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So verderblich auch die der literarischen Bildung nachtheiligen Einflüsse während der vorigen Periode gewirkt hatten, es hatte sich doch die im Zeitalter Karls des Grossen neu begründete gelehrte Kultur überall in seinem Reiche an einzelnen Stätten allen Stürmen zum Trotz erhalten; theils war sie im verborgenen fortgepflegt, theils hatte sie sogar productiv neue Triebe gezeitigt. Namentlich war dies im deutschen Reiche der Fall gewesen. Dort hatten sich auch die staatlichen Verhältnisse am ehesten gebessert. Heinrich I. hatte dem Königthum wieder Autorität und Macht verliehen, er hatte wie die inneren Feinde, so die auswärtigen besiegt, jene heidnischen, aller Kultur feindlichen Barbaren, er hatte das politische Ansehn Deutschlands über alle andern Völker des Abendlands so erhoben, dass er, ohne zum Kaiser gekrönt zu sein, fast schon die Obergewalt desselben thatsächlich besass und geltend machte. Es war als wenn mit dem neuen deutschen Stamme, der durch ihn an die Spitze der andern kam, dem der Sachsen, welcher in Deutschland am spätesten der christlichen Bildung sich erschlossen hatte, eine neue frische Kraft dem deutschen Genius eingehaucht worden wäre. Das Nationalgefühl war schon in den letzten Zeiten Heinrichs erstarkt und damit das Bewusstsein der Einheit aller deutschen Stämme erwacht. Noch mehr musste dies nun unter seinem Sohne und Nachfolger Otto der Fall sein, der auf dem von seinem Vater gelegten Grunde fortbaute. In ihm wurde die Idee der deutschen Weltherrschaft, der Wiederherstellung des Imperium Karls des Grossen bereits wieder lebendig. Schon als er den deutschen Thron bestieg, gab sich dies zu erkennen und unter dem Beifall der Nation. 260 Im Dome der alten Kaiserstadt Aachen wurde Otto gekrönt, er, der Sachse, trug dabei die fränkische Tunica der Karolinger, die Herzöge bedienten ihn heim Krönungsmahle gleich Hofbeamten.
Otto, eine zum Herrschen wahrhaft berufene Natur, führte das monarchische Princip in Deutschland zum Siege. Er unterwarf ihm die Stammesherzogthümer, freilich nach heftigen gefährlichen Kämpfen; er besiegte die Dänen und Slaven, und breitete die Herrschaft des deutschen Reichs weiter nach Nordosten aus, als sie jemals vorher sich ausgedehnt; er übte einen mächtigen, entscheidenden Einfluss auf Frankreich wie auf Burgund; Gesandtschaften des Chalifen von Spanien wie des Kaisers von Byzanz erschienen an seinem Hofe: so galt er schon für den Herrscher des Abendlands, noch ehe er den Fuss nach Italien gesetzt.
Die Eroberung des langobardischen Reichs, die dann folgte, war auch für ihn, wie für Karl den Grossen, der vorbereitende Schritt zur Erlangung der Kaiserkrone. Und Otto wusste zuerst wieder die Macht, die diese ihm verlieh, auch dem Papstthum gegenüber geltend zu machen. So verdiente er als Herrscher in der That den Beinamen der Grosse, den ihm schon die Zeitgenossen beilegten.
Deutschland war so wieder die herrschende Nation des Abendlands, und das Bewusstsein seiner politischen Bedeutung musste allein schon eine auf den Fortschritt seiner Kultur günstige Wirkung haben. Dazu kam aber die erneute Verbindung mit Italien, das noch immer eine reiche Quelle der Bildung war. Diese Einflüsse mussten sich zunächst vor allem auf den Kaiser selbst und seinen Hof äussern. Hier kam zu ihnen noch eine neue Einwirkung, die von der fein gebildeten, reich begabten zweiten Gemahlin Otto's, Adelheid, der früheren Königin von Italien, einer geborenen burgundischen Prinzessin, ausging.
Aber dieser Hof wie die Familie des Kaisers waren auch schon vor seinem ersten Zug über die Alpen höheren geistigen Interessen keineswegs fremd geblieben. Sie wurden vor allem gepflegt von dem Bruder Otto's, Bruno, der für die geistliche Laufbahn bestimmt, eine vortreffliche Ausbildung erhalten hatte, und schon als ganz junger Mann das Amt des Reichskanzlers am Hofe verwaltete, dann auch an die Spitze der königlichen Kapelle trat. In den Werken der Alten wohl bewandert, deren 261 formale Schönheit er sich anzueignen suchte, Scurrilia et mimica, quae in comoediis et tragoediis a personis variis edita quidam concrepantes risu se infinito concutiunt, ipse semper serio lectitabat: materiam pro minimo, auctoritatem in verborum compositionibus pro maximo reputabat. Ruotgeri Vita Brun. c. 8. Vgl. übrigens weiter unten Kap. 15. der Lectüre eifrig ergeben, fand er auch einen Genuss an wissenschaftlicher Unterhaltung mit andern, wie er gern auch über philosophische Themata disputirte. Ruotger l. l. c. 5 f. Dies speculative Interesse bezeugt auch jene Vision eines Klerikers, in welcher derselbe, nach Thietmar l. II, c. 10, Bruno des eitlen Studiums der Philosophie vor Gott angeklagt sah. Hierzu boten die gelehrten Fremden, die sich aus nah und fern dort einfanden, wie der Ire Israel, der Lothringer Ratherius, der Italiener Liudprand, und gelehrte Griechen, die wie der erstgenannte geradezu als seine Lehrer bezeichnet werden, die erwünschte Gelegenheit. Wie er hier seine Bildung erweiterte, so theilte er selbst auch gern lehrend sein Wissen mit, indem er wohl die jüngeren Mitglieder der Kapelle zu seinen Schülern hatte. Für eine solche unterrichtende Thätigkeit Bruns am Hofe spricht namentlich die folgende Stelle bei Ruotger c. 8: Latialem eloquentiam non in se solum, ubi excelluit, set et in multis aliis politam reddidit et inlustrem. Nullo autem hoc egit supercilio, set cum domestico lepore, tum urbana gravitate. Hiermit ist vielleicht in Bezug zu setzen die Stelle Inde reversi etc. c. 5. Dass Brun als Erzbischof eine bedeutende Lehrthätigkeit entfaltet hat, ist nicht zu bezweifeln. Dies bezeugt schon Ruotger in seiner Praefatio an der Stelle: cum – – in solis eius (sc. Brunonis) discipulis omne studiorum et eloquentiae genus adhuc recenti eius memoria ita per multa terrarum loca floreat etc. Quot quantosque de alumnis tanti viri episcopos, quantos in quacunque ecclesiasticae professionis disciplina probatissimos novimus etc. – So wenig ich also auch an einer Lehrthätigkeit Bruns am Hofe zweifeln möchte, so möchte ich deshalb noch nicht eine Hofschule, wie sie zu Karls des Grossen Zeit blühte, in jener Zeit annehmen. – Auch eine Nichte Otto's, Gerberg, die Aebtissin von Gandersheim, zeichnete sich durch ihre Gelehrsamkeit aus; und von seiner Tochter Mathilde, der späteren Aebtissin von Quedlinburg, lässt sich wissenschaftlicher Sinn schon in jungen Jahren voraussetzen, da Widukind sein Werk ihr damals widmete.
Otto selbst, dem die Schulbildung fehlte, fühlte das Bedürfniss sie zu ersetzen, indem er nach dem Tode seiner ersten Gemahlin noch lateinisch lesen und verstehen zu lernen sich bemühte, wenn er auch dies Ziel nur sehr unvollkommen 262 erreichte. So lässt sich wohl der Widerspruch erklären zwischen den Worten Widukinds l. II, c. 36: litteras in tantum didicit ut pleniter (?) libros legere et intelligere noverit und den Thatsachen, dass er sich sogar lateinisch geschriebene Briefe von Adelheid und Otto II. übersetzen liess. Denn dass in dem Satze Widukinds nur von lateinischen Büchern die Rede sein kann, versteht sich von selbst. Dass er den Werth höherer geistiger Kultur für sein Volk zu schätzen wusste, zeigt wenigstens in späterer Zeit seine Berufung angesehener italienischer Grammatiker, eines Gunzo und Stephan nach Deutschland, nicht minder die Erziehung seines Sohnes zweiter Ehe, des zu seinem Nachfolger bestimmten Otto II., wobei allerdings der Einfluss der Mutter nicht übersehen werden darf. Otto II. erhielt die vortrefflichsten Lehrer in dem St. Galler Mönch Ekkehart II., den ein Ekkehart IV. als den gelehrtesten Mann Deutschlands bezeichnet, und in dem Bischof von Meissen Willigis, der mit seiner wissenschaftlichen Bildung grosse politische Befähigung und lebhaften Sinn für die Kunst, insonderheit die Baukunst, den er auch durch die That bewährte, verband. So wurde Otto II. selbst ein Gelehrter: es war wohl ein Ausdruck der allgemeinen Meinung, wenn Hrotsvith in einer Widmung ihn einen zweiten Salomo nennt. Denn wie er die Wissenschaft liebte und selbst an schwierigen gelehrten Discussionen Interesse nahm, zeigt ja schon die an seinem Hofe in Italien einst gehaltene Disputation Gerberts mit Otrich von Magdeburg, zu welcher der Kaiser alle dortigen Gelehrten eingeladen hatte. Auch die besondere Gunst, die er jenem grössten Meister der Wissenschaft in diesem Jahrhundert schenkte, spricht für die Achtung, die er derselben zollte. Trotz seiner gelehrten Bildung war aber Otto II. ein thatkräftiger Fürst, der den Spuren seines grossen Vaters folgend, die neu gegründete Kaisermacht noch eine Zeit lang auf ihrer Höhe zu erhalten wusste, bis zu der unglücklichen Schlacht in Calabrien (983), die er nur ein halbes Jahr überlebte.
Sehr verschieden waren die Kulturelemente, die an dem Hofe dieses Kaisers vertreten waren, der universalen Stellung des Imperium wohl entsprechend: neben dem deutsch nationalen und dem gelehrt lateinischen hatte auch das italienisch-französische, man könnte mit einem Worte sagen das romanische in der Königin-Mutter und das griechische in der Gemahlin Otto's II., Theophano – beide waren ja bedeutende Frauen – 263 einflussreiche Vertreter. Diese verschiedenen Kulturelemente haben denn auch, obschon nicht immer gleichzeitig, Einfluss auf die Erziehung Otto's III. ausgeübt, der beim Tode des Vaters vierjährig, vom fünften bis zum elften Jahre unter der Leitung seiner Mutter, und von da an unter der seiner Grossmutter aufwuchs. Sein erster Lehrer war ein Calabrese, d. h. also mindestens seiner Bildung nach ein Grieche, ihm folgte später der deutsche Bischof Bernward. Die Bildung des jugendlichen Kaisers, der noch ein Knabe den Thron bestieg, war, wie er selbst in einem Briefe an Gerbert erkennen lässt, eine byzantinisch-römische. Gerbert, den er an seinen Hof berief, sollte ihr die höchste Weihe verleihen. Und er hat auch einen grossen Einfluss auf den jungen Kaiser gehabt, und nicht bloss als Gelehrter, indem an seinen philosophischen Disputationen und mechanischen Experimenten der Kaiser Gefallen fand, dem Gerbert selbst eine philosophische Schrift widmete: nein, sein Einfluss erstreckte sich weiter. Otto III., der seine nationale Abstammung verleugnete, ging ganz in dem Gedanken der vollen Wiederherstellung des antiken römischen Imperium auf, für das ihm aber ein Vorbild das Kaiserthum des mumificirten oströmischen Staatswesens war. Auch Gerbert hat jenen hohen Gedanken in ihm genährt, er hoffte von seinem Zögling eine solche Restauration, doch nicht in diesem byzantinischen Sinne. Die phantastischen Pläne des jugendlichen Kaisers, der Rom wieder zur Hauptstadt der Welt machen wollte, scheiterten aber um so rascher, als ihn der Tod schon im dreiundzwanzigsten Jahre dahinraffte (1002). Einen Einfluss auf die allgemeine Kultur konnten seine Ideen nur desto weniger haben, aber die Gunst, die auch er, wie seine beiden Vorfahren, der Wissenschaft schenkte, musste doch immerhin der Erhöhung und Verbreitung geistiger Bildung förderlich sein.
Die Hauptpflegestätten derselben blieben aber auch in diesem Zeitraum in Deutschland wie in Frankreich einzelne hervorragende Kloster- und Domschulen, indem sich den altberühmten, die sich auf ihrer Höhe behaupteten oder sie wieder erreichten, auch neue von Bedeutung hinzugesellten. So glänzten bei uns noch immer St. Gallen und Reichenau, ihnen reihte sich jetzt für Frauen das Kloster Gandersheim an, in älterer Zeit eine der Residenzen des sächsischen Königshauses, ferner die Domschulen von Köln, wo Bruno viele Geistliche ausbildete, 264 Magdeburg, Würzburg und Speier, in Lothringen die Klosterschulen von Laubach, Gorze und St. Arnolf in Metz; in Frankreich aber erlangten neben Reims, dessen schon lange berühmte Domschule Gerbert zum höchsten Ansehen im ganzen Abendland erhob, die des Klosters Aurillac, von dem er ausgegangen war, sowie die Schule von Fleury verdienten Ruf. In Italien dagegen prävalirten die altüberlieferten Schulen der Grammatiker noch, woneben in dem oberitalienischen Königreich auch eine Art von Hofschule fortbestanden zu haben scheint. Englands, das seine besondere Entwickelung hatte, gedenken wir weiter unten.
Die Klosterreform, die von Odo von Cluny in der vorigen Periode, wie wir sahen, ausging, verbreitete sich jetzt mehr und mehr auch in Deutschland, zunächst vornehmlich in Lothringen, wo sie in Bruno einen mächtigen Begünstiger fand: trotz der strengen religiösen Zucht und Richtung hat sie doch auch auf die Hebung der Schulen günstig gewirkt, wie manche der vorgenannten zeigen, in welchen gerade die Reform am eifrigsten durchgeführt wurde.
Man darf wohl sagen, dass im Zeitalter der Ottonen die gelehrte Bildung allmählich immer mehr einen neuen Aufschwung nahm, es erwachte auch wieder der lange entschlummerte Sinn für Speculation und ein neues Interesse für mathematische Studien: von beidem legt Gerbert das bedeutendste Zeugniss ab; auch die bildenden Künste fanden im Anschluss an die der karolingischen Zeit eine frische Pflege, die doch auch ihre eigenthümlichen Züge zeigt. S. namentlich Springer, Die deutsche Kunst im zehnten Jahrhundert in: Bilder aus der neueren Kunstgeschichte. 2. Aufl. Bd. I. In der lateinischen Literatur, der Dichtung wie der Geschichtschreibung, macht sich der nationale Genius der Hauptländer des einstigen karolingischen Reiches immer lebhafter geltend, zumal in Deutschland, das seiner universalen politischen Stellung entsprechend auch auf diesem Felde den Vorrang behauptet, während dort die Literatur der Volkssprache in dieser Zeit fast verschwindet. In Frankreich dagegen, insbesondere dem Süden, hat diese gegen früher schon bedeutendere Erzeugnisse aufzuweisen. Giesebrecht, Geschichte der deutschen Kaiserzeit Bd. I, S. 241 ff. – Wattenbach, Deutschlands Geschichtsquellen im Mittelalter. Bd. I, S. 294 ff. – Histoire littéraire de la France. Tome VI, pag. 1 ff. 265