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Nachdem Miß Warrens die Schubfächer nachgesehen hatte, läutete es zum Abendessen.
Eilig wuschen sich die beiden Freundinnen die Hände, und Walpurga machte sich ihre Fingernägel ebenso sorgfältig zurecht, wie Margarete, denn sie hatte nun schon gelernt, daß man die Hände pflegen und sauber halten muß.
Auch über das Haar bürstete sie, wie es Margarete tat, und dann verließen sie beide ihr Zimmer und begaben sich nach dem Speisesaal, in dem alle gemeinsamen Mahlzeiten eingenommen wurden.
Draußen auf dem Korridor begegneten ihnen Franziska, Martha und Fifi.
Das kleine Komteßchen Fifi steckte Walpurga mit einer sehr ungräflichen Grimasse die Zunge heraus, und Franziska drehte ihr sehr auffallend und ungezogen den Rücken zu.
Walpurga war derartige Kränkungen schon gewöhnt. Früher hatte das den hellen Zorn in ihr geweckt, jetzt preßte sie nur die Lippen aufeinander und sah an den garstigen Mädchen vorbei.
Im Speisezimmer hatte sie dann Ruhe, denn die Mahlzeiten wurden in Gesellschaft von Miß Warrens und Mademoiselle Leportier eingenommen.
Frau Dr. Moritz kam nur zuweilen herüber, um nach dem Rechten zu sehen. Sie nahm ihre Mahlzeiten mit ihrer alten Mutter, die sehr leidend war, in ihrer Privatwohnung ein.
Bei Tisch wurde immer abwechselnd zur Uebung für die Schülerinnen eine Woche Englisch und eine Woche Französisch gesprochen.
Walpurga hatte sich nur mit Mühe die nötigsten Worte gemerkt, da sie ja noch keinen Sprachunterricht genossen hatte.
Bat sie nun einmal in deutscher Sprache um etwas, so wurden ihre Worte mit spöttischem Lächeln von den anderen ignoriert.
Margarete saß nicht an ihrer Seite, denn bei Tische saßen die Aeltesten oben bei den Lehrerinnen und die Jüngsten am anderen Ende der Tafel.
So mußte sich dann Walpurga immer erst an die Lehrerinnen mit ihrer Bitte wenden.
Diese sagten ihr dann in der fremden Sprache die Worte vor, die ihren Wunsch ausdrückten, und Walpurga mußte das nachsprechen.
Das war aber eine ganz gute Uebung für Walpurga, und da sie gut lernte und entschieden Sprachtalent besaß, wurde es immer seltener, daß sie einmal nicht Bescheid wußte.
Ach, was waren diese gemeinsamen Mahlzeiten oft für schreckliche Stunden für die kleine Försterstochter gewesen. Was hatte sie alles lernen und unterlassen müssen, und wie hatte sie unter den spöttischen Blicken der anderen Mädchen gelitten.
Diese hatten ja alle schon zu Hause die vornehmen Sitten und Gebräuche bei Tisch gelernt. Aber Walpurga kannte diese Sitten nicht, wußte oft nicht einmal, wozu dieser und jener Gegenstand gebraucht wurde.
Jetzt ging es gottlob schon viel besser, und grobe Verstöße ließ sie sich schon längst nicht mehr zuschulden kommen, denn sie war klug und gelehrig und merkte auf alles. Schwer war das ja alles nicht, nur wissen mußte man, was man zu tun hatte.
Aber ihre Mitschülerinnen konnten noch immer nicht vergessen, welche Fehler sich Walpurga im Anfang hatte zuschulden kommen lassen, und immer noch wurde sie heimlich, wenn es die Lehrerinnen nicht merkten, damit aufgezogen.
Heute hatte aber niemand so recht Zeit, auf Walpurga zu achten. Uebermorgen ging es ja heim in die Weihnachtsferien.
Darüber vergaß man alles andere. Es gab soviel zu erzählen von den glänzenden Feiern, die den vornehmen und reichen Kindern bevorstanden. Sie überboten sich gegenseitig in der Schilderung der zu erwartenden Pracht.
Margarete hörte still zu. Und es erschien ihr, daß all diese prahlerischen Schilderungen jämmerlich verblaßten vor den schlichten, aber aus dem Herzen klingenden Worten, in denen Walpurga vorhin drüben in ihrem Zimmer von dem kleinen Försterhaus erzählt hatte. Das hatte wie Poesie geklungen und hatte das Herz warm gemacht. –
Nach Tisch forderte Franziska die anderen heimlich auf, noch zu einer Beratung in ihr Zimmer zu kommen.
Und dort sprach sie ihnen eindringlich vor, auf jeden Fall daheim daraufhin zu wirken, daß die Försterstochter aus dem Institut entfernt werden müsse.
»Vergeßt ja nicht, was ich Euch gesagt habe!« forderte sie gebieterisch. »Ihr laßt Euch jede zum Ferienschluß von Euren Eltern einen Brief mitgeben an Frau Doktor. Darinnen muß stehen, daß Eure Eltern die Entfernung der Bauerndirne verlangen. Wenn wir gemeinsam vorgehen, haben wir Erfolg, denn dann kann sich Frau Doktor nicht dagegen auflehnen. Also ich habe Euer Wort. Wer kneift, ist ehrlos!«
So sprach Franziska mit einem gebieterischen Blick und einem stolzen Aufwerfen des Kopfes.
Die anderen versprachen alles, was sie wünschte, sie ließen sich alle von Franziska beherrschen.
Im Grunde, wenn sie hätten ehrlich und vernünftig sein wollen, hätten diese törichten Kinder sich sagen müssen, daß ihnen die arme, kleine Walpurga nie etwas zuleide getan hatte, sondern immer nur von ihnen gequält worden war. Auch daß Walpurga viel artiger und besser war, als sie selbst, hätten sie einsehen müssen. Aber das wollten sie eben nicht.
Sie konnten nicht vergessen, daß Walpurga im roten Röckchen, mit Nagelschuhen und einem ärmlichen Bündel ihren Einzug ins Institut gehalten hatte und daß sie ihretwegen schon manche Strafpredigt von Frau Doktor bekommen hatten.
Kinder sind oft so unbarmherzig untereinander. Wenn Walpurga vielleicht über ihre Quälereien geweint und gejammert hätte, dann hätten sie wohl von ihr abgelassen und sich eines besseren besonnen.
Aber Walpurga zeigte keine Schwäche, sondern hielt tapfer aus.
Im Grunde imponierte das den anderen Mädchen, aber sie wollten doch um keinen Preis zeigen, daß sie sich von einem Bauernmädel imponieren ließen.
Und so zeigten sie sich gehässiger und garstiger, als sie eigentlich waren.
Franziska hatte auch Margarete gegen Walpurga aufwiegeln wollen. Als diese ihr aber ruhig erklärte, daß sie nichts gegen Walpurga habe, diese im Gegenteil sehr lieb und artig fände und ihr herzliche Freundschaft entgegenbringe, hatte Franziska gehässig erwidert:
»Du hast Dich bloß von ihr umschmeicheln lassen, weil sie gesagt hat, daß Du die Beste von uns bist. Warte nur, wenn Dein Oheim erfährt, mit wem Du in einem Zimmer wohnst, dann wird er schon dagegen protestieren!«
»Ich glaube nicht, Franziska. Mein Oheim vertraut Frau Doktor sehr, und wenn sie es für gut hält, daß Walpurga in meinem Zimmer wohnt, so wird auch er nichts dagegen haben!« hatte Margarete gesagt.
Darauf hatte sich Franziska brüsk von ihr abgewandt und hatte sie stehen lassen.
So war nun das Komplott gegen Walpurga hinter Margaretes Rücken geschmiedet worden.
Margarete ahnte aber doch, daß irgend etwas vorging, und beschloß, sich auf jeden Fall auf Walpurgas Seite zu stellen.