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Wir sahen früher, wie unter allen germanischen Völkern die Angelsachsen zuerst eine Rolle in der lateinischen Weltliteratur spielen, ja in der Zeit selbst, wo sie sich an ihr betheiligen, der zweiten Hälfte des siebenten Jahrhunderts, die Führerschaft derselben übernehmen, und im Anfang des folgenden bereits einen der bedeutendsten lateinischen Schriftsteller des früheren Mittelalters aufzuweisen haben. S. Bd. I, S. 582 u. 585 ff. Und doch hatte ihre Bekehrung zum Christenthum erst Ende des sechsten Jahrhunderts begonnen: aber ebenso schnell als dieselbe – in der Hauptsache im Laufe eines halben Jahrhunderts – erfolgte, eigneten sie sich auch die christlich-lateinische gelehrte Bildung an, die, in Kloster- und Episkopalschulen auf das eifrigste und geschickteste gepflegt, auch bei den Laien der höchsten Stände und bei den Frauen sehr bereite Aufnahme fand. Und diese Bildung wurde der nationalen ebenso rasch assimilirt.
Die schnelle Aufnahme, die leichte Aneignung der christlich-lateinischen Kultur, eine Aneignung, die so bald zu einer reichen productiven gelehrten Thätigkeit in lateinischer Sprache überging, war nicht bloss eine Folge der grossen Begabung dieses germanischen Volkes, sondern sie setzt auch einen höheren Grad nationaler Bildung voraus. Diese konnte freilich nicht wissenschaftlicher Natur sein, sondern es war eine Bildung des Charakters, des Herzens, der Phantasie. Die Religion, die 4 Gesellschaft im weiteren Sinne, die mit der Musik noch innig verschwisterte Poesie waren die Träger dieser Bildung. Die altgermanische Religion, welche die Angelsachsen aus der Heimath mitgebracht hatten, hatte schon durch die Uebersiedlung auf einen fremden, durch das Schwert errungenen Boden eine Läuterung erfahren. Sie hatte mehr einen monotheistischen Charakter erhalten. Woden, der oberste der Götter, der Lenker des Kriegs und des Siegs, war von selbst ganz in den Vordergrund getreten: ihn machen später die Stammtafeln der Königsgeschlechter zum Ahnherrn derselben; andererseits war die Vielgötterei durch die Entfernung von der heimischen Erde der Wurzeln ihrer Lebenskraft beraubt worden, denn der Kultus knüpfte sich an durch alte Ueberlieferung geheiligte Oertlichkeiten. Dagegen musste den mit so vielen Gefahren zu Wasser und Lande bedrohten Kriegern das Schicksal ( gesceap), diese dunkle abstracte Macht, die zu versöhnen das Heidenthum keine Mittel bot, um so bedeutender erscheinen. Hier konnte die Lehre von der göttlichen Vorsehung anknüpfen. Dass auch die mannichfache Berührung mit den Christen Britanniens wie des Festlands nicht ohne Einfluss auf eine solche Läuterung der religiösen Anschauung war, lässt sich erwarten. Letztere musste selbstverständlich in den höheren Ständen und in den tieferen Naturen am ehesten sich finden, während das geringe Volk auch neuen Aberglauben sich schuf. Dieses versöhnte mit dem Christenthum die kluge kirchliche Politik Gregors des Grossen, welcher ihm seine alten lieb gewordenen Feste liess und sich darauf beschränkte, denselben einen christlichen Anschein zu geben.
Auch die politischen Verhältnisse der Angelsachsen erfuhren durch die Eroberung und Ansiedlung eine die Bildung wesentlich fördernde Umgestaltung. Erst in England entwickelte sich das Königthum, da die Kriegsmacht der einzelnen Stämme in dem feindlichen Lande einer stetigeren und damit festeren Vereinigung bedurfte, und wurde selbst alsbald ein erbliches, wenigstens innerhalb desselben Geschlechts; Hand in Hand damit gelangte die Gefolgschaft zu einer solchen Blüthe, dass sie der wichtigste Factor im Staatsleben wurde und zugleich in dem königlichen Hofe ein Gesellschaftsleben schuf. Diese Gründung des Königthums, diese Blüthe der Gefolgschaft hatten schon eine sittlich bildende Wirkung. In dem aus dem edelsten 5 Geschlechte von dem Volke gewählten Könige musste das nationale Stammesideal verkörpert erscheinen, seine Verehrung ein der Nationalität selbst dargebrachter Tribut sein: seine angelsächsischen Titel selbst sind von den Worten, die Volk und Geschlecht bezeichnen, gebildet; þeóden von þeód Volk, cyning von cyn Geschlecht, und zwar indem cyning, wie Waitz, Verfassungsgesch. Bd. I, S. 326 richtig bemerkt, den bezeichnet, dessen Stellung und Würde auf dem Geschlecht beruht. so wurde das Nationalgefühl durch das Königthum gehoben und durch tüchtige Träger der Krone ein lebendiges, allen sichtbares Vorbild nationaler Tugenden gegeben. Das Beispiel des Königs wurde also von höchster Bedeutung, wie dies namentlich auch die rasche Einführung des Christenthums zeigt. In der Gefolgschaft aber wurde die Tugend der Treue gepflegt, in der Hingebung und Aufopferung, selbst bis zum Tode, für den »Herrn« ( dryhten), während dieser durch glänzende Freigebigkeit gegen seine »Diener« ( þegen) die Tugend der Dankbarkeit verherrlicht. Die Pflege solcher Tugenden musste die Sittlichkeit erhöhen und damit auch dem Christenthum den Boden bereiten: der Hingebung an den sterblichen Herrn konnte die an den ewigen leichter folgen.
Die Entwickelung der königlichen Gefolgschaft, welche einen Dienstadel begründete, führte aber auch zur allmählichen Ausbildung eines Hofstaats und einer höfischen Gesellschaft. Die höheren Hofbeamten gingen aus den Tisch- und Herdgenossen des Königs ( beódgeneátas, heorđgeneátas), den ihm theuersten seiner Gefolgsmänner, hervor. Solche Hofbeamte waren später der Kämmerer, der Marschall, der Seneschall ( dapifer), der Mundschenk – die beiden letzten schon im achten Jahrhundert durch Urkunden bezeugt. S. Kemble Bd. II, S. 109 u. 111. Auch zum festlichen Gelage versammelte sich das Gefolge um seinen Herrn in der Methhalle. Spiele, Räthselfragen, Geschichten aus der Väter Zeiten und von eigenen Thaten verkürzten beim Becher die Zeit. Aber die beste und edelste Unterhaltung bot des Sängers ( scop) Vortrag eines epischen Gedichtes, das er zur Harfe recitirte; oder es spielte und sang ein Lied auch einer der Helden selbst. Sogar von dem Könige, allerdings der Dänen, sagt dies Beówulf v. 2107 ff. Waren 6 auch sonst nicht Frauen gegenwärtig, so doch des Königs Gemahlin, die »Frau« im vorzüglichen Sinne ( cwên) die Vertreterin des weiblichen Geschlechts in dem Staate, die auch eine politische Rolle zu spielen nicht selten berufen war. Ihre Gegenwart wie des Königs Ansehen musste bei solchen Vereinigungen eine feinere Sitte, gewisse Regeln des Anstands sich entwickeln lassen.
Eine nur mündlich überlieferte, zum Theil selbst bloss improvisirte S. Beówulf v. 870. Volksdichtung, die von Gesang und Musik sich noch nicht gelöst, besassen also die Angelsachsen vor ihrer Berührung mit der christlich-lateinischen Bildung. Diese Volkspoesie war, soweit uns spätere Nachrichten und auch, obschon überarbeitete, Reste lehren, eine episch-lyrische oder epische, eine Dichtung von objectivem Gehalt, wenn auch getränkt von subjectiver Empfindung, denn das reiche und, wie es scheint, bei den Angelsachsen besonders weiche Gemüth der Germanen verleugnete sich darin nicht. In dieser Volkspoesie entwickelte sich der nationale Vers und die poetische Diction gleichzeitig, nicht ohne gegenseitige Wechselwirkung.
Der Vers ist die durch die Alliteration gegliederte altgermanische Langzeile, welche 4 Hebungen hat, von denen drei oder auch nur zwei durch den Stabreim gebunden sind. Im ersteren, dem gewöhnlichen Falle treffen zwei der Reime auf die beiden ersten Hebungen, im andern nur einer. Da die Langzeile, ihrem Wesen entsprechend, in 2 Hemistichen zerfällt, so hat also jedes mindestens einen Reimstab, und so werden beide durch die Alliteration verbunden. Wie die Alliteration ihrer Natur nach ein Anfangsreim ist, da sie auf dem Anlaut beruht, so gehört sie auch vor allem und zunächst der ersten Hebung eines jeden Hemistichs, und diese beiden Stabwörter nehmen auch am natürlichsten und besten die erste Stelle an der Spitze ihres Hemistichs ein. Indem nun ausser der ersten Hebung auch die zweite im ersten Hemistich alliterirt, was die Regel ist, so erhält durch die doppelte Alliteration im ersten im Gegensatz zu der einfachen im zweiten Hemistich die Langzeile eine nachdrucksvollere Scheidung ihrer Halbverse und eine reichere Gliederung, da die Alliteration ja die Hebung verstärkt: in der ungleichen Natur der beiden Glieder ruht aber 7 gerade die Schönheit des Ganzen. Wenn alle 4 Hebungen regelmässig alliterirten – was ausnahmsweise ja vorkommt – so lag die Gefahr nahe, dass die zwei Hemistichen zwei selbständige Verse wurden, Reimpaare. S. Rückert, Einleit. zum Heliand S. XXI. Die stärksten Hebungen sind offenbar die erste und dritte; die zweite, die nicht nothwendig zu alliteriren braucht, hat eine geringere, die letzte, die gar nicht alliterirt, die geringste Stärke. So beschreibt die Versbetonung eine Wellenlinie. Das Schema könnte sein 1 + ¾ : 1 + ½. Die Dimensionen der Langzeile werden durch die erste und die dritte Hebung bestimmt, indem jene sie von dem vorausgehenden Verse trennt, diese die zwei Hemistichen scheidet, vermöge der Verspause die den Hebungen vorausgeht.
Der angelsächsische Vers gewinnt aber eine grosse Mannichfaltigkeit der Bildung durch die Verschiedenheit der Senkungen. Die Zahl der Silben, welche die Senkung bilden, kann eine grössere oder geringere sein, sie kann nur eine Silbe oder ein halbes Dutzend betragen. Ebenso kann auch der ersten und dritten Hebung ein Auftact von verschiedener Silbenzahl vorausgehen. So folgen sich die Hebungen bald näher, bald ferner. Das rechte Mass in den Dimensionen der Senkung und an den rechten Stellen zu beobachten, hing von dem Schönheitsgefühl und der ästhetischen Bildung des Dichters ab. – Ferner wird die Mannichfaltigkeit der Versbildung dadurch vermehrt, dass die Sinnpause sowohl mit der einen als mit der andern Verspause zusammenfallen, sowohl am Schluss des Verses als des ersten Hemistichs eintreten kann. Der dichterischen Individualität war demnach auch in der Versbildung ein reicher Spielraum gewährt.
Man sieht also, dass dieser altgermanische alliterirende Vers von ganz andrer Natur ist, als der quantitative und der rythmische lateinische und der sich letzterem anschliessende Reimvers der neueren Sprachen. Ebenso verschieden ist er aber auch von dem keltischen, der mit dem Reim die Alliteration verbindet. Denn auch dieser ist seinem Wesen nach Reimvers. In dem Reimvers aber ist die rythmische Bewegung eine ansteigende nach dem Ende, in dem germanischen alliterirenden Vers eine absteigende; wie in diesem der Anfangsreim die Zeilen scheidet, so in jenem der Endreim. Es ist eine 8 principielle Verschiedenheit. Diese wird noch dadurch erhöht, dass die Stabwörter nicht bloss den Verston, sondern auch den rhetorischen tragen, während das letztere bei den Reimwörtern nicht der Fall zu sein braucht. Der germanische Stabreim ist also mehr geistig-ideal, der kelto-romanische Reim mehr sinnlich-real. Das tief innerliche Wesen des Germanenthums gibt sich auch in dieser nationalen Versbildung kund.
Wo die Alliteration in der lateinisch-romanischen Poesie sich findet, ist sie nur ein äusserer Zierat. Und dasselbe gilt von der keltischen Dichtung, obgleich sie in ihr ganz gewöhnlich und in reichster Fülle erscheint, aber sie dient dort nicht zur Versbildung, ist nicht zu ihr nöthig, wie sie auch fast nie ohne den Reim vorkommt: sie ist mit einem Worte dort nicht organisirt, so findet sie sich an den verschiedensten Stellen und trägt nichts zur Gliederung des Verses bei.
Die Eigenthümlichkeiten des epischen Stils dieser altgermanischen Alliterationspoesie, wie dieselben Heinzel zuerst gut dargelegt hat, S. die Anmerkung am Schlusse der Einleitung. hängen zum Theil mit der Versbildung unmittelbar zusammen und beweisen damit recht den ursprünglichen nationalen Charakter der letzteren. Die eine Eigenthümlichkeit besteht darin, dass statt des stellvertretenden Pronomen ein Nomen gebraucht wird als Ersatz für ein vorausgehendes Nomen, welches nicht wiederholt werden soll, wie in dem Satze: Das Schiff war auf den Wogen, das Boot unter dem Berge. Statt: es war unter dem Berge. Beówulf v. 210 f.: flota wäs on ŷđum | bât under beorge. Dies erklärt sich durch den Stabreim. Zum Träger desselben wird besser ein Nomen als ein Pronomen genommen, weil das Wort selbst durch ihn hervorgehoben wird; dasselbe Nomen aber ohne weiteren Grund und noch dazu so nachdrucksvoll zu wiederholen, würde nicht bloss rhetorisch verwerflich sein, sondern auch, wenn es in folgender Zeile geschähe, des Verses wegen, da dann auch derselbe Reim sich wiederholen müsste. Was an und für sich nicht zu billigen ist, wenn es auch zuweilen vorkommt. Zugleich aber wird, indem ein Begriff durch zwei verschiedene Nomina ausgedrückt wird, derselbe entschiedener hervorgehoben und meist auch reicher ausgemalt: wie wenn das Meer zuerst einfach durch sœ, dann durch brim, 9 welches das wallende, brandende Meer speciell bezeichnet, ausgedrückt wird. So wird, was formell geboten erscheint, zu einem poetischen Kunstmittel.
Eigenthümlich diesem Stile ist ferner der häufige Gehrauch der Apposition und ihre Trennung von dem Worte, auf das sie sich bezieht, selbst durch ganze Sätze. Wie aber in dieser Apposition häufig blosse Synonyma erscheinen, Z. B. Genesis v. 1857: Sinces brytta | äðelinga helm, hêht Abrahame | duguđum stêpan: des Schatzes Spender, der Edeln Helm (Schutz) – beides Ausdrücke für: Fürst. so wird auch gern derselbe Gedanke in einem unmittelbar folgenden Satze durch blosse Variation des Ausdrucks wiederholt. Z. B. Crist v. 668: Sum mäg fingrum vel | hlûde fore häleđum hearpan stirgan, | gleobeám grêtan: die Harfe rühren, das Lustholz ansprechen. Diese Eigenheiten sind Mittel der Retardirung, welche letztere der epische Stil überhaupt liebt. Hierbei ist nun beachtenswerth, dass auch die volksthümliche Alliteration des Sprichwortes die Verdoppelung des Ausdrucks eines Begriffs oder eines Gedankens liebt. Wie im Deutschen: Lust und Liebe, Kind und Kegel.
Mit den genannten Eigenthümlichkeiten des Stils, welche eine Verdoppelung des Ausdrucks bedingen, steht in nächster Beziehung eine andere, welche das Angelsächsische mit dem Nordischen theilt, der Gebrauch der sogenannten Kenningar (Kennzeichen), wie diese Wörter im Nordischen heissen. Es sind Wörter, die den Begriff malerisch umschreiben, so wenn für »Meer« der Walfischweg oder die Schwanenstrasse – wo der Schwan selbst ein Bild für das Schiff ist – oder das Seehundsbad, für »König« der Schatzgeber, oder für »Harfe« Lustholz gesagt wird. Es sind mit einem Worte zu einfachen Synonymen gewordene Metaphern, bei denen an das Bild nur noch von ferne gedacht wird. Durch sie wird die ohnehin schon so reiche Synonymik des poetischen Stils der Angelsachsen noch vermehrt, die Alliteration erleichtert und ihr eine grössere Mannichfaltigkeit verliehen, was namentlich bei häufig wiederkehrenden Begriffen von Wichtigkeit war. Wie beliebt die Bildersprache bei den Angelsachsen war, zeigt allein schon ihre reich entwickelte Räthselpoesie.
Dass aber jene mit der Alliteration verwebten Eigenthümlichkeiten des poetischen Stils eine gewisse Breite und Weitschweifigkeit der Darstellung leicht zur Folge haben mussten, 10 ist selbstverständlich, und an ihr leidet denn auch in der That diese Dichtung nur zu häufig. Lappenberg, Geschichte von England. Bd. I. Hamburg 1834. – Winkelmann, Geschichte der Angelsachsen bis zum Tode König Aelfreds. Berlin 1883. – Kemble, The Saxons in England, a history of the english commonwealth till the period of the norman conquest. 2 Voll. London 1849. – – Vetter, Zum Muspilli und zur germanischen Alliterationspoesie. Wien 1872. – Rieger, Die alt- und angelsächsische Verskunst (aus der Zeitschr. f. deutsche Philologie, Bd. VII). Halle 1876. – Sievers, Zur Rhythmik des german. Alliterationsverses in: Faul u. Braune's Beiträgen zur Gesch. der deutschen Sprache. Bd. X. – Heinzel, Ueber den Stil der altgermanischen Poesie. Strassburg 1875. 11