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Achtes Kapitel.

Annalistik. Reichs-, Kloster- und Bisthumsgeschichte.

Die Annalistik macht in unsrer Periode keine Fortschritte, vielmehr ist sie im allgemeinen entschieden im Rückgang, ganz in Uebereinstimmung mit den traurigen öffentlichen Verhältnissen; unter diesen musste namentlich die officielle Historiographie der Reichsannalen leiden.

So erhielten die Fulder Jahrbücher S. Bd. II, S. 368 ff. zwar noch zwei Fortsetzungen, Ed. Pertz in: Monum. German. hist, Script. I, p. 395 ff. – Wattenbach, Deutschl. Geschichtsqu. Bd. I, S. 215. aber nur die zweite hat noch einen officiösen Charakter und geht auch bloss bis zum Anfang der Regierung Ludwigs des Kindes (901), ohne etwa von andrer Seite eine weitere Fortführung zu finden. Die erste Fortsetzung erstreckt sich vom Jahre 882 nur bis 887, vom Tode Ludwigs des Jüngeren bis zur Absetzung Karls III. Der Verfasser, offenbar ein Geistlicher, gehörte wenn nicht Fulda, doch gewiss Franken an. Obwohl der Kaiser Karl durchaus in dem Vordergrund seiner Erzählung steht und insoweit auch diese Fortsetzung den Charakter der Reichsannalen bewahrt, so hat sie doch nichts weniger als einen höfischen Charakter. Denn der Verfasser spricht sich gelegentlich So bei dem schmählichen Vertrag, den Karl 882 bei Elsloo mit den Normannen schloss. in hohem Grade erbittert über den schwachen, seiner Vorfahren unwürdigen Kaiser und seine schlechten Rathgeber, namentlich den allmächtigen Liutward aus, während er andrerseits auch für Arnolf keine Sympathie zeigt. S. die Erzählung von der Entsetzung Karls. Man würde die Freiheit seines Urtheils noch höher schätzen, wenn man nicht klerikale Motive seines Zorns vermuthen möchte. So musste die Kirche das Geld beschaffen, das den Normannen in Folge des schmählichen Vertrags gezahlt wurde.

Da zeigt der zweite Fortsetzer, der auch mit dem Jahre 882 beginnt, eine ganz andre Gesinnung. Er schont den Kaiser, dessen Frömmigkeit er hoch erhebt und dessen trauriges Ende er beklagt; ebensowenig aber hat er ein tadelndes Wort für 223 den, der ihn der Krone beraubt: der neue Herrscher, Arnolf wird mit der gleichen schuldigen Rücksicht behandelt. Dieser Verfasser war sicher ein Baier, wie denn auch Mähren, Pannonien und Italien von ihm mehr, Westfrancien sehr wenig berücksichtigt wird. Obgleich sein Ausdruck sehr incorrect ist, will der Annalist doch für einen Gelehrten gelten, indem er seltsamer Weise mitunter Verse, Hexameter oder Distichen, gleichsam als Würze der trockenen Darstellung einmischt; aber er ergeht sich auch an einzelnen Stellen in ausführlichen Schilderungen, wie bei der Schlacht an der Dyle (891) und der Eroberung Bergamo's (894).

 

Auch Frankreich hat ein Annalenwerk aus dieser Periode aufzuweisen, das zwar zunächst für ein Kloster und in einem solchen geschrieben ist, aber durchaus die Absicht zeigt, eine Reichsgeschichte, allerdings zunächst nur von Westfrancien, zu geben. Es sind dies die Jahrbücher von St. Vaast bei Arras, die sich vom Jahre 874 bis 900 erstrecken. Ed. Pertz in: Monum. Germ. hist., Script. I, p. 516 ff. und verbessert II, p. 196 ff. – Wattenbach, a. a. O. Bd. I, S. 279. Sie bilden eine werthvolle Ergänzung der officiösen Bertinianischen Annalen, S. oben Bd. II, S. 365–68. zumal sie frei von den Einflüssen des Hofes geschrieben sind, So wird sogleich der Einfall Karls des Kahlen in Deutschland nach dem Tode seines Bruders Ludwig 876 von dem Autor verurtheilt. und doch ausführliche Nachrichten geben. So wird hier der Sieg Ludwigs III. bei Saucourt 881 über die Normannen, und die Belagerung von Paris durch diese 885–86 genauer berichtet, wie denn überhaupt die Kämpfe mit den Normannen, die damals Westfrancien vor allem so schwer bedrängten, den grössten Theil der Erzählung einnehmen.

 

Einen ganz andern Charakter hat das Geschichtswerk Ratperts von St. Gallen, auf das wir früher schon hinwiesen. S. oben S. 156. Diese im Jahre 884 vollendeten Casus monasterii S. Galli Neu herausgeg. von Meyer von Knonau in: Mittheilungen zur vaterländ. Geschichte, herausgeg. vom histor. Verein in St. Gallen. Neue Folge. Heft 3. St. Gallen 1872. (Einleitung und Excurse). sind eine reine Klosterchronik, welche eben nur die äusseren 224 Schicksale – wie Wattenbach Deutsche Geschichtsquellen Bd. I, S. 253. gut das Casus wiedergibt – des Klosters zum eigentlichen Gegenstand hat; dieselben aber bestehen vorzugsweise in dem über ein Jahrhundert dauernden Streit mit dem Constanzer Bisthum um die Unabhängigkeit von diesem. Die Erzählung dieses Kampfes von der Mitte des achten Jahrhunderts bis zu der des neunten (854) bildet den eigentlichen Kern des Buches c. 6 bis 25, dem eine kurze andeutende Darstellung der Gründung des Klosters vorausgeht, und eine Schilderung seiner Blüthe, nachdem es die volle Immunität und Selbständigkeit erlangt hat, bis zur Abtwahl des Bernhard während der Anwesenheit Karls III., Ende des Jahres 883, in den letzten neun Kapiteln folgt.

Die allgemeine Reichsgeschichte wird nur sehr wenig und bloss insoweit berührt, als sie die Schicksale des Klosters unmittelbar bestimmte. Für die Kulturgeschichte bietet die Chronik weit weniger Ausbeute, als man nach der Bedeutung St. Gallens in dieser Beziehung und nach der Bildung sowie Stellung des Verfassers erwarten sollte. Von dem Schulwesen und der literarischen Thätigkeit berichtet der alte Magister merkwürdiger Weise gar nichts, er gedenkt nur der Vermehrung der Bibliothek durch die Aebte Gozbert und Hartmut (c. 16, 26 und 29), sowie der Bauten und der Verschönerungen solcher, welche die beiden Aebte ausführen liessen.

Die Erzählung gründet sich in den einleitenden Kapiteln auf die Lebensbeschreibungen des heiligen Columban, Gallus und Otmar, dann aber namentlich auf die Klostertradition, bei den späteren Zeiten auf die eigenen Erfahrungen des Autors, der ausserdem auch manche Urkunden des Klosters benutzte. Dass die Darstellung der Streitigkeiten des Klosters mit dem Bisthum zum Theil tendenziös im Interesse des ersteren gefärbt ist, auch manche Widersprüche enthält, lässt sich nicht leugnen; S. darüber Sickel, St. Gallen unter den ersten Karolingern, in: Mittheilungen zur vaterländ. Gesch. Bd. IV, S. 1 ff.; und Meyer von Knonau a. a. O. Einleitung und Anmerkungen. aber sie zeigt meines Erachtens trotzdem doch, dass das Kloster von Anfang an nicht in demselben Abhängigkeitsverhältniss zu dem Bisthum gestanden hat, als zur Zeit des Ausbruchs der Streitigkeiten.

225 Auch formell hat das Werk nicht den Charakter von Annalen. Es ist eine zusammenhängende Erzählung in einem fliessenden einfachen, wenn auch nicht ganz correcten Stile, die erst in der späteren Zeit und nur gelegentlich Jahresangaben nach Christi Geburt enthält.

 

Auch ein paar Bisthumsgeschichten sind aus diesem Zeitraum zu erwähnen: einmal die Gesta episcoporum Neapolitanorum In: Monum. German. hist. Scriptor. langobard. et italic. saec. VI–IX. (Ed. Waitz) pag. 402 ff. und zwar der zweite Theil derselben, welcher den oben erwähnten Diacon der Kirche des h. Januarius, Johannes zum Verfasser hat; S. oben S. 206. er setzte den älteren Theil, welcher bis zum Jahre 762 geht, bis 872 fort. Während nun jener zumeist bloss aus Excerpten aus allgemein bekannten Quellen besteht, und so literarisch ohne alle Bedeutung ist, hat dagegen die Fortsetzung des Johannes einen selbständigen Charakter. Wie in den Gesta pontificum Romanorum, die für alle Werke dieser Art das erste Vorbild gewesen sind, S. oben Bd. II, S. 374 f. finden auch hier die kirchlichen Bauten (wobei auch der Malereien gedacht wird), sowie die angeschafften Kirchenutensilien eine besondere Erwähnung (s. z. B. c. 42), welche kunst- und kulturgeschichtlich von Interesse ist. In letzterer Beziehung sind auch bemerkenswerth die von Johannes (c. 63) verzeichneten Bemühungen des gelehrten Bischofs Athanasius (c. 850–872), die Bildung des Klerus zu heben, durch Lectoren und Cantorenschulen, die er anordnete, wie durch den Unterricht in der Grammatik: diese Bemühungen mögen wohl dem Johannes selbst zu gute gekommen sein. Einzelne Bischöfe werden auch eingehend charakterisirt. Für die Wahrheitsliebe des Autors spricht namentlich c. 46. Beachtenswerth ist die Berücksichtigung der weltlichen Geschichte, namentlich von Byzanz und den langobardischen Fürstenthümern, und sogar wo dieselbe das Episcopat Neapels nicht unmittelbar berührt. Ferner: die Gesta episcoporum Virdunensium , Ed. Waitz in: Monum. German. histor., Scriptor. T. IV, p. 36 ff. (Praef.). welche ein Kanonikus der Kirche von St. Vito in Verdun, Bertarius gegen Ende des zweiten Decenniums des zehnten Jahrhunderts verfasste. Er lebte schon 226 zur Zeit des Bischofs Hatto (846–870), dessen Nachfolger, Berhardus sein Lehrer in weltlicher wie geistlicher Wissenschaft war. Sein Buch hat er dem oben erwähnten S. S. 155. Freunde Salomons III. von Constanz, Dado, welcher dem Berhardus auf dem Bischofsitz von Verdun 880 folgte, gewidmet. Veranlasst wurde es, wie der Verfasser in der Zuschrift erklärt, durch den Brand der Hauptkirche (916–917), welcher einen grossen Theil der Bücher und Denkwürdigkeiten der früheren Bischöfe zerstörte, sodass ihr Gedächtniss der Vergessenheit ganz anheim zu fallen drohte. Freilich vermochte der Autor nach diesem Verlust nur eine kurze Darstellung zu geben auf Grund eines Katalogs der Bischöfe, von Urkunden, die sich erhalten hatten, und einigen Werken, namentlich Heiligenleben. Von gar manchen der Bischöfe wird denn auch nichts weiter als der Name angeführt. Der Verfasser, der mit dem ersten Bischof beginnt, schliesst mit Dado; ihm sind nur noch ein paar Zeilen gewidmet, vielleicht deshalb, weil er selbst eine – uns noch fragmentarisch erhaltene – Aufzeichnung über sein und seiner nächsten Vorgänger Episcopat gemacht hatte, die er 893 begonnen hatte. S. dieselbe in der Ausg. der Gesta l. l. pag. 17. Die Gesta des Bertarius führen vornehmlich die von dem Bisthum erworbenen Güter an, auch gedenken sie der Wunder, die von den Heiligen desselben ausgingen; der kulturgeschichtlich interessanten Notizen sind sehr wenige. So S. 43, Zeile 27: Legi et picta vidi multa miracula, quae vivens in episcopatu egit – – aus welcher Stelle man auf ein mit Illustrationen geschmücktes Manuscript schliessen möchte. – Eine Fortsetzung bis zum Jahre 1047 erhielten diese Gesta von einem unbekannten Mönche von St. Vito.

 


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