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9. Kapitel.
Ein neues Leben


Noch an demselben Tage ließ Frau Dr. Moritz neue städtische Kleider, Schuhe und andere Toilettengegenstände aus Münchener Geschäften kommen, und Walpurga wurde sofort neu eingekleidet.

Da schon am nächsten Tage die Schule begann, sollte sie nicht mit ihren Bauernröckchen in die Klasse gehen, damit sich nicht auch noch die anderen, nicht im Pensionat wohnenden Kinder über sie lustig machten.

Diese neuen Kleider erschienen Walpurga viel unbequemer, als ihre alten, aber sie mußte sich natürlich darein fügen, sie zu tragen.

Das neue Schuhzeug gefiel ihr freilich besser. Es war so weich und leicht, und hing nicht so schwer wie die derben Nagelschuhe an den Füßchen, die bisher am liebsten barfuß durchs Leben gelaufen waren.

Als sie fertig vor dem Spiegel stand, lachte sie laut auf, so fremd und spaßig kam sie sich vor.

Mit einem leisen Seufzer packte sie dann ihr rotes Röckchen und all ihre sonstigen Habseligkeiten in ihre Kommode und in ihren Schrank.

Margarete, ihre Zimmergenossin, half ihr freundlich dabei und zeigte ihr, wo und wie sie alles unterbringen mußte.

Da war Walpurga sehr dankbar und ihr kleines Herz war von Liebe erfüllt für die sanfte, gutherzige Margarete.

»Weißt, Margaretl, i bin so arg froh, daß i bei Dir im Stüberl sein darf. Du bist so viel tausendmal lieber, als die anderen Kinder. I hätt' mir die Augen ausg'weint, wenn i zu der Großen mit den schwarzen Augen hätt' gehen müssen. Warum is sie gar so bös g'wesen, daß i ein Försterkind bin? Is dös was Schlimmes? Dös hab' i nimmer g'wußt!«

Margarete suchte sie zu trösten.

»Du mußt gar nicht darauf hören, was die anderen sagen, Walpurga. Franziska ist sehr stolz und hochmütig. Daran kehre Dich nur nicht. Es ist gewiß nichts Schlimmes, ein Försterkind zu sein. Dein Vater ist doch sicher ein braver Mann!«

Walpurga nickte energisch.

»Dös kannst schon glauben. Einen braveren gibt's halt net. Aber weißt, mögen tun mich die anderen alle net. Nur Du bist soviel gut zu mir!«

»Die anderen werden Dich schon auch noch lieb gewinnen, da sei nur ganz ruhig!« sagte Margarete.

»Du hast mich schon a wengerl lieb, gelt, Margaretl?« fragte Walpurga dringend und sah die neue Freundin bittend an.

Margarete nickte.

»Ja, ich hab' Dich gern!«

Das war ein Trost für Walpurga. Und dieser kleine Trost mußte ihr über viele schwere Tage forthelfen.

Ach, was stürmte in der ersten Zeit im Institut nicht alles auf das arme, kleine Mädchen ein.

Das ganze Leben, das sie bisher geführt hatte, mußte sie vergessen, tausend liebgewordene Gewohnheiten ablegen und dafür soviel Neues lernen, daß sie sich erst nicht aus und ein fand.

Und wenn sie etwas verkehrt machte, dann wurde sie von den anderen verspottet und ausgelacht.

In Gegenwart der Frau Doktor und der Lehrer und Lehrerinnen wagten sie es freilich nicht, aber wenn sie mit Burgerl allein waren, dann quälten sie diese mit ihrem Spott.

Walpurga hätte sich ja nun bei Frau Doktor beschweren können, die immer lieb und gut zu ihr war und nie die Geduld mit ihr verlor. Aber es widerstrebte ihrem kleinen, ehrlichen Herzen, die Anklägerin zu spielen.

Sehr viel Pein schuf ihr auch das viele Stillsitzen in der Schule im Anfang.

Ja, es war eine schwere Zeit für sie, und wieder und wieder drückte sie das Medaillon mit dem Bildnis des Königs an ihr Herz und dachte:

»Wenn i net Deinetwegen hierbleiben tät', lieber Herr König, um Dir a wengerl Freud' zu machen, gleich lief i davon, bis in mei liebes Försterhäusl!«

Oft schlief sie des Abends unter Tränen ein, weil sie so arges Heimweh hatte. Ganz still weinte sie in sich hinein, damit es Margarete nicht hören sollte.

Aber eines Abends hörte diese doch das unterdrückte Weinen, und gleich war sie aus dem Bett, lief zu Walpurgas Bett hinüber und beugte sich über sie.

»Was ist Dir denn, Walpurga, weshalb weinst Du so sehr?« fragte sie leise.

Da machte sich Walpurgas Kummer Luft, und sie beichtete Margarete, daß sie so großes Heimweh habe nach Vater und Mutter, nach Tonerl und Sepperl.

Margarete setzte sich auf ihren Bettrand, trocknete ihr liebevoll die Tränen und sagte dann leise:

»Ach, Walpurga, wie kannst Du weinen? Du hast doch Deine lieben Eltern noch am Leben und all Deine Lieben. Und immer kannst Du sie Wiedersehen in den Ferien. Sieh', was soll ich da tun? Ich müßte mir ja die Augen ausweinen, denn meine lieben Eltern sind beide tot und ich sehe sie im Leben niemals wieder!«

Da verstummte plötzlich Walpurgas Weinen. Erschrocken richtete sie sich auf und umfaßte Margarete mit beiden Armen.

»O Du armes, liebes Hascherl, dös hab' i ja gar net g'wußt, daß Du keine Eltern mehr hast. Ach, wie schrecklich muß Dir zumute sein. Und gar so lieb bist Du zu mir und tust mich noch trösten, wo Du doch selber so nötig hast, g'tröstet zu werden. Und i dummes Mäderl leg' mich daher und heul und heul, wo ich doch mei Vaterl und Mutterl noch daheim hab' und sie immer wiedersehen kann. Nein, kein Tröpferl will i jetzt nimmer weinen und immer nur d'ran denken, daß i sie wiedersehen kann. Und Dich, schau, Dich will i noch viel tausendmal lieber haben, weil Du doch gar so ein armes Hascherl bist!«

Innig küßten sich die beiden Kinder, und ihre Freundschaft vertiefte sich sehr seit diesem Abend. Diese Freundschaft hielt denn auch für ein ganzes langes Leben aus.

Walpurga hielt Wort. Sie weinte nicht mehr und benahm sich sehr tapfer.

Daß sie in der Schule viel lernen mußte, gefiel ihr sehr, denn sie war fleißig und klug und überholte bald ihre Klassenschwestern.

Sehr schwer war es aber für sie, ihren Dialekt abzulegen, und wie die anderen Schülerinnen, hochdeutsch zu sprechen. Immer wieder fiel sie, hauptsächlich in der Erregung, in ihren Dialekt zurück.

Die anderen beuteten das aus und verhöhnten und verspotteten sie deswegen und ahmten ihren Dialekt in übertriebener und häßlicher Weise nach, wie sie auch sonst ihre kleinen Fehler nach Kinderart verspotteten.

Sie reizten und kränkten Walpurga, wo sie nur konnten, nannten sie gehässig »Bauerndirn« oder »Försterburgerl« und äfften ihr nach, wie sie mit den schweren Schuhen und dem Sachenbündel im Institut erschienen war.

Burgerl war ein sehr lebhaftes Kind von raschem Temperament, und oft ging der helle Zorn dann mit ihr durch, und sie machte dann von ihren Fäustchen energischen Gebrauch.

Dabei bekam sie dann freilich auch manchen Puff und Schlag zurück, aber das tat ihr nicht so weh, wie die spitzen Redensarten.

Einmal kam aber unverhofft Frau Doktor dazu, als Walpurga gerade mit Baroneß Magda Fuchs in leidenschaftlichem Handgemenge war.

Und da Walpurga die Stärkere und Gewandtere war, sah Magda recht arg mitgenommen aus, als sie Frau Doktor von Walpurga zurückriß.

Zum ersten Male sah Frau Dr. Moritz ernst und streng auf die zornige Walpurga herab.

»Was hat es hier gegeben?« fragte sie.

Magda klagte nun, von den anderen unterstützt, Walpurga heftig an. Sie sei so schrecklich streitsüchtig und schlage immer gleich los, wenn man einmal einen harmlosen Scherz mache. Walpurga sei so sehr gewöhnlich und unverträglich.

Walpurga ließ diese Anklage stumm über sich ergehen, ohne ein Wort zu ihrer Verteidigung zu sagen.

Sie war nur sehr blaß und preßte die Lippen fest aufeinander. Aber in ihren Blicken, mit den sie ihre Anklägerinnen betrachtete, lag Zorn und Verachtung.

Sie logen ja alle zusammen, keine sagte die Wahrheit.

»Nun, Walpurga, was hast Du dazu zu sagen?« fragte Frau Doktor streng.

Walpurga sah zu ihr auf, und ihre Augen hefteten sich klar und ehrlich in die der Vorsteherin.

»Geschlagen habe ich zuerst!« sagte sie fest. Sonst kein Wort weiter. Sie wollte sich nicht verteidigen, weil sie dann die anderen der Lüge zeihen mußte. Und das widerstrebte ihr.

Da trat aber ihre Freundin Margarete in ihrer artigen, bescheidenen Weise vor und sagte an Walpurgas Statt:

»Magda hat Walpurga gereizt, Frau Doktor. Sie hat gesagt, Walpurgas Vater sei ein dummer Bauer, und das hat sich Walpurga nicht gefallen lassen. So ist der Streit gekommen. Ich war von Anfang an dabei und weiß es genau!«

Frau Dr. Moritz nickte ihr freundlich zu.

»Es ist gut, Margarete!«

Und zu den anderen gewendet, fuhr sie fort:

»Das klingt wesentlich anders, als das, was Ihr mir gesagt habt. Zu Eurer Ehre will ich annehmen, daß Ihr in der Erregung nicht so genau auf das geachtet, was Ihr gesprochen habt. Ich will auch diesen Fall nicht näher untersuchen, sage Euch aber ernstlich, vermeidet in Zukunft solche Szenen. Ihr seid doch keine Gassenjungen!«

Damit ging sie davon. Absichtlich vermied sie, sich noch mit Walpurga zu beschäftigen, damit es nicht wieder böses Blut gab.

Aber eine Stunde später ließ sie Walpurga zu sich holen in ihr Zimmer. Und da sprach sie lange ernst und gütig mit ihr.

Sie setzte ihr auseinander, daß es unter den Menschen hoch und niedrig, reich und arm gäbe, und daß in jedem Stand brave und schlechte Menschen zu finden wären.

Walpurga solle es sich nicht zu Herzen nehmen, wenn sie die anderen durch spöttische Worte und törichte Selbstüberhebung kränkten. Sie solle nur immer daran denken, daß sie selbst ein guter, tüchtiger Mensch werden und ihrem königlichen Freund und Beschützer Ehre und Freude machen wolle.

Auf keinen Fall dürfe sie hier im Institut mit den Fäusten um sich schlagen. Das dürfe ein wohlerzogenes Mädchen niemals tun. Wenn man ihr zu nahe trete, solle sie zu ihr kommen, dann werde ihr schon ihr Recht werden.

Es sei ja sehr schön von ihr, daß sie ihre Mitschülerinnen nicht verklagt habe, aber schlagen dürfe sie auch nicht. Jeder Mensch müsse lernen, seine Gefühle, ob gut oder böse, zu beherrschen.

Walpurga hatte still und aufmerksam zugehört und war sehr nachdenklich geworden.

Und dann versprach sie in ihrer schlichten, wahrhaften Art, daß sie alles beherzigen wolle, was ihr Frau Doktor gesagt habe. Sie möge ihr nicht böse sein. In Zukunft wolle sie gewiß nicht mehr heftig werden, wenn man sie kränke, denn um alles in der Welt möchte sie nicht, daß der König und auch Frau Doktor unzufrieden mit ihr seien.

Mit diesem Versprechen gab sich Frau Doktor zufrieden und entließ Walpurga wie immer freundlich und gütig.

Später, bei einer passenden Gelegenheit, nahm sie sich aber auch die anderen, außer Margarete, vor und sagte ihnen, wie häßlich es sei, die arme, kleine Walpurga fühlen zu lassen, daß sie einem anderen Stand angehöre. Es sei ein Zeichen wenig vornehmer Gesinnungsart, wenn sie sich über Walpurga erhaben dünkten, weil sie zufällig von adeligen und reichen Eltern abstammten.

Die Strafpredigt wurde jedoch nicht beherzigt. Die meisten Kinder nahmen sie sehr übel und murrten untereinander darüber.

Franziska und Dorothea erklärten, es sei eine Schmach, daß man sich eines Bauernmädels halber, die von Rechts wegen gar nicht in dies vornehme Institut gehöre, abkanzeln lassen müsse.

Und sie wiegelten die anderen auf, daß sie sich, gleich ihnen, in den bevorstehenden Weihnachtsferien daheim bei ihren Eltern beschweren wollten, daß Frau Doktor ihnen zumute, mit einem Bauernmädel an einem Tisch, auf einer Schulbank zu sitzen und sich deren Gesellschaft gefallen zu lassen.

Franziska und Dorothea übten auf alle anderen einen großen Einfluß aus, und so wurde denn fest beschlossen, diesen Plan zur Ausführung zu bringen.

Dann würde Frau Doktor schon einsehen, daß diese Walpurga aus dem Institut entfernt werden müsse, wenn man zusammen energisch vorgehe.

Margarete erfuhr vorläufig nichts von diesem Plan. Man wußte, daß sie »unbegreiflicherweise« Walpurga immer in Schutz nahm und zu ihr hielt. Da sie keine Eltern hatte und in den Ferien nicht nach Hause ging, hätte es ohnedies keinen Zweck gehabt, sie mit aufzuwiegeln.

Margarete fühlte aber doch instinktiv aus halben Worten, hämischen Blicken und aus dem ganzen übrigen Verhalten der anderen heraus, daß sie etwas gegen Walpurga im Schilde führten.

Dafür war sie nun doppelt lieb und freundlich gegen Walpurga und bot ihren ganzen Einfluß auf, daß diese ihre kleinen Fehler und Ungeschicklichkeiten mehr und mehr ablegte.

Von Margarete ließ sich Walpurga auch willig alles sagen und bat sie noch herzlich, ihr ja nichts durchgehen zu lassen und alles zu rügen, was nicht recht an ihr sei.

Von ihr ließ sie sich willig Verhaltungsmaßregeln geben, denn sie wußte, daß es Margarete gut mit ihr meinte.

Auch war sie Margarete dankbar, wenn diese sie darauf aufmerksam machte, sobald sie wieder in ihren Dialekt verfiel. –

So vergingen die Wochen bis zu den Weihnachtsferien viel schneller, als Walpurga zu hoffen gewagt hatte.

Die Lehrer und Lehrerinnen waren alle sehr zufrieden mit ihr, ebenso Frau Dr. Moritz.

Nur ihre Mitschülerinnen machten ihr nach wie vor das Leben schwer, Margarete natürlich ausgenommen. Wo sie es nur unbemerkt tun konnten, höhnten sie hinter ihr her und spielten ihr heimlich allerlei Schabernack.

Walpurga hatte viel Mühe, sich diesen Bosheiten gegenüber im Zaum zu halten. Oft war sie wieder drauf und dran, sich mit ihren Fäustchen Recht zu schaffen, denn klatschen und angeben mochte sie nicht, das widerstrebte ihr. Aber im letzten Augenblick hielt sie sich immer wieder zurück und dachte daran, was Frau Doktor gesagt hatte.

Was sollte auch ihr lieber Herr König sagen, wenn er erfuhr, daß sie sich nicht in die Verhältnisse schicke, in die er sie gestellt hatte!

Am meisten aber hatte Eindruck auf sie gemacht, was ihr Margarete an dem Abend gesagt, als sie Magda geprügelt hatte.

Als sie allein in ihrem Zimmer waren, hatte Margarete ernsthaft zu ihr gesagt:

»Du darfst niemals wieder jemand schlagen, wenn wir gute Freunde bleiben wollen, Walpurga. Wenn ein Mädchen mit Fäusten dreinschlägt, das ist häßlich. Mit den Fäusten kannst Du niemand zur Achtung zwingen. Höre doch einfach nicht darauf, wenn sie Dich verspotten, zeige ihnen, daß Du viel besser bist als sie, dann wirst Du sie beschämen und endlich lassen sie dann ab von Dir und kränken Dich nicht mehr!«

Das hatte sich Walpurga gut gemerkt, und wenn sie es nun wieder einmal arg mit ihr trieben und ihre Fäustchen sich im gerechten Zorn ballen wollten, dann dachte sie an den König und an Margarete, und da biß sie die Zähne tapfer aufeinander und hielt sich selbst in der Gewalt. –

Nun waren es nur noch wenige Tage bis Weihnachten.

Walpurga schlug das Herz vor Freude, wenn sie an daheim dachte, an den verschneiten, herrlichen Wald, an das trauliche Försterhäusl und an all ihre Lieben.

Vaterl hatte wohl schon den schönsten Tannenbaum aus dem Forst geholt, und Mutterl besteckte ihn mit Lichtern und all dem lieben, bunten Tand, an dem ein Kinderherz seine Freude hat.

Und Tonerl und Sepperl, wie die wohl schon auf sie warteten! Ach, wenn's doch schon soweit wäre!

Heute befand sich nun Walpurga mit Margarete in ihrem Zimmer. Sie räumten, wie es jede Woche einmal Vorschrift war, ihre Kästen und Schubladen ordentlich auf.

Miß Warrens oder Mademoiselle Leportier kamen dann, um nachzusehen, ob alles recht gemacht war.

Eifrig hantierte Walpurga in ihren Sachen und plauderte dabei von dem, was ihrer daheim in den Ferien harrte.

Da hörte sie plötzlich hinter sich einen tiefen Seufzer. Schnell wandte sie sich um und sah nach Margarete hinüber. Die wischte gerade hastig und verstohlen einige Tränen fort.

Aber Walpurga sah es doch, und ihr kleines Herz erfüllte heißes Mitleid.

Da warf sie schnell alles beiseite, was sie gerade in der Hand hielt, und ihre Arme um die geliebte Freundin schlingend, sagte sie erschrocken:

»Margarete, liebe Margarete, warum weinst Du denn?«

Margarete zwang sich schon wieder zu einem Lächeln.

»Ach, Du mußt nicht auf meine dummen Tränen achten, Walpurga!« sagte sie leise.

»Doch, ich achte darauf!« antwortete Walpurga herzlich. »Soll mir nicht das Herz wehtun, wenn ich sehe, daß Du weinst? Tröstest Du mich nicht auch immer so lieb, wenn ich traurig bin? Hat Dir jemand etwas zuleide getan, Margarete?«

Walpurga sprach jetzt immer, so gut sie konnte, in einem reinen Deutsch, ohne Dialekt.

Margarete fuhr noch einmal hastig mit dem Taschentuch über die Augen.

»Niemand hat mir was zuleide getan, Walpurga. Laß nur gut sein, es ist schon vorüber!« sagte sie sanft.

Aber Walpurga schüttelte lebhaft den Kopf und sagte eifrig:

»Nein, ich laß Dich nicht. Du mußt mir sagen, was Dich traurig macht. Sage ich Dir nicht auch alles, wenn ich einen Kummer habe, und Du tust mich dann so lieb trösten. Geh', sag' mir, was Dir wehtut, ja?«

Ihren bittenden Augen konnte Margarete nicht widerstehen. So sagte sie zögernd:

»Siehst Du, Walpurga, sonst bin ich ja das ganze Jahr tapfer, wenn hier alle in die Ferien gehen zu Eltern und Geschwistern. Aber Weihnacht, ja Weihnacht, da ist es mir immer doppelt schwer, daß ich eine Waise bin und keinen Menschen habe, zu dem ich gehöre!«

Walpurga wurde ganz blaß und schluckte einigemal krampfhaft.

»O, Du mei liebes Herrgotterl, jetzt hab' i gar net mehr d'ran g'dacht, daß Du keine lieben Eltern mehr hast!« rief Walpurga, in der Erregung wieder in ihren Dialekt fallend.

Sie dachte dann aber gleich wieder daran, daß Margarete unzufrieden mit ihr sein würde, und fuhr in dialektfreier Rede fort:

»Meine liebe, arme Margarete, wenn Du wüßtest, wie leid Du mir tust. Kannst Du denn nicht wenigstens zu Deinem Oheim gehen und bei ihm Weihnacht feiern?«

»Nein,« antwortete Margarete seufzend, »der Oheim ist ja fast immer auf Reisen, weißt Du, er hat keine Frau und keine Kinder, und er wüßte auch gar nicht, was er in seiner Junggesellenwohnung mit mir anfangen sollte. Er schickt mir zwar immer sehr schöne und reiche Geschenke, aber im Herzen steht er mir doch so fern, obwohl er der einzige Bruder meines Vaters ist!«

Walpurga streichelte zärtlich den Arm der Freundin; plötzlich sagte sie dann aufstrahlend:

»Weißt Du was, Margarete, komm mit mir ins Försterhäuschen, zu meinen lieben Eltern!«

Margarete schüttelte hastig den Kopf.

»Nein, nein, das geht nicht an. Ich danke Dir herzlich für Deinen guten Willen, aber es geht wirklich nicht an!«

Da wurde Walpurga rot und in ihren Augen erlosch das frohe Strahlen.

»Ach, ich weiß, es ist Dir zu gering bei uns, daran hab' ich freilich nicht gedacht!« sagte sie leise.

Margarete schlang erschrocken ihre Arme um Walpurga.

»Nein, wie kannst Du so etwas denken. Zu gering ist es mir nirgends, wo mir Liebe geboten wird. So reich bin ich ja nicht an Liebe. Aber sieh', auch Johanna, Lena und Ella haben mich schon eingeladen, schon oft, mit zu ihren Eltern zu gehen, und ich habe das alles zurückgewiesen.

Ich fühle es dann ja doppelt, wie einsam ich bin, wenn ich Euch anderen mit Euren lieben Eltern und Geschwistern vereint sehe. Es drückt mir das Herz ab, denn es weckt die Erinnerung daran, daß auch ich einmal liebe Eltern hatte. Verstehst Du das, kleine Walpurga?«

Walpurga holte tief Atem.

»Ich weiß nicht, ich weiß bloß, daß ich Dich furchtbar gern mit mir nähme!«

»Das ist sehr lieb von Dir,« sagte Margarete herzlich, »und ich danke Dir nochmals. Aber ich möchte nicht so fremd zwischen Euch stehen und Euch gar noch die Freude stören!«

»Ach, Du störst gewiß nicht. Mutterl würde Dich so lieb haben, sie hat den Sepperl auch so lieb, weil er keine Mutter mehr hat. Wie schade, daß Du nicht mit mir gehen willst. Es ließe sich so gut machen. Weißt Du, sogar im Giebelstübchen dürftest Du schlafen, in demselben Bett, wo auch unser lieber, guter König Ludwig schon geschlafen hat!« sagte Walpurga betrübt.

Margarete blickte verwundert auf.

»Der König? Bei Euch im Hause hat der geschlafen?«

Walpurga nickte stolz.

»Ja doch, hab' ich Dir das noch nicht erzählt?«

Margarete schüttelte den Kopf.

»Nein, Du sprichst zwar oft vom König und sagtest mir, daß Du ihn sehr lieb hast. Es ist mir wohl manchmal aufgefallen, daß Du viel von ihm sprichst und Dich immer darum sorgst, ob er mit Dir zufrieden ist. Ich hab' mir aber nichts weiter dabei gedacht. Jedenfalls hab' ich nicht geahnt, daß Du ihn persönlich kennst und daß er gar bei Euch gewohnt hat!«

Walpurga schlug die Hände zusammen.

»Ach Du, ich hab' geglaubt, Du weiß das alles. Hat Euch denn Frau Doktor nicht erzählt, daß ich hier bin, weil es der König so haben will? Er selbst hat mich doch zu Frau Doktor geschickt, daß ich etwas Tüchtiges lernen soll!«

Margarete lauschte erstaunt.

»Nein, Walpurga,« sagte sie hastig, »davon hat Frau Doktor nichts gesagt. Aber nun erkläre ich mir Dein Hiersein. Ich hab' mich, offen gesagt, oft darüber gewundert, daß Deine Eltern Dich in eine so teure Pension schickten, da Du mir ja erzählt hast, daß Ihr arm seid. Weder ich noch die anderen alle haben eine Ahnung davon!«

»Ach, die anderen brauchen es auch gar nicht zu wissen!« sagte Walpurga schnell. »Zu ihnen möchte ich gar nicht von meinem lieben, guten Herrn König sprechen. Ich rede überhaupt nicht gern davon, weil ich ihn gar so sehr liebe und verehre, weißt Du, wie einen Heiligen. Aber Dir sag' ich gern alles. Da schau, das Medaillon und Kettlein hab' ich von ihm; es ist mein größtes Kleinod – da, hier ist sein Bild drinnen – und so hab' ich ihn gesehen in seinem Schloß Hohenschwangau und hab' mit ihm und dem Sepperl zusammen gespeist, und der Sepperl hat eine Uhr bekommen!«

Und nun erzählte sie in atemloser Hast alles, was sie vom König wußte und wie oft sie ihm begegnet sei, und daß er sie sein Waldvöglein, seinen Sonnenschein genannt und für ihre Zukunft sorgen wolle.

Alles sprach sie vom Herzen und in der Erinnerung an ihren geliebten, königlichen Herrn und Wohltäter strahlten ihre Augen und glühten ihre Wangen.

Margarete lauschte der beredten Schilderung. Das klang alles wie ein Märchen und trug doch den Stempel lautester Wahrheit.

Als Walpurga zu Ende war mit ihrer Erzählung, da legte Margarete ihren Arm um sie und sagte lächelnd:

»Kleine Walpurga, wenn Du das alles den anderen erzählt hättest, dann hätten sie Dich wohl anders aufgenommen. Des Königs Sonnenscheinchen hätte sich damit mehr Geltung verschaffen können, als mit ihren zornigen Fäustchen. Was meinst Du wohl, wie sie Dir dies Kettlein mit des Königs Bild neiden würden, wenn sie alles wüßten!«

Walpurga warf trotzig den Kopf zurück.

»Ich werde es ihnen aber nie sagen. Viel zu lieb hab' ich den König, als daß ich von ihm mit diesen bösen Menschen sprechen möchte. Aber nun sag', Margarete, willst Du wirklich nicht mit mir kommen? Ach, Du solltest sehen, wie herrlich es bei uns im Walde ist, auch jetzt.

Unserem lieben, guten König gefällt es d'rum so gut bei uns. Und jetzt zur Winterszeit, da kommt das Wild, Hirsche und Rehe und all die anderen Tiere bis dicht an unser Häuschen. Weil dicht dabei ein Futterplatz ist, wo ihnen der Vater Nahrung streut.

Da ist mal ein Reh ganz dicht an mich herangekommen und hat mir aus der Hand das Futter genommen.

Und im Schlitten können wir fahren den abfallenden Weg hinab, soweit wir wollen. Mutterl legt Bratäpfel in den Ofen, und wenn wir heimkommen, sind sie gar und heiß und wir wärmen uns die Hände dran. Mein kleines, liebes Tonerl, Du, die ist gar lieb und drollig Und über den Sepperl, da kannst Du Dich totlachen. Soviel Spaß macht der oft.

Gelt, Du gehst mit mir. Wenn es auch schlicht und einfach bei uns ist, lieb wollen wir Dich alle haben und – und ich könnte Dir doch endlich auch einmal zeigen, wie dankbar ich Dir bin, daß Du immer so gut und lieb zu mir gewesen bist. Ja, geh' mit?«

So bettelte Walpurga in ihrer herzigen, warmen Art, daß es Margarete sehr schwer wurde, abzulehnen. Sie seufzte tief auf, schüttelte den Kopf und sagte:

»Es geht leider nicht, Walpurga, so verlockend das auch alles klingt. Deine Schilderung macht es mir wirklich schwer, nein zu sagen. Lieber als mit den anderen ginge ich mit Dir. Aber für diesmal ist es nun zu spät. Ich müßte ja erst bei meinem Oheim anfragen, ob er es erlaubt. Ohne seine Erlaubnis würde mir Frau Doktor nicht gestatten, das Haus zu verlassen. Aber vielen Dank, Du liebes Sonnenscheinchen. Und vielleicht nehme ich Dich später einmal beim Wort und komme einmal mit ins Försterhäuschen und schlafe in dem Giebelstübchen, wo der König geschlafen hat!«

Walpurga nickte lebhaft.

»Ja, das tue nur. Weißt Du, im Sommer, da ist es auch wunder-, wunderschön bei uns daheim. Wenn alles im Walde grünt und blüht, wenn die Vögel singen, wenn die goldene Sonne durch die Zweige scheint, wenn die Walderdbeeren blühen und reifen, ach, herrlich ist es da in meiner schönen Heimat.

Drum kommt der liebe Herr König so oft zu uns, es gefällt ihm gar gut. Und wenn er so viel traurig ist, dann zeig' ich ihm die liebe Sonne, die über den Bergen steht, so daß Du meinst, sie glühen, und dann sagt der liebe König leise zu mir:

»Sonnenscheinchen, kleiner Sorgenbrecher, wie schön ist es hier, wie friedlich! Plaudere nur weiter, Waldvöglein!«

Ganz weltvergessen, in holde Erinnerung versunken, hatte Walpurga das mit leuchtenden Augen vor sich hingesagt.

Margarete schaute sie ergriffen an.

»Kleine Walpurga, Du sprichst ja wie eine kleine Dichterin. Und wie Deine Augen glänzen, wie lieb Du aussiehst. Ja, ich glaube es schon, daß Dir auch ein König gern zuhören mag!« sagte sie innig.

Walpurga wurde rot und verlegen.

»Geh', Du willst Dich gewiß ein wenig lustig machen über mich!« sagte sie leise.

»Nein, Walpurga, ganz gewiß nicht. Aber ich hab' Dich lieb, sehr lieb, glaub' es mir!« rief Margarete herzlich.

»O, ich Dich auch, ich Dich auch!« sagte Walpurga, die Freundin herzlich umarmend.

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