zu dem Dominus und dem Servus über. Interessanter sind die dem Magister und dem Schüler gewidmeten Kapitel § 30 f. Jenem wird die Milde eingeschärft, indem ihm das Verhältniss Christi zu seinen »Schülern«, die er nicht seine Knechte, sondern seine Freunde nannte, zum Vorbild dienen soll. Die Lehrer werden dann auf die Unterschiede der Begabung der Schüler aufmerksam gemacht in einer treffenden Weise. Unter den Magistri aber unterscheidet er zunächst zwei Arten. Die einen wollen nur so oder doctores genannt werden, aber sie verachten das Dociren; die andern scheinen mehr ihre Gelehrsamkeit zu ergiessen, als mitzutheilen. Sunt contra alii qui tantae videntur largitatis ut doctrinam magis videantur fundere, quam erogare. § 32. Diese, welche zu freigebig mit ihrem Wissen sind, theilt er wieder in fünf Klassen. Einige nämlich leitet dabei glühende Liebe zu ihren Schülern, andre Schmeichelei gegen einen Grossen, andre wieder bestimmt die Habsucht, noch andre die Eitelkeit, fünftens endlich ist davon auch die Schwatzhaftigkeit der Grund. Schliesslich handelt er in diesem Buch noch von den Reichen, denen die ihr Auskommen haben, und den Bettlern.

Das zweite Buch, das mit einer Klage über seine Gefangenschaft anhebt, bietet weniger Eigenthümliches. Es behandelt die Pflichten der Männer und der Frauen, der Eheleute und der Unverehelichten, der Eltern und der Kinder, sowie der verschiedenen Altersstufen. Das dritte und vierte Buch, die sich an den König wenden, sind weit interessanter, indem sie Rathers Ansichten über das Verhältniss der königlichen Gewalt zu der Kirche, insbesondere den Bischöfen, darlegen und dabei immer auf die persönliche Lage des Autors dem Könige Hugo gegenüber Rücksicht und Bezug nehmen. Deshalb spricht er denn auch im Eingang des dritten Buchs eine gewisse Besorgniss aus, und erinnert Der Sentenz des Heiden setzt er aber Bibelsprüche entgegen, welche die Wahrheit fordern. an das Wort des Terenz: veritas odium parit . Indem er dem Könige dann die vier Cardinaltugenden empfiehlt, als die, welche gerade seinem Stande insbesondere geziemen, zeigt er, dass erst die gute Absicht sie zu Tugenden macht; so dient man z. B. nicht der 379 Gerechtigkeit, wenn man seinem Zorne genugthut. Die Bischöfe soll der König wie Götter ehren (§ 8). Auch in dem schuldigen Bischof lebt noch der heilige Geist (§ 17); er kann nur von Gott gerichtet werden (§ 18). So vindicirt der Verfasser überall der Kirche gegenüber dem Königthum die höchste und unabhängigste Stellung. Er resumirt dies im Eingang des vierten Buchs, indem er sagt (§ 2): Dixi, episcopos a Deo solo, ut reges, et praestantius multo quam reges, quia et reges ab episcopis instituti, episcopi vero a regibus, etsi eligi vel decerni, non valent tamen ordinari, institutos. Im vierten Buch setzt er diese Meditationen fort und schreitet zuerst zu der Untersuchung, was ein Bischof gegen den König unternehmen oder urtheilen ( sentire) dürfe. Fühlt sich der König beleidigt, so hat er sich an die eigenen Gerichte des Klerus zu wenden. In jedem Falle sei aber ein Geständniss des Bischofs nothwendig. Hier finden sich überall die unmittelbarsten Anspielungen auf des Verfassers eignes Schicksal. Gegen den Schluss des Buchs wird noch ein Verzeichniss von allgemeineren Vorschriften für den König wie auch für die Königin gegeben, der ausser Maria die Mutter Constantins, Radegunde, Chlotilde, Chlodwigs, und Placilla, Theodosius' Gemahlin, zum Muster hingestellt werden.

Das fünfte Buch handelt hauptsächlich von dem Bischof. Hier entwirft der Autor, nachdem er die Pflichten desselben dargelegt, ein sehr lebendiges Bild von dem weltlichen und luxuriös ausschweifenden Leben vieler seiner italienischen Collegen: wie sie den Jagden und den Spielen sich hingeben, die üppigsten Gelage halten, die sie durch Musik und »die Pest der Tänzerinnen« würzen; trunken dann Wagen und Rosse besteigen, die prachtvoll geschirrt sind, und sich selbst, wie Rather im einzelnen ausführt, auf das kostbarste und modischste kleiden. Auch ihres prächtigen Hausrats wird gedacht. In dieser kulturgeschichtlich wichtigen polemischen Episode (§ 6–12) zeigt unser Autor in dem farbigen, mit feinen Pinselstrichen, ausgeführten Gemälde keine geringe Begabung zur Schilderung. Erst gegen den Schluss des Buchs (§ 29 ff.) handelt Rather noch in aller Kürze von den verschiedenen Klassen des Klerus, dann etwas ausführlicher von dem Mönch und dem Abte.

Im sechsten Buche richtet er seine Ermahnungen an den Gerechten und an den Sünder; der eine soll nicht auf das eigne Handeln sich verlassen, der andre nicht an Gottes 380 Barmherzigkeit verzweifeln. Hier kommt denn Rather auch auf die eigene Sündhaftigkeit, wie sie ihn auch in dem Gefängniss nicht verliess, zu reden (§ 9). Interessant ist noch der Schluss des Buchs, in dem er dem Leser über die Motive der Abfassung sowie über die Anlage des ganzen Werks Auskunft gibt, wobei er bemerkt, dass er sich selbst darin fast ganz gemalt habe (§ 26).

Unter Rathers publicistischen Werken ist das bedeutendste seine Phrenesis; S. Genaueres über dieses Werk bei Vogel Bd. I, S. 198 ff. und Bd. II S. 119 ff. es war eine Sammlung von zwanzig Schriftstücken (Aufsätzen und Briefen), theils polemischer, theils apologetischer Natur, in 12 Büchern, von welchen das erste die Einleitung bildet und den Titel des Ganzen insbesondere führt. Ausser dem ersten haben sich aber nur noch ein paar Bücher einzeln erhalten. Das ganze Werk, durch Rathers Entsetzung vom Lütticher Bischofsstuhl veranlasst, bezieht sich theils hierauf, theils auf die Zurückweisung seiner Ansprüche in Betreff des Veroneser Bisthums im Jahre 951. Der Titel ist dem Munde zweier Gegner entnommen, die das Werk, von dem sie hörten, also benannt hatten. Von literarhistorischem Interesse ist das erste Buch, die Phrenesis im engern Sinne, vornehmlich durch die Mittheilungen, die der Autor über sich selbst macht, Wovon wir oben ein Beispiel gaben, s. S. 373. und durch zwei von ihm verfasste Gedichte – das eine in Hexametern, das andre in Distichen; in dem ersteren, sehr unverständlichen, will er den Inhalt der Bücher dieses Werks anzeigen, in dem zweiten betet er für die Seele seines Feindes, des Erzbischofs von Trier, Rodbert. Diese beiden Gedichte haben keinen andern Werth, als zu zeigen, dass auch Rather zu Zeiten den Musen zu huldigen versuchte, und dabei gern des Schmucks der antiken Mythologie sich bediente.

Von den vielen Flugschriften, die er in seinen Kämpfen mit dem Klerus und der Gemeinde von Verona unermüdlich aus seiner Feder fliessen liess, erscheinen nur zwei für die Zwecke meines Werks von solcher Bedeutung, um hier auf sie einzugehen. Die eine liefert einen wichtigen Beitrag für die Erkenntniss des merkwürdigen Charakters unsers Autors und zeichnet sich zugleich durch die witzig ironische Darstellung 381 aus. Diese zu Anfang des Jahres 966 S. Vogel Bd. II, S. 75. verfasste Schrift führt den Titel: Qualitatis coniectura cuiusdam . Der Quidam ist niemand anders als Rather selbst. Die Schrift ist veranlasst durch einen Schritt, den seine Veroneser Feinde, um seine Absetzung zu betreiben, bei dem Kaiser selbst thaten. Ihren Anklagen will er durch diese Schilderung seiner Persönlichkeit begegnen. Er thut dies in der Form, dass er erklärt, er wolle ihnen das ganze Material zu den Klatschereien, womit sie den Kaiser zu behelligen wagten, selbst darbieten und in solcher Fülle, dass einer schwerlich noch etwas schlimmeres vorbringen könne. Die Anklagen werden, als wie im mündlichen Gespräch, in sehr bunter Reihe vorgebracht, auch in dem Tone desselben. So heisst es u. a.: Die Nase hat er immer im Buche, und hört nicht auf, davon zu schwatzen. Alle tadelt er, wie sich selber. Weil seine Zunge gegen alle, ist mit Recht aller Zunge gegen ihn. Sein Leben gleicht gar nicht denen, welchen an Ehre etwas liegt. Er verachtet allen Luxus in Kleidung und Hausrat. Er ist wohl der Sohn eines Zimmermanns; deshalb liebt er auch so, Basiliken zu bauen und zu restauriren. Er lebt wie ein geringer Mann, und verkehrt mit solchen lieber als mit den Vornehmen. Er macht keinen Unterschied zwischen einem Edlen und einem Unedlen, indem er behauptet, dass öfters viele Edle unedles, und viele Unedle edles gethan hätten (§ 3). – – Am meisten ist seine Schwatzhaftigkeit zu bewundern, da er kein Talent der Beredsamkeit, noch Gelehrsamkeit oder sehr grosse Belesenheit hat (§ 4). Er spielt auch nicht und jagt nicht.

In diesem Tone ist die Schrift Eine genaue Analyse gibt Vogel Bd. I, S. 329 ff. gehalten, die allerdings recht zeigt, wie Rather das vollkommene Gegentheil von den italienischen Bischöfen jener Zeit, sowie er sie in den Präloquien schildert, S. oben S. 379. war und wie wenig er sich den Sitten des Landes anbequemte. In der Beziehung ist noch recht bemerkenswerth, dass er als ein Feind der Juden sich erklärt (§ 11), mit denen kein Christ Umgang oder Verkehr haben solle, obgleich er ihnen den Schutz der Fürsten nicht entzogen sehen will. Es lässt sich hier aus der Art seiner Polemik auf eine 382 gewisse Toleranz gegen die Juden in Oberitalien damals schliessen. – Uebrigens verhehlt Rather auch nicht die Anklagen, die er gegen sich selbst zu erheben pflegte, und verweist deshalb hier auch (§ 8) auf sein Liber Confessionis , das er ungefähr ein Jahrzehnt früher verfasst hatte. In diesem hatte er allerdings ein reiches Sündenregister in der Form eines Zwiegesprächs mit dem Beichtvater gegeben. – Zum Schlusse der Schrift spricht Rather sein Wehe über die allgemeine Verderbniss aus, von der er nur einen, den Kaiser, ausnimmt, auf dessen Gerechtigkeit er bauen will.

Die andre Flugschrift, der wir noch gedenken wollen, ist die Invectiva satis in quosdam ac lugubris relatio de Translatione s. cuiusdam Metronis . Der Titel ist in mehrfacher Beziehung sehr bezeichnend. Wie wir aus der Schrift selbst erfahren, waren die Gebeine dieses Heiligen, von deren Wunderkraft das Volk sehr viel hielt, obgleich er sogar für die Gebildeten nur ein quidam war, aus der Kirche des heiligen Vitalis in Verona entwendet worden. Dies war, wie Rather hier selbst zugibt, nicht ohne seine Schuld geschehen, aber nicht minder durch die seiner Vorgänger, indem seit sechzig Jahren keinem Presbyter die Hut des kostbaren Schatzes anvertraut worden war. In Wahrheit aber scheint Rather noch weit mehr als durch diese Vernachlässigung an »dem nach des Volkes Reden«, wie er sagt, Und zwar recht bezeichnend § 3. »lobenswerthen Diebstahl, aber verdammlichen Verluste«, betheiligt gewesen zu sein. – Zu seiner Vertheidigung verfasste er diese Schrift, in welcher er sozusagen sich auf das hohe Pferd setzt und allen Pomp der Rede entfaltend, geschickt statt der Defensive die Offensive ergreift, und die Schuld dem Zeitalter zuschreibt, welches nicht mehr, wie die früheren, das Lob der Heiligen in Versen, ja selbst nicht in Prosa erhebe; insonderheit aber gilt dies hier von Verona selbst, »der grossen, ob ihrer vielen Gelehrten hochgeschätzten Stadt«. Italien überhaupt, das »auf Märtyrern einherwandelt«, achtet seine vielen Heiligen nicht, und gönnt, neidisch und geizig, trotzdem sie einem andern Volke nicht. Um ein Beispiel der Diction zu geben: (Italia) principibus indignissime abuteris apostolorum, super martyres ambulas, confessores gressibus calcas, virginum veneranda pedibus immundissimis teris sepulcra, et canum more fenum aliis prohibentium latratu perinvido quos venerari detractaveras praesentes, maledictia prosequeris abeuntes, imo (quod veracius) te fugientes, alios visitantes. § 3. – Rather erzählt dann die kurze 383 Vita dieses Asketen, wie er sie durch mündliche Ueberlieferung erfahren (§ 5).

Metro hatte sich in der Jugend den weltlichen Lüsten hingegeben, dann aber reuig sich Gott ganz geweiht. Zur Busse liess er an einer Kette vor der Kirchenthüre sich anschliessen, und den Schlüssel in einen Fluss werfen. Nach sieben Jahren findet derselbe sich im Bauche eines Fisches, welchen Fischer dem Bischof darbrachten. Der Bischof erlöst Metro darauf, dieser aber gibt, nachdem er das Abendmahl genossen, alsbald seinen Geist auf, der nun die Krone des Martyriums erlangte. Welchen Schatz hat also Verona verloren! Die Leiden, die der Heilige sich auferlegt hatte, indem er unter freiem Himmel so lange in jener Lage lebte, malt unser Autor im einzelnen so drastisch aus (§ 7), dass man hier wohl erkennt, welcher Beredsamkeit er fähig war. Dann apostrophirt er Metro selbst und ebenso den Teufel, der ihn zu verderben gesucht hatte. Da gedenkt er auch des Traums des Weibes des Pilatus. § 10. Mit der Bitte an den Heiligen, der Stadt ihre Schuld zu verzeihen und auch in der Entfernung seine Fürbitte ihr zu erhalten, schliesst Rather die Schrift, die weit mehr den Charakter einer Rede, als den einer Abhandlung hat. Wie auch die fortwährenden Apostrophirungen zeigen.

Hinter diesem Werk stehen in oratorischer Hinsicht die Predigten Rathers zurück, von denen sich fast auch nur solche erhalten haben, die zu seinen persönlichen Verhältnissen in mehr oder weniger naher Beziehung stehen; sie sind dadurch für seine Lebensgeschichte von Werth. Erwähnt sei, dass in dem Sermo VI De octavis Paschae Rather nicht nur ein paar Fabeln, sondern auch ein Märchen erzählt; s. über dasselbe Haupt in: Zeitschr. f. deutsches Alterth. Bd. 8, S. 21 f. Letzteres gilt auch von seinen Episteln, von einzelnen selbst in hohem Grad. – Allen seinen Schriften aber haftet mehr oder minder der Mangel der Unklarheit des Ausdrucks an, die namentlich durch eine seltsame Willkür in der Satz- und Wortstellung hervorgerufen wird. 384

 


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