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Zwölftes Kapitel.

Angelsächsische Dichtung. Die jüngere Genesis, Christ und Satan.

Dieser Periode gehören wahrscheinlich noch zwei poetische Werke der Angelsachsen In Betreff dieser Zeitbestimmung folge ich dem Vorgange Ten Brinks. an, welche an die sogen. Cädmonschen der älteren Zeit in Stoff und Behandlung, im grossen wenigstens, sich anreihen, so dass man das eine in 251 der überlieferten Handschrift der oben betrachteten Genesis interpolirend einverleibte, das andre in der neueren Zeit als zweiten Theil Cädmons bezeichnet hat. Das erste ist die sogen. jüngere Genesis, auf die wir bei Betrachtung der ältern schon hinwiesen. S. oben S. 15. Die Dichtung ist uns nur unvollständig erhalten. Beste Ausg. von Sievers, Der Heliand und die angelsächsische Genesis. Halle 1875. Sonst in den Ausgg. der ältern Genesis (s. oben S. 15, Anm. 1) als Interpolation V. 235–851, wonach die Verse auch oben citirt sind. – S. über das Gedicht ausser Sievers Hönncher, Ueber die Quellen der angelsächs. Genesis, in: Anglia Bd. VIII, S. 46 ff. und Zur Interpolation der angelsächs. Genesis: Anglia, Bd. VII, S. 469 ff. Das Bruchstück beginnt, sowie es die Interpolation uns bietet, mitten in dem Satze, in welchem Gott das erste Verbot dem ersten Menschenpaar ertheilt (Genes. c. 2, v. 16), und erstreckt sich bis zu der Erzählung, wie dasselbe seine Blösse mit Feigenblättern bedeckte (Genes. c. 3, v. 6). So bildet den Gegenstand nur der Sündenfall. Der Stoff wird aber durch die eigenthümliche apokryphe Motivirung desselben (die auch schon der Dichter der ältern Genesis im Sinne hatte) und durch die ausführliche Schilderung der Reue der Schuldigen so erweitert, dass dies Bruchstück nicht weniger als 616 Langzeilen umfasst. Stofflich wie formell ist das Gedicht von besonderm Interesse. Es zeichnet sich durch eine grosse Freiheit, zum Theil auch durch wahre Originalität der Behandlung des biblischen Textes aus, die auch an einzelnen Stellen eine poetisch bedeutende ist. Zugleich ist es durch seine Beziehungen zu andern Literaturen merkwürdig.

Gehen wir darum auf den Inhalt genauer ein. Nach dem Verbot schildert mit wenigen Versen der Dichter hübsch das sorgenfreie Leben der Erzeltern im Stande der Unschuld: sie kannten nur eine Sorge, wie sie Gottes Willen am längsten erfüllten. Nun aber erhebt sich die Hölle, diese Absicht zu zerstören. Der Dichter erzählt, als ob im Hinblick auf den Eingang der ältern Genesis, wie dort Vgl. oben S. 15 f. die Empörung des Lucifer und seinen Sturz, nur viel ausführlicher. Zehn Engelsgeschlechter hatte der Allwaltende geschaffen; einen der Engel aber hatte er am stärksten und schönsten gemacht, er war der höchste nach ihm selbst im Himmelreiche; er war glänzend gleich den lichten Sternen. Der erhob sich undankbar gegen 252 seinen Herrn: er prahlte mit seiner Schönheit und Stärke, die er mehr als Gott selbst zu haben glaubte. Er will einen eigenen, einen höhern Sitz im West und Nord d. h. also im Nordwesten, während Gottes Sitz unser Gedicht im Osten annimmt, v. 555: diese Angabe beruht auf altgermanischer Anschauung. J. Grimm, Deutsche Mythologie. 2. Ausg. Bd. I, S. 28 und III, S. 22. Die ältere Genesis folgt dagegen jüdisch-christlicher Ueberlieferung, s. oben S. 16, Anm. 1. sich selbst gründen; kraftvolle Genossen, sagt er, haben ihn zum Herrn erkoren: so will er nicht mehr dienen und Gottes Jünger ( geongra) sein. Als der Allwaltende dies hört, entzieht er ihm seine Huld und schleudert ihn – drei Nächte und Tage dauerte der Fall (v. 307) – in die Hölle hinab, wo er mit seinen Genossen zum Teufel ward. Dort erneut sich jeden Abend die Gluth, während mit Tagesanbruch der Ostwind furchtbare Kälte bringt. Der Dichter lässt dann Satan – denn so nannte jetzt Gott den gefallenen Engel – sein Loos in der Mördergrube beklagen in einer langen trotzig kühnen Rede (v. 356–441), die an die Dichtung des Avitus erinnert. De spiritalis historiae gestis lib. II, v. 89 ff. Vgl. oben Bd. I, S. 379. Was ihn am meisten kränkt, ist, dass Gott beschlossen hat, das ihm und seinen Genossen genommene Himmelreich mit dem Menschengeschlecht zu besetzen, dass Adam, der aus Erden gemachte, des Satans einstigen Sitz erhalten solle v. 365 f.:
        þät Adam sceal – þe wæs of eorđan geworht –
        mînne stronglîcan stôl bebealdan;
cf. Avitus l. l. v. 92: pellor et angelico limus succedit honori.
und in Wonne leben, während er selbst die Höllenpein erdulde. Ach, wäre er doch nur eine »Winterstunde« seiner Banden frei und könnte hinausziehen – denn er liegt da in Ketten, die Hände und Füsse gefesselt, den Hals angeschlossen (v. 380 ff.) – er würde seinen Groll, dass Gott ohne seine Schuld ihn des Lichtes beraubte, doch erleichtern können durch Adams Verderben. Denn an Gott selbst sich zu rächen vermag er nicht. Die Lesart der Handschrift ne (v. 393) hat Sievers mit Recht Grein und Dietrich gegenüber restituirt; nu, das diese an die Stelle gesetzt, gibt einen ganz falschen Sinn. Lasst uns, ruft er den Seinigen zu, die Menschen von Gottes Gebot abwenden, dass auch sie, seiner Huld verlustig, die Hölle aufsuchen müssen und unsre Jünger werden. Wer das vermag, dem will er's lohnen in Ewigkeit, er soll neben ihm selbst seinen Sitz haben!

253 Da rüstet sich einer der Feinde Gottes zum Werke, setzt sich den Hehlhelm haeleđhelm v. 444, der unsichtbar macht. Vgl. Grimms Deutsche Mythologie 2. Ausg. S. 383. aufs Haupt und schnallt ihn fest; stürzte sich durch die Höllenthore, das Feuer theilend mit Kraft, und flog in die Lüfte (v. 442 ff.). Er findet die beiden Erzeltern bei den beiden Paradiesesbäumen, des Lebens und des Todes, der eine wonnig, schön und glänzend, der andre schwarz, dunkel und düster: es ist der Baum der Erkenntniss des Guten und des Bösen. Der Teufelsbote wandelte sich nun in einer Schlange Leib und wand sich um den Todesbaum, pflückte von dem Obste und nahte dann Adam. Im Auftrag Gottes, sagt er, sei er zu ihm gekommen, Gott heisse ihn von dem Obste essen, damit er kräftiger, muthiger und schöner werde. Er solle vollbringen, was seine Boten ihm melden, denn der Allwaltende wolle sich selbst nicht mehr bemühen diese Fahrt zu machen. Adam weist den Versucher ab: er weiss was Gott nergend ûser, unser Heiland: sagt hier (v. 536) der Dichter, indem er in Christus den Weltschöpfer sieht; dazu stimmt der Gebrauch von geongra, s. oben S. 252. selbst ihm gebot, als er zuletzt ihn sah, nicht aber was er von seinem Boten halten soll, der Gottes Engeln, die er früher gesehen, nicht gleicht; auch kein Zeichen aufzeigt, wie es ihm der Herr schon sandte. v. 540 f.: ne þû me ôđiewest æ̂nig tâcen | þe hê mê þurh treówe tô onsende – ein eigenthümlicher Zug!

Nun wendet sich zornig der Teufel an Eva (v. 547) – die dem Gespräch mit Adam beigewohnt – um sie durch Drohungen und Versprechungen zu gewinnen: Gott werde ihnen zürnen, allen ihren Nachkommen grösster Schaden erwachsen; isst sie aber von dem Obst, so werden ihre Augen so helle werden, dass sie die ganze Welt überblicken und Gottes Stuhl selbst sehen kann. Dann möge sie Adam bereden, dass er ihr folge, und so werde sie die Huld Gottes ihnen erhalten, denn der Teufel will ihm dann Adams Benehmen verschweigen. So verführt er den schwächeren Sinn des Weibes. Und seine Verheissung erfüllt sich scheinbar durch seinen Betrug. Es deuchte Eva, nachdem sie von dem Obste genossen, Himmel und Erde viel glänzender und schöner, und sie konnte so weit sehen als er sagte, durch des Teufels Täuschung. Jetzt ist sie von der 254 Wahrheit seiner Botschaft überzeugt, und bringt nun Adam den »unseligen Apfel« (v. 637); ihm schildert sie das Gesicht, das sie hat, wie sie Gott selbst sitzen schaut, von dem Reichthum der ganzen Welt umgeben, umwandelt von seinen gefiederten Engeln! Solches Wissen konnte nur von Gott gesandt sein (v. 671 f.) – Trotz alledem musste Eva den ganzen Tag lang unter des Teufels Mitwirkung Adam zureden, ehe dieser zu der Sünde sich entschliesst. Nun lacht der Teufel und triumphirt; Satan wird frohlocken, dass er gerächt ist: er eilt mit dieser Botschaft von hinnen. Die Reue folgt bei den Erzeltern unmittelbar, sie flehen selbst Gott um Strafe an, ihr Unrecht zu büssen (v. 781). Jetzt schon stellen sich die Sorgen des Lebens ein: sie haben keine Kleider, die sie vor Unwetter schützen, Hunger und Durst empfinden sie, und die gierige schwarze Hölle droht in Zukunft: so klagt Adam, der es selbst bereut, Gott um die Gefährtin gebeten zu haben (v. 816 ff.). Er möchte alles thun und ertragen, nur um Gottes Huld wiederzugewinnen. Beide gehen dann in den grünen Wald, wo sie getrennt von einander sitzen, ihr Loos von dem Himmelskönig zu erwarten, und sich mit den Blättern bedecken.

Unsere Analyse zeigt die grosse Freiheit, mit welcher der Dichter den biblischen Stoff behandelte: es scheint ihn dabei die Tendenz geleitet zu haben, die Erzeltern so viel als möglich zu entschuldigen; er lässt sie vom Teufel nicht verführt, sondern betrogen werden, und zwar durch eine Art von Zauberei. Die ganze Auffassung der Erzählung vom Sündenfall ist freilich eine durchaus verkehrte; dies zeigt sich auch recht gegen den Schluss, wo nicht die Schamhaftigkeit als eine Folge der Sünde den Anlass zu der ersten Bekleidung gibt. So verfährt der Verfasser viel kühner als Avitus, dessen Dichtung er an einzelnen Stellen uns zurückruft. Hat also dies angelsächsische Werk eine besondere Beziehung zur lateinischen Weltliteratur, so nicht minder zu der stammverwandten sächsischen, es erinnert an die einzige uns aus jener Zeit überlieferte Dichtung derselben, den Heliand, in manchen dem Angelsächsischen sonst fremden Ausdrücken und Wendungen wie in der grössern Dimension der Langzeile, die in der jüngern Genesis gewöhnlich, sonst in der angelsächsischen Dichtung selten ist. Die Beziehnngen des Gedichts zu dem des Avitus wie zu dem Heliand hat zuerst Sievers a. a. O. aufgewiesen; doch ging er in beiden Richtungen zu weit. Vgl. Hönnchers oben angeführte Arbeiten. Am 255 wahrscheinlichsten dünkt mir die Erklärung, dass ein in England damals eingewanderter Altsachse das Gedicht verfasst hat.

Von viel geringerer Bedeutung als dies ist das andre Werk, das im selben Msc. auf die Cädmonschen Dichtungen, aber von andrer und zwar späterer Hand geschrieben, folgt, von Grein Christ und Satan genannt. Bouterweks Ausg. Cädmons s. oben S. 15, Anm. 1. – *Grein, Bibliothek Bd. I, S. 129 ff. – – Groschopp, Das angelsächs. Gedicht »Christ und Satan«. Halle 1883 (Leipz. Dissert.). – Kühn, Ueber das angelsächs. Gedicht von Christ und Satan. Halle 1883 (Dissert). Es lassen sich in demselben stofflich drei Theile unterscheiden, von welchen der erste (v. 1 bis 365) mit dem zweiten (v. 366–664) in einer so nahen materiellen Beziehung steht, und auch sprachlich und stilistisch so verwandt erscheint, dass man ihn als eine selbständige Einleitung zu diesem betrachten möchte, während der dritte Theil (v. 665 bis 733) als das Fragment einer andern Dichtung anzusehen ist.

Der erste Theil hebt mit einem Hinweis auf die Macht und Stärke des Schöpfers an; er bewährte sie in der Schöpfung, aber auch in dem Sturze der Engel, die sich empörten. Sie erhielten ein neues Heim in der schrecklichen Höhle, wo sie unter Klippen Diese Klippen (näs) rufen die Drachenhöhle Beowulfs ins Gedächtniss, zumal in der Hölle unsers Autors der Drachen, Würmer und Nattern und ihres Giftes sehr häufig gedacht wird. im tiefen Grund von loderndem Feuer umwallt sind. – Nach diesem Eingang werden wir dorthin selbst geführt (v. 34). Der »Alte« – es ist Lucifer gemeint – klagt mit furchtbarer Stimme aus der Hölle hervor über den Verlust der Herrlichkeit des Himmels und das neue düstere Heim: worauf (v. 53) ihn die bösen Geister mit Vorwürfen überhäufen, dass er durch die Lügen Er sagte ihnen u. a., dass sein Sohn des Menschengeschlechts Schöpfer wäre (v. 63 f.). von seiner Macht sie zum Abfall verführt habe. – Fortwährend erneute Klagen Lucifers folgen in langen Monologen, indem die Ewigkeit der Strafe und die Erinnerung an die Herrlichkeit des Himmels den Schmerz über seine Lage noch erhöht: eine gewisse Steigerung im Ausdruck der Verzweiflung ist auch in diesen ermüdenden Variationen derselben Melodie nicht zu verkennen. Namentlich v. 164 ff. Endlich (v. 194) ergreift der Dichter selbst das Wort, um die Strafe des Teufels den 256 Menschen zur Warnung vorzuhalten, Gott nicht zu erzürnen, und so einst des Paradieses theilhaftig zu werden. Doch noch einmal muss die Hölle klagen, indem sich jetzt der Chor der gefallenen Engel vernehmen lässt (v. 230), worauf dann dieselben Ermahnungen des Dichters wieder folgen, der durch Schilderungen der Lieblichkeit des Himmels und der Furchtbarkeit der Hölle sie zu unterstützen versucht.

Der zweite Theil beginnt nach einer Erinnerung an den Fall Lucifers, der jetzt der schwarze Satanas heisst, mit der Erzählung von der Höllenfahrt Christi, welche das Hauptstück dieses Theiles bildet. Sie steht gegen die ältere Behandlung dieses Stoffes in der angelsächsischen Dichtung S. oben S. 69 f. entschieden zurück; doch hat sie ein paar eigenthümliche Züge. So hält hier Eva die Anrede an Christus, um den Sündenfall zu entschuldigen und seine Milde wegen der Maria, ihrer Tochter, die, ein Weib, ihn gebar, zu erbitten. v. 438. bäd meotod miltse þurh Marian hâd: ich glaube, dass das hâd hier am besten wie oben wiederzugeben ist. Dann hat hier nicht der Täufer, wie in dem andern Gedicht, die Ankunft Christi angekündigt, sondern »ein Degen des Heilands«, der vor drei Nächten in der Hölle ankam (v. 426): es ist gewiss der gute Schächer. Nach der Aufnahme der aus der Hölle Befreiten in den Himmel, zeigt Christus in längerer Rede (v. 471 ff.), wie nur sein Tod die gefallene Menschheit erlösen konnte. – An die Höllenfahrt schliesst sich dann noch (v. 517 ff.) ein kurzer Bericht von der Auferstehung, Erscheinung, Himmelfahrt und eine Schilderung der Wiederkunft Christi zum jüngsten Gericht, von einer Ermahnung des Dichters begleitet.

Der kurze dritte Theil, der auch durch eine Lücke im Innern seinen fragmentarischen Charakter bekundet, So wird auch nur zweier Versuchungen gedacht; es fehlt die auf der Zinne des Tempels. hat die Versuchung Christi zum Gegenstand, die hier einen ganz eigenthümlichen Schluss hat. Indem Christus Satan zur Hölle zurückverweist, befiehlt er ihm binnen zwei Stunden zu erkunden, wie weit und breit das Höllengewölbe sei, damit er besser wisse, dass er gegen Gott kämpfte. Satan findet dann, dass es 100 000 Meilen sind von der Hölle Grund bis zu ihren Thoren. Ob die Stelle v. 724 f.: – – swâ hine se mihtiga hêt | þät þurh synne cräft sûsl âmæte, zur Erklärung des Befehls dienen kann? 257

 


 


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