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Trotz des Aufblühens der Sequenzen, Tropen und Litaneien stehen doch noch immer im Vordergrund der kirchlichen Lyrik die Hymnen, wie wir ja auch schon manche, von den Poeten der St. Galler Schule verfasste erwähnt haben. Nachdem wir auch in der vorigen Periode nur einzelner Hymnen bekannter Dichter gedacht haben, wollen wir jetzt die Hymnenpoesie der ganzen karolingischen Zeit zusammen betrachten, zumal die meisten dieser Gedichte uns anonym und undatirt überliefert sind, sodass eine genauere Zeitbestimmung unmöglich ist. Wir legen unserer Betrachtung nur solche Gedichte zu Grunde, deren Handschrift aus dem neunten oder zehnten Jahrhundert stammt. Unsere Quellen waren vornehmlich: Morel, Lateinische Hymnen des Mittelalters, grösstentheils aus Handschriften schweizerischer Klöster. Einsiedeln 1868. – Boucherie, Mélanges latins et baslatins in: Revue des langues romanes T. VII, p. 1 ff. – Dümmler, Rhythmorum ecclesiast. aevi carolini Specimen. Berlin 1881. – Foetae latini medii aevi, ed. Dümmler. ( Monum. German. hist.) Tom. II. Berlin 1883.
In Bezug auf den Inhalt ist bemerkenswerth, dass die auf die Heiligen und ihre Feste verfassten vorwiegen, was durchaus nicht Wunder nehmen kann, da für die andern Kirchenfeste schon lange durch überlieferte angesehene Gesänge gesorgt war, die theilweise selbst durch die liturgische Tradition geheiligt waren. Trotzdem wurden aber immer noch neue Hymnen auch auf die Feste Christi: Weihnachten, Ostern, Erscheinung, Himmelfahrt, gedichtet. In Betreff der poetischen Ausführung stehen die Hymnen dieses Zeitalters im allgemeinen gegen die der älteren christlichen Zeit entschieden zurück; eine Ausnahme machen vornehmlich die einzelner auch sonst hervorragender Dichter, wie eines Theodulf, Walahfrid, Florus, die wir auch schon besonders betrachtet haben. S. oben Bd. II, S. 84, 162, 272. Mehr von Interesse sind die Hymnen dieser Zeit für uns von Seiten der Form, bei der Bedeutung, welche dieselbe für die nationale Dichtung gehabt hat. Vor allem ist da zu bemerken wichtig, dass 162 die rythmische Versbildung durchaus zur Herrschaft gelangt ist, So dass die im folgenden angegebenen Versmasse immer rythmisch zu verstehen sind, wenn nicht ausdrücklich das Gegentheil bemerkt ist. Auch sind trochäische Tetrameter ohne weitern Zusatz als catalectische, iamb. Trimeter aber als acatalectische anzusehen. die quantitative nur noch ausnahmsweise sich findet; ferner dass auch in dieser Zeit das älteste Hymnenversmass, das Ambrosianische, unter allen am meisten angewandt erscheint; danach der trochäische Tetrameter catal. und der iambische Trimeter acat., welche beide auch unter den profanen Rythmen, wie wir sahen, die beliebtesten waren. S. oben Bd. II, S. 322 und 326. Von den zusammengesetzten Versmassen und ihren Systemen erscheint die sapphische Strophe besonders häufig, in deren Langzeilen aber der Dactylus gewöhnlich statt an dritter an erster Stelle sich findet. Doch sind auch die kleineren asklepiadeischen Verse nicht selten, namentlich ist die zweite und dritte asklepiadeische Strophe beliebt. Ferner begegnen wir auch mehrmals phaläcischen Versen, sowie auch adonischen, die auch allein zu sechszeiligen Strophen verbunden erscheinen. S. Dümmler Poet. lat. II, p. 257. Auch Distichen fehlen nicht. – Alphabetische Gedichte sind unter den Hymnen nicht selten. Namentlich in Dümmlers Rhythm. eccles. Wichtiger ist, dass der Reim in den Hymnen auch jetzt noch in der Regel nur sporadisch erscheint; nur einzelne wenige zeigen ihn vollständig durchgeführt. So in Dümmlers Rhythm. eccles. VII (p. 12), X und XI (p. 15 ff.), sämmtlich in iamb. Trimetern, die Strophe von zwei Reimpaaren, von welchen das zweite ein Refrain ist. Beachtenswerth ist noch, dass in manchen Hymnen die Strophen mit einem Refrain schliessen, der aus einem oder zwei Versen, desselben oder auch eines andern, kürzeren Rythmus besteht. So folgt bei Dümmler Rhythm. eccles. I auf zwei troch. Tetrameter der Refrain mirabilia fecit deus , so ebenda XVII auf zwei iamb. Trimeter: succurre nos, Christe .
An die rein liturgischen Hymnen schliessen sich auch andre geistliche Gedichte in gleichen Versmassen an, die origineller und auch in der Ausführung zum Theil bedeutender sind, so Busslieder,
Wie bei Dümmler
Poet. lat. II, p. 253 (No. XIV) in troch. Tetrametern und
Rhythm. eccles. IV in iamb. Trimetern. so ein alphabetisches Gedicht im Ambrosianischen
163 Metrum, das Lebensregeln für die Mönche enthält, ein ebensolches in trochäischen Tetrametern (zweizeiligen Strophen) auf das himmlische Jerusalem, ein andres im selben Versmass
De Enoch et Elia
betitelt.
Diese drei Gedichte bei Dümmler
Rhythm. eccles. pag. 5, 14 und 9. Dies, ein längeres Gedicht von 35 Strophen, bietet ein besonderes Interesse dar, indem es nämlich, nur ausgehend von der Wiederkunft der beiden Propheten, vielmehr eine Schilderung der letzten Dinge enthält: wie der Antichrist die beiden Propheten und das Christenvolk mit dem Schwerte niederstreckt, aber selbst nach 3½ Jahren vom Engel Michael getödtet wird; wie Christus dann als Richter wiederkehrt
Hierbei glänzt das Kreuz als Trophäe am Himmel str. 21:
In caelo summi tropheum tunc fulgebit iudicis,
In quo iudicatus ipse regnum leti straverat,
In pavendo.
Auch in dem oben zweitfolgenden Gedicht über das jüngste Gericht glänzt das Kreuz als
vexillum vor Christus. A. a. O. V. 123. und die Welt in Flammen untergeht, worauf der Schöpfer eine neue hervorruft, »in welcher die Unsterblichkeit glücklich für immer herrscht.« In ihr wird der Mond wie die Scheibe der Sommersonne, die Sonne aber mit siebenfachem Lichte leuchten. Dort werden die Gerechten, den herrlichen Scharen der Engel vereint, in Ewigkeit leben. Bemerkenswerth ist, dass alle Strophen mit einem Refrain schliessen, der, dem allgemeinen Inhalt der betreffenden Partie entsprechend, bei den ersten siebzehn:
imminenter
, bei den dann folgenden vierzehn:
in pavendo
und bei den letzten vier:
in perennis
lautet.
Das
jüngste Gericht findet sich noch in ein paar andern Gedichten behandelt. Das eine ist ihm allein gewidmet.
S. Boucherie a. a. O. S. 28 ff. Es ist in rythmischen acatal. trochäischen Tetrametern, von denen drei zu einer Strophe allemal verbunden sind, verfasst und zählt 13 Strophen. Es hat mehr den Charakter der liturgischen Hymnen, und ergeht sich weniger in Schilderungen, als dass es moralisirend warnt vor dem Tage der Finsterniss, der Posaunen und des Zitterns, wenn der König erzürnt ankommt und die Hölle die Gottlosen verschlingen wird. Das andre Gedicht ist eigenthümlicher, es hat auch ein weiteres Thema. Es ist ein Abecedarius, in iambischen Dimetern verfasst, die, zu Reimpaaren verbunden, 23 zwölfzeilige Strophen
164 bilden. Wie in der Form, so erinnert es auch in der allgemeinen Natur des Inhalts etwas an das Bd. II, S. 145 besprochene Gedicht des Raban. Es hebt mit der Dreieinigkeit an, die von Anfang war, geht dann zu der Schöpfung der Engel und dem Falle des Lucifer über; es folgt die Schöpfung der Welt, die Verführung der Erzeltern durch den Teufel, der mit seinen Satelliten jetzt gefesselt und in der Hölle eingeschlossen wird, von der der Dichter ein furchtbares Bild entwirft.
Nulli videtur dubium
In imis esse Infernum,
Ubi habentur tenebrae,
Vermes et dirae bestiae,
Ubi ignis sulphureus
Ardens flammis edacibus,
Ubi rugitus hominum,
Fletus et stridor dentium,
Ubi gehennae gemitus
Terribilis et antiquus,
Ubi ardor flammaticus,
Sitis famisque horridus.
Er gedenkt dann in wenig verständlichem Zusammenhang noch des Paradieses, des Berges Sinai und seines Propheten, um dann erst zum jüngsten Tage überzugehen, welcher Tag des Zorns und der Rache nahe sei. Er schildert, wie auf den Tubaklang des ersten Erzengels die Todten auferstehen, die Sterne auf die Erde fallen wie die Früchte vom Feigenbaum, und wie das Feuer die Welt verzehrt und die Feinde Christi, die nicht glauben wollen, dass er vom Vater gekommen sei. Das Gedicht, in dem sich manche antike Reminiscenzen finden,
So wird der Giganten gedacht, Thetis für Meer gebraucht. scheint im Süden, wohl in Italien oder im südlichen Frankreich, entstanden, und gegen die Häresie des Adoptianismus gerichtet zu sein, welche seit dem Ende des achten Jahrhunderts die Kirche längere Zeit bewegte.
Es hat sich dies Gedicht in Verbindung mit der dem heiligen Prosper beigelegten
Vita contemplativa in einem Msc. des neunten Jahrhunderts in Montpellier und in einem des zehnten in Mailand gefunden. An eine frühere Abfassung, wie z. B. zur Zeit Prospers, ist schon des durchgeführten Reimes wegen nicht zu denken, das Gedicht ist frühestens in den Anfang der karolingischen Zeit zu setzen. Nach der ersten Handschrift ist es herausgegeben von Boucherie a. a. O. p. 12 ff. Uebrigens zeichnet sich dies Gedicht, trotz mancher harten und unklaren Ausdrucksweise,
165 durch eine eigenthümliche und nicht unpoetische Energie der Sprache aus, sodass es sowohl in der Form wie im Inhalt recht originell erscheint.
Besondere Erwähnung verdient noch aus Dümmlers Rythmensammlung
Dümmler l. l. No. XV, p. 21. ein gegen die
Avaritia
gerichtetes Gedicht, das in trochäischen Tetrametern, aber dreizeiligen Strophen, ohne Refrain, verfasst ist; es ist ein alphabetisches Gedicht, das aber nur bis L geht. Es gibt ein treffliches lebensvolles Charakterbild des Geizigen, und es scheint fast aus einer bestimmten Veranlassung entsprungen: als wäre es von einem Magister, dem von einem hohen Herrn sein Lohn vorenthalten wurde, abgefasst.
Darauf scheint mir namentlich Str. 9 zu deuten:
Iustitiam non dat magistris et mercedem subtrahit,
Expleto opere non grates refert sed iniurias,
Ut illi dicant: nil quaero nisi tuam gratiam.
S. auch den Schluss:
Lugent omnes contristati qui avaro serviunt etc. Ein Seitenstück zu diesem Gedicht der moralischen Tendenz nach, wenn auch von ganz andrer Ausführung, bildet
De Caritate et Avaritia
in der Sammlung der
Poetae lat.
T. II, p. 255. Dies Gedicht ist in ganz demselben Versmass, auch alphabetisch, verfasst, und zählt 23 Strophen. Hier wird zuerst Strophe um Strophe die Caritas und die Avaritia geschildert
Das Gedicht beginnt:
Alma, vera ac praeclara, indivisa Caritas,
Quam qui habet, deum amat diligitque proximum,
Qui non habet, nullum auget incrementum veniae.
Belua saeva, truculenta, nempe Avaritia,
Quae in aevum secum trahit sibi consectaneos
Ad inferna tenebrosa, ubi poenam sentiunt. in einer kräftigen, oft wahrhaft poetischen Sprache, dann an die Erzählung von der Parabel des Lazarus Ermahnung und Gebet geknüpft.
Die Production der kirchlichen Lyrik musste aber ganz wesentlich gefördert werden durch das erhöhte Interesse und Verständniss für Musik, namentlich die Gesangskunst, welches sich an den Hauptstätten, wo kirchliches Leben und die Wissenschaft zugleich damals gepflegt wurde, kundgibt, ja dies Interesse hatte schon, wie wir sahen, selbst die 166 Sequenzendichtung in St. Gallen erst wahrhaft ins Leben gerufen. Notker zeigte ja ebensowohl Sinn und Befähigung für die musikalische Theorie als Praxis. Die Musik nahm jetzt unter den sieben freien Künsten einen der ersten Plätze ein. Dies bekunden denn auch die musiktheoretischen Werke, die von jenen Hauptsitzen der Kultur damals ausgehen. Unter den letzteren hat in Bezug auf die allgemeine Literatur die grösste Bedeutung das Kloster von St. Amand, dem auch der berühmteste Musikschriftsteller und Lehrer des früheren Mittelalters, Hucbald angehörte und dem vor allem auch seine Wirksamkeit zu gute kam.
Hucbald Hucbaldi Opera in Migne's Patrologia latina. Tom. 132, pag. 826 ff. – Gerbert, Scriptores eccl. de musica Tom. I. St. Blasien 1784. – Coussemaker, Mémoire sur Hucbald et sur ses traités de musique, suivi de recherches sur la notation etc. Paris 1841. – Dümmler N. A. S. 560 ff. war 840 geboren, ein Neffe Milo's, des hochgebildeten Mönchs und Magisters von St. Amand, der auch sein erster Lehrer war, S. oben Bd. II, S. 277. Hucbald nennt selbst ihn seinen didascalus in der von ihm an Karl den Kahlen gerichteten Widmung von Milo's Dichtung De sobrietate, v. 27. dessen Eifersucht er sogar durch die Composition eines liturgischen Gesangs erweckt haben soll. Seine Studien vollendete er zu St. Germain d'Auxerre unter der Leitung des berühmten Gelehrten Heiric, wo sein Mitschüler Remigius war. S. Bd. II, S. 287. Er wurde dann seines Oheims, der im Jahre 872 starb, Nachfolger an der Schule von St. Amand. Aber seine erfolgreiche Lehrthätigkeit beschränkte sich nicht auf diese. Gegen das Jahr 883 erhielt er einen Ruf nach St. Omer, um den im Jahre zuvor Abt dieses Klosters gewordenen Grafen Rudolf zu unterrichten; später wurde er von dem Erzbischof von Reims (882–900), Fulco an die dortige Kathedralschule berufen, die er zugleich mit Remigius wiederherstellte. Sein Ansehen war schon damals ein so bedeutendes, dass durch seine Vermittlung der Erzbischof 899 ein Diplom von Karl dem Einfältigen erhielt. Wohl erst nach Fulco's Tod kehrte Hucbald nach St. Amand zurück, um dort den Rest seines langen Lebens hindurch zu wirken. Er starb erst im Jahre 930.
Hucbald hat sich nicht auf seine bedeutende Lehrthätigkeit beschränkt, er vermehrte auch die Bibliothek seines Klosters, selbst durch eigene Abschriften, von denen nicht weniger als
167 achtzehn uns überliefert sind.
S. Delisle,
Le cabinet des manuscrits Tom. I, p. 312 f. Er pflegte Musik und Dichtkunst. Von seinen Gedichten haben sich aber nur wenige unter seinem Namen erhalten. Am bekanntesten ist die Karl dem Kahlen als Kaiser, also 876–877, gewidmete »
Ecloga
«
Wahrscheinlich so wegen der strophischen Gliederung genannt. über die Kahlköpfe, welche deren Lob in 136 Hexametern besingt, die, abgesehen vom Eingang und Schluss, allemal zu zehnzeiligen Abschnitten verbunden sind. Nicht bloss durch das wunderliche Thema, sondern auch durch eine besondere Künstlichkeit der Ausführung wurde dies Gedicht berühmt; dasselbe ist nämlich allein aus Worten, die mit C beginnen, gebildet. Bei dem Mangel an eigentlichen Wörterbüchern in jener Zeit in der That kein kleines Stück Arbeit, dessen Ueberwindung für die Belesenheit des Autors und auch seine metrische Kenntniss und Gewandtheit spricht. So wenig hiernach auch selbstverständlich das Gedicht sonst, namentlich bei seiner Ausdehnung, zu rühmen ist, so finden sich doch einige erheiternde Stellen, die mindestens zeigen, dass auch der Dichter das Ganze als einen Scherz angesehen wissen wollte,
Schon der Anfang des Prooemium zeigt dies:
Carmina clarisonae calvis cantate Camoenae.
Comere condigno conabor carmine calvos,
Contra cirrosi crines confundere colli.
Cantica concelebrent callentes clara Camoenae:
Collaudent calvos, callatrent crimine claros
Carpere conantes calvos, crispante cachinno. was die spätere Kritik gewöhnlich verkannt hat.
Von seinen Kirchengesängen, deren er gewiss gar manche gedichtet und componirt hat, Dafür spricht auch Sigeberts von Gembl. ( De script. eccles. c. 107) Bemerkung: quia in arte musica praepollebat, cantus multorum sanctorum dulci et regulari melodia composuit. Zu Sigeberts Zeit mag man diese Gesänge noch gekannt haben. sind uns nur zwei Hymnen unter seinem Namen überliefert, Theile eines nächtlichen Officium, das er für die Mönche von St. Thierri auf deren Bitte, wie uns eine Zuschrift von ihm zeigt, abgefasst hatte; die Noten haben sich aber nicht erhalten. Die eine der Hymnen ist im Ambrosianischen Versmass, die andre in Strophen von vier kleineren catal. Asklepiadeen. Das Versmass ist: – – – ᴗ ᴗ – | – ᴗ ᴗ – ᴗ Beide feiern jenen Heiligen 168 in derselben und sehr dürftigen Weise, da von seinen Thaten und Wundern offenbar wenig zu berichten war.
Die bedeutendste Thätigkeit aber entfaltete Hucbald als Musikschriftsteller, eine Thätigkeit, die im Dienste seines Unterrichts stand, und die auch zum Theil der Praxis unmittelbar zu gute kommen sollte. Wir haben nicht weniger als vier Schriften von ihm. Da sie in den Kreis unserer Darstellung nur insoweit gehören, als die Musik damals für die allgemeine Kultur und für die Entwicklung der Lyrik eine besondere Bedeutung hat, so haben wir hier sie nur in der Beziehung kurz zu charakterisiren, wobei ich vornehmlich Coussemaker folge. Als die älteste dieser Schriften erscheint das Buch De harmonica institutione , in welchem aber von der Harmonie selbst keineswegs gehandelt wird, vielmehr nur von den Tönen, Intervallen, Consonanzen, Tetrachorden und der Notation. Die Darstellung ruht im allgemeinen selbstverständlich auf dem griechischen musikalischen System, wie es namentlich durch Marcianus Capella und Boëtius überliefert worden war, doch ist die praktische Erläuterung durch fortlaufende Hinweisung auf bekannte Antiphonen bemerkenswerth. Die Selbständigkeit seines Nachdenkens gibt aber der Autor hier schon durch einzelne Züge kund: so zeigt er bereits richtigere Ideen über die Octave, Migne l. l. p. 914. obgleich er noch dem griechischen System der Tetrachorden folgt, und übt schon eine Kritik an der damaligen Notation durch die Neumen, indem er Vorschläge zu ihrer Verbesserung macht. Quod his notis, quas nunc usus tradidit, quaeque pro locorum varietate diversis nihilominus deformantur figuris, quamvis ad aliquid prosint, remunerationis subsidium minime potest contingere; incerto enim semper videntem ducunt vestigio l. l. p. 921.
Viel wichtiger als diese Schrift, ja sein Hauptwerk ist die Musica Enchiriadis , In einer Pariser Handschrift Enchiriadion musicae genannt. welche die weiteste Verbreitung durch Frankreich, Deutschland und Italien fand, wie die grosse Zahl der erhaltenen Handschriften dieser Länder beweist. Hier gibt nun Hucbald ein Handbuch der musikalischen Wissenschaft in neunzehn Kapiteln. Natürlich gründet sich auch hier seine Darstellung noch auf die griechische Musiktheorie, aber die Ausführung zeigt doch eigenthümliches von Bedeutung, so gibt 169 er eine neue Notation, eine Buchstabentonschrift, die gegen die bis jetzt angewandten Neumen ein wesentlicher Fortschritt war, dabei in ihrer Einfachheit leicht verständlich und für die damalige chorale Gesangsweise ausreichend. Trotzdem scheint sie die alten Neumen allgemein keineswegs verdrängt zu haben. Der praktische Sinn Hucbalds, der sich auch in dieser Erfindung kundgibt, so manches man auch an ihr tadeln mag, zeigt sich aber in dem Buche noch bedeutender durch die erste Anwendung von Linien und Schlüsseln (wovon sich die Anfänge bereits in der ersten Schrift zeigen); Vgl. Riemann, Studien zur Geschichte der Notenschrift. Leipzig 1878. S. 151 ff. wie er denn überhaupt durch graphische Darstellungen das Verhältniss der Töne zu veranschaulichen sucht. Nach Coussemaker A. a. O. S. 124. hat er aber auch hier zuerst die Regeln der Harmonie (des »Organum« oder der »Diaphonie« oder »Symphonie«) formulirt und durch Beispiele erläutert.
An dieses Werk schliesst sich ein andres, umfänglicheres Hucbalds, welches Scholia Enchiriadis de arte musica überschrieben ist, unmittelbar an; die Abfassung desselben, wenigstens seines dritten Theils, kündigt der Schluss des Handbuchs schon an. Diese Scholia sind nun direct für die Schule bestimmt, indem sie wie die Lehrbücher des Alcuin S. oben Bd. II, S. 16 ff. in Dialogform geschrieben sind, und zwar eben wie dort dergestalt, dass der Schüler frägt und der Magister antwortet. Das Werk zerfällt in drei Theile, von welchen der erste die Elemente der Musik, der zweite die Diaphonie, der dritte das mathematische Verhältniss der Töne behandelt. Dieser letzte Theil, der nur Auszüge aus dem Werk des Boëtius De musica enthält, dient zugleich zur Ergänzung der Musica Enchiriadis selbst, in welcher dieses Thema nicht behandelt worden ist. Der erste Theil dagegen ist materiell zum grossen Theil nur eine Wiederholung des in der Musica Enchiriadis Gegebenen, während dies vom zweiten nur mit grösserer Einschränkung gilt, indem hier manches neue hinzugefügt ist. Vgl. Coussemaker a. a. O. S. 79 und s. dort S. 82 ff.
Noch eine, wenn auch kurze, doch wichtige Musikschrift 170 Hucbalds ist zu erwähnen: seine Commemoratio Es scheint mir nicht nothwendig dies Wort als einen Schreibfehler für Commentatio anzunehmen; es kann wohl im Sinne des französischen Mémoire (masc.) gebraucht worden sein. brevis de tonis el psalmis modulandis . In dieser durch die Praxis veranlassten und für dieselbe bestimmten Schrift werden für jene Zeit bedeutende Regeln für die Ausführung des Kirchengesangs gegeben. Der Verfasser motivirt sein Unternehmen im Eingang durch die Bemerkung, dass ein schöner Kirchengesang Gott doppelt wohlgefällig sei. Wenn schon die weltlichen Musiker, die Citharöden und Flötenspieler ( tibicines), Sänger und Sängerinnen alle Kunst aufbieten, um die Zuhörer zu ergötzen, sollen wir da die heiligen Gesänge ohne Kunst und nachlässig vortragen? Als seine Hauptaufgabe bezeichnet Hucbald selbst im Anfang: Porro illos modos, per quos psalmi ad antiphonas modulantur, in hoc opusculo habeo utcunque edicere. – (Motivirt doch Hucbald im Geiste seiner Zeit, überhaupt das Studium der Musik im Eingang der Scholien damit, dass es, wie dort der Magister sagt, für den Kirchengesang nothwendig sei.) Für uns hat dies Werkchen noch die besondere Bedeutung, dass es Fragmente von vielen Psalmen und Antiphonen sammt ihrer Composition enthält. Das Werkchen findet sich ins französische übersetzt und die Noten Hucbalds in das moderne System übertragen bei Coussemaker a. a. O. S. 89 ff.
Hucbald war auch ein sehr fruchtbarer hagiographischer Schriftsteller: seine Heiligenleben werden wir aber erst weiter unten betrachten, wo wir diese Gattung der Historiographie im Zusammenhang darstellen.
Die Bedeutung, welche das Kloster St. Amand in der ersten Hälfte unsrer Periode hat, hat in Frankreich in gewissem, wenn auch eingeschränktem Sinne in der zweiten Hälfte das Kloster Cluny, durch seinen zweiten und berühmtesten Abt, Odo; wenn auch die klassischen Studien dort, wie es scheint, ganz zurücktraten, so wurden doch die musikalischen und theologischen gepflegt, zu welchen er durch eigene schriftstellerische Thätigkeit und die Reform der Klosterzucht, die eine ernstere Richtung des Geistes begünstigte, die Anregung gab.
Odo S. Odonis abbatis Cluniac. secundi opera omnia in Migne's Patrol. latina Tom. 133. – Marrier, Bibliotheca Cluniacensis. Paris 1614. pag. 66 ff. – – Mabillon, S. Odonis elogium historicum in: Acta S. S. ord. S. Bened. saec. V, pag. 124 ff. – Histoire littér. de la France, Tome VI, p. 229 ff. war nicht weit von Tours im Jahre 879 geboren; 171 von edler Herkunft, sollte er sich dem Hof- und Kriegsdienst widmen und wurde deshalb, nachdem er von einem Presbyter den ersten Unterricht empfangen, in dem Hause des Grafen Fulco von Anjou und in dem des frommen Herzogs von Aquitanien Wilhelm erzogen, bei welchem sein Vater in grosser Gunst stand. Der letztere war ein Mann von einer höheren gelehrten Bildung, der, wie sein Sohn später erzählte, die »Novelle« des Justinian auswendig wusste Pater, inquit (Odo), meus Abbo est vocatus, sed alterius moris esse videbatur et actibus quam nunc homines praesentis temporis esse videntur. Veterum namque historias, Justiniani Novellam memoriter retinebat. Joannes, Vita S. Odonis l. l, c. 5. und ein gesuchter Schiedsrichter war; aber er hatte auch einen frommen Sinn, er hatte sogar für seinen Sohn anfangs die geistliche Laufbahn ins Auge gefasst. So musste es diesem nicht schwer werden, dieselbe einzuschlagen, als die ritterlichen Uebungen ihm weder gefielen, noch seiner Gesundheit zusagten. Neunzehn Jahre alt, wurde Odo Kanonikus in Tours, indem er sich dem heiligen Martin weihte. Dort pflegte er nun auf das eifrigste die Studien, zunächst das der Grammatik. Dann aber begab er sich zu seiner weiteren Ausbildung nach Paris zu dem Schüler Heirics, Remigius von Auxerre, S. über ihn unten Kap. 10. von dem er namentlich in der Dialektik, und gewiss auch in der Musik Unterricht empfing, in welcher Wissenschaft Remigius sich auch auszeichnete. Nach Tours zurückgekehrt, vertiefte Odo sich in die Moralia Gregors, welches grosse Werk ihn wahrhaft begeisterte, so dass er eine Epitome von ihm machte. Damals wird er auch die drei dem heiligen Martin gewidmeten Hymnen verfasst und componirt haben; nicht minder componirte er zwölf Antiphonen, von deren Lieblichkeit sein Biograph entzückt ist. Similiter (composuit) duodecim antiphonas ternas per singulas habentes differentias, quarum verba et vocum consonantia adeo sibi invicem concordant, ut nihil in sensum plus minusve, nihil in symphoniae modulationibus reperiri dulcius posse videatur. Joannes, Vita S. Odonis l. l, c. 10.) Odo verfasste die Antiphonen auf den Wunsch der Mönche, die deshalb seine Ankunft erwartet hatten (Joann. V. O. ibid.); offenbar ist hier seine Rückkehr von Paris gemeint. Sigebert von Gembloux De script. eccles. c. 124. bezeichnet ihn auch als Archicantor von Tours.
172 Die religiöse Vertiefung aber reifte in Odo den Entschluss sich dem Mönchsleben zu widmen. So begab er sich um 909 in das Kloster Balma in Burgund, wo damals unter dem Abte Berno noch die strengere Klosterzucht des Benedict von Aniane herrschte. Dort wurde er seiner Gelehrsamkeit wegen – brachte er doch eine Bibliothek von 100 Bänden mit – zum Magister der Schule ernannt, später auch zum Priester geweiht. Das grosse Ansehen, das er bei dem Abte und seinen Mitmönchen gewonnen, bewirkte im Jahre 927 seine Wahl zum Nachfolger Berno's, als dieser auf den Tod erkrankte, in drei von den sieben, diesem untergebenen Klöstern; unter ihnen befand sich auch Cluny, das der fromme Herzog Wilhelm, Odo's Gönner, einst gegründet hatte. Dorthin verlegte Odo seinen Sitz. Er entwickelte nun die eifrigste Thätigkeit, die Regel Benedicts in noch grösserer Strenge wiederherzustellen, zunächst in seinen eigenen Klöstern; darauf aber wurde er, als sein Ruf sich verbreitete, zur Reform vieler anderer berufen, nicht bloss in Frankreich, sondern auch in Italien. Diese Klöster bildeten dann eine Congregation, deren Oberhaupt der Abt von Cluny war als Abbas generalis, und die, wie dieses Kloster von Anfang an, unter keinem Bischof, sondern direct unter dem Papst stand. Auf dieses Verhältniss gründet sich ihre und Odo's grosse historische Bedeutung, die schon zu seiner Zeit sich kundgab. So unternahm er drei Romfahrten in den Jahren 936 bis 942, zum Theil zu dem Zweck, um im Interesse des Papstes und der Kirche den Frieden zwischen den damals um Rom kämpfenden Machthabern Italiens herzustellen. Von der letzten Reise kehrte er krank nach Frankreich zurück, und wandte sich im Gefühl seines nahen Endes nach dem Kloster St. Julian in Tours, das zu seiner Congregation gehörte, um in der Stadt des heiligen Martin, wo er seine geistliche Laufbahn begonnen, seine letzte Ruhestätte zu finden 942.
Zwei Musikschriften, ein kurzer Tonarius und ein wichtigerer Dialogus de arte musica , als deren Verfasser ein » domnus Odo« in den Handschriften bezeichnet wird, sind unserm Odo beigelegt worden; der Verfasser der zweiten kann aber nicht, wie aus ihr selbst hervorgeht, Da in ihr auf die erste als das Werk eines andern, auch eines domnus Odo, hingewiesen wird. auch der der ersten sein; ob 173 der Tonarius von Odo, ist noch durchaus fraglich, der Dialogus ist sicher aber nicht von ihm. Um so mehr können wir hier ihre Betrachtung unterlassen, die nur eine ganz indirecte Beziehung zu unsrer Geschichte haben könnte. S. über die Bedeutung der beiden Odo beigelegten Schriften für die Buchstabennotation Riemann a. a. O. S. 39 ff. Dass das zweite Buch im ersten Drittheil des zwölften Jahrhunderts ausdrücklich unserm Odo zugeschrieben wird, Durch den Anonymus Mellicensis, Script. c. 75: Otto, venerabilis abbas Gluniacensium, ardentissimus amator monasticae religionis, qui monachorum gemma, qui discipulorum suorum gloria fuit, dialogum satis utilem De musica arte composuit. bezeugt doch immerhin seinen grossen Ruf als Lehrer der Musik. – Von seinen Kirchengesängen haben sich nur wenige erhalten: einer zum Abendmahl in Hexametern, eine Hymne im Ambrosianischen Versmass auf die heilige Maria Magdalena, und eine in demselben Rythmus auf den heiligen Martin, in beiden findet sich der Reim, doch in verschiedener Gestalt, bald als gepaarter, bald als überschlagender, bald als Monorim. Der in Mabillons Annalen edirte Hymnus » In honorem S. Martini a S. Odone in extremis compositus« ist, wie schon die Schlussstrophe zeigt, sicher nicht von ihm.
Von den Werken Odo's sei hier noch seiner drei Bücher Collationes gedacht, insofern sie manche Streiflichter auf die sittliche Bildung jener Zeit werfen. Das Werk ist von Odo noch als Mönch, auf den Wunsch des Bischofs von Limoges, Turpio verfasst, der an Büchern keinen Ueberfluss hatte. Es ist zum Theil etwas sehr eilfertig hingeworfen, was der Verfasser selbst im Widmungsschreiben entschuldigt. Odo bekämpft in dem Werk die drei Hauptlaster: superbia, luxuria und malitia, namentlich aber das zweite, und vor allem bei dem Klerus, in seinen verschiedenen Formen: der Wollust, Gefrässigkeit und Putzsucht; und indem er die zur Warnung citirten abschreckenden Beispiele, in welchen das Strafgericht des Himmels offen sich kundgab, auch seiner eignen Zeit entlehnt, S. z. B. lib. II, c. 11, 26, 29; lib. III, c. 20, 21. lässt er auch recht erkennen, wie sehr gerade der Stand der Mönche der sittlichen Erhebung damals bedurfte, um die sich Odo als Abt später so sehr bemühte. Auf seine Vita Geraldi gehen wir erst weiter unten ein. 174