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Viel später als in England beginnt in Deutschland eine Literatur in nationaler Sprache sich zu entwickeln. Und doch ging ihr eine alte, vielleicht auch reiche Volkspoesie voraus, die auch bereits einen nicht geringen Grad ästhetischer Reife erlangt hatte, wie uns ein einziges, und nicht einmal vollständig erhaltenes Gedicht, das wohl Ende des achten Jahrhunderts aufgezeichnet wurde, beweist. Es ist die Klaue, aus der wir den Löwen erkennen; um so mehr verdient es eine genauere Betrachtung: ich meine das Hildebrandslied. In: Müllenhoff und Scherer, Denkmäler deutscher Poesie u. Prosa aus dem VIII.–XII. Jahrhundert. 2. Ausg. Berlin 1873, No. II. – Braune, Althochdeutsches Lesebuch. 2. Aufl. Halle 1881. No. XXVIII. – – Lachmann, Ueber das Hildebrandslied. In: Kleinere Schriften. Berlin 1876. S. 407 ff. – Grein, Das Hildebrandslied nach der Handschr. herausgeg. und erläutert. Marburg 1858. Es ist dies ein episches Gedicht, das, so wie es vorliegt, Indem nicht nur der Schluss fehlt, sondern auch im Innern sich Lücken finden. noch nicht 70 Langzeilen zählt, und sich in Stil und Vers unmittelbar an die angelsächsische nationale Epik im allgemeinen anschliesst, denn im einzelnen erscheint der generelle germanische Charakter beider, des Kunststils und des Verses, doch der individuellen Stammesverschiedenheit entsprechend ein wenig anders schattirt.
Den Gegenstand des epischen Liedes bildet eine Episode aus demjenigen Kreise der deutschen Heldensage, dessen Mittelpunkt der Ostgothenkönig Theodorich ist: der Zweikampf Hildebrands mit Hadubrand, des Vaters mit dem Sohn. Der greise Hildebrand, der beste Degen des Theodorich, war einst mit diesem – so seltsam erscheint durch die Sage die Geschichte verkehrt – vor Odoaker zu Attila entflohen, indem er Hadubrand als unerwachsenes Kind mit seinem Weibe zu Hause zurückliess. Nach dreissig Jahren kehrt er in einem Heere – wohl des von Attila unterstützten Theodorich – zurück, um seinem Sohne als Vorkämpfer eines andern, feindlichen Heeres zu begegnen. Und hier beginnt das Gedicht, indem es sogleich 98 in medias res uns einführt: Ich hörte das sagen, dass zum Einzelkampf zwischen zwei Heeren sich Hildebrand und Hadubrand herausforderten. – Nachdem beide sich gerüstet und zum Kampfe hinausgeritten, frägt der ältere den andern nach seines Vaters Namen; und Hadubrand nennt Hildebrand, indem er von ihm berichtet, was wir oben mitgetheilt. Aber Hadubrand glaubt nicht, dass er noch lebe. Hildebrand betheuert dagegen, bei dem grossen Gott im Himmel oben, dass er selbst sein Vater sei; Er sagt dies freilich mit einer Umschreibung: dass du nimmer mit einem so nahe verwandten Manne verhandeltest. und bietet ihm goldene Armringe, ein Geschenk des Hunnenkönigs, mit des Speeres Spitze – so war es die Sitte der Helden – zum Zeugniss seiner Huld dar: Hadubrand aber sieht darin nur die List eines alten schlauen Hunnen, der ihn mit seinen Worten berücken, mit seinem Speere aber werfen will. »Todt ist Hildebrand, Heribrands Sohn:« antwortet er jetzt entschieden; von Seefahrern erfuhr er es. – Was ihn überzeugen sollte, hat ihn gerade in der entgegengesetzten Meinung bestärkt. – Hildebrand lenkt begütigend ein: Hadubrand bedürfe nicht seiner Geschenke: wie seine Rüstung ja zeige, diene er einem guten, freigebigen Herrn. So entschuldigt der Alte die beleidigende Abweisung. Der Junge aber verharrt im trotzigen Unglauben. Jener klagt nun, dass er, verschont in allen Schlachten und Belagerungen, durch sein eignes liebes Kind jetzt fallen solle, oder selbst ihm zum Mörder werden. Leicht könne doch Hadubrand, seine Kampflust zu stillen, einen andern ebenso stolzen Mann als Gegner finden, um dessen Rüstung zu gewinnen.
Nun hat ihm der Junge offenbar Feigheit vorgeworfen, als das letzte Mittel den Helden zum Kampfe zu reizen – die Stelle fehlt, ergibt sich aber aus der Antwort, denn Hildebrand sagt jetzt: der wäre doch der feigste der Ostleute, der den Kampf dir jetzo verweigerte! Nun beginnt derselbe zunächst zu Ross mit dem Speer, dann zu Fuss mit dem Schwert. Die Helden hieben auf einander, dass sie die Schilde zertrümmerten. An dieser Stelle bricht das Gedicht ab. Welchen Ausgang der Zweikampf nahm, bleibt uns verborgen; gewiss war er ein tragischer: der Vater hatte den Sohn, oder der Sohn den Vater zu beweinen. Wahrscheinlicher ist das erste, indem so auch der Ausgang in der persischen wie in der keltischen Behandlung dieses uralten Gegenstands ist. Vergl. Koberstein, Gesch. der deutschen Nationalliteratur. 6. Ausg. Bd. I, S. 49 und Grein a. a. O. S. 39 ff.
99 Das Gedicht ist, wie schon die epische Formel des Eingangs zeigt, kein Bruchstück eines Epos; vielmehr ein einzelnes episches Lied, offenbar aus einem Kreise von andern, uns verlorenen, derselben Heldensage; es hat den Gattungscharakter der spanischen Romanze oder englischen Ballade, in denen auch die epische Darstellung zur dramatischen sich steigert. Dieser einzige Rest der ältesten deutschen epischen Volkspoesie lässt uns doppelt den Verlust auf diesem Felde bedauern. Freilich werden nur wenige epische Lieder einen Gegenstand von so allgemeinem menschlichen Interesse gehabt haben, wie wir denn demselben Vorwurf in den Sagen der verschiedensten Völker des indogermanischen Sprachstammes wiederbegegnen. S. die vorige Anmerk. und vgl. insbesondere Köhlers Anmerkungen zu der Ausg. der Lais der Marie de France von Warnke (Halle 1885) S. XCVI ff., wo die reichhaltigsten Nachweise gegeben sind. Aber die Ausführung des Liedes bekundet sogleich die besondere poetische Begabung unseres Volkes. Es sind die feinen psychologischen Züge, die geschickte Steigerung der Theilnahme, der rasche Fortschritt der Handlung, die uns fesseln. Dazu kommt die Charakterzeichnung in einfachen aber scharfen Linien, der rauhen germanischen Sitteneinfachheit jener Zeit der Völkerwanderung entsprechend, von welcher sie das treuste und lebendigste Bild gibt. Kriegerische Tugend ist die höchste von allen, sie siegt selbst im Conflict mit der väterlichen Liehe.
Vergleichen wir unser Lied mit der angelsächsischen Epik, so zeigt es in formaler Beziehung entschiedene Vorzüge. Jene Tautologie in Folge des Gebrauchs des Nomen an der Stelle des Pronomen, jene Kenningar finden sich hier gar nicht, und die dort so häufig vorkommende Variation des Ausdrucks nur in bescheidenen Grenzen. Das glänzende Kolorit fehlt damit der Darstellung, aber auch die zerstreuende Buntheit: der schlichtere Ausdruck ziemt mehr dem epischen Stile. Zugleich wird die Retardirung ermässigt, der Stil vor ermüdender Weitschweifigkeit bewahrt. Auch der Vers zeigt im ganzen eine grössere Einfachheit der Bildung. 100