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IX.

Wir reihen hier noch weitere einzelne Bemerkungen an zur Erläuterung der Komposition bei Rubens überhaupt und der Bewegung insbesondere, soweit dieselbe für ihn vorzüglich bezeichnend ist.

Sind die figurenreichen Bilder des Rubens »überladen« zu nennen? Schon Aufgabe und Inhalt konnten eine große Anzahl von Anwesenden verlangen oder wenigstens veranlassen – hätte er nun die Aufgabe ablehnen sollen? Er fürchtete ja nichts, und gewiß hat er oft das Thema selber geschaffen und vorgeschlagen. Die Überladung in der Malerei liegt aber meist an ganz anderen Dingen, mit welchen Rubens nichts zu schaffen hat. Zunächst hat es begabte Maler gegeben, die in der Anordnung unglücklich waren und schon mit vier, fünf Figuren überladen erscheinen, wo ein anderer mit der dreifachen Zahl leicht und richtig wirkt; sodann aber, und namentlich bei den Manieristen von Italien und Niederland, wurden die Bilder wirklich überfüllt, durch Zutat von Figuren, besonders Köpfen, die mit dem dargestellten Moment nicht notwendig oder auch gar nicht verbunden, den Malern aber irgendwie von Wert waren. Hier wußte nun Rubens entschieden, daß, was dem Moment nicht unmittelbar zuträglich ist, ihm schadet, und alle seine Gestalten leben irgendwie im Momente mit und der Moment mit ihnen. Sie können sich alle im Raum bewegen und bewegen sich auch in der Tat, und dann wirken sie ja noch durch Licht und Farbe zusammen, und schon der wahre Kolorismus gebietet Einhalt gegen das zu Viele. Rubens ist schon deshalb ein Feind der Überfüllung, weil dieselbe dem zarten Leben seiner malerischen sowohl als moralischen Äquivalentien nur hätte schaden können; ferner besaß er und gönnte er auch dem Beschauer ein deutliches Gefühl des dargestellten Raumes und ein reichliches Maß mit dargestellter Luft und stimmte in letzterer Beziehung eher mit Paolo Veronese überein als mit Tintoretto und den Manieristen, deren Bildergründe bisweilen völlig mit Figuren und Gesichtern zugemauert sind. Ferner läßt sich aus solchen Fällen, da wir einen früheren und einen späteren Zustand einer Komposition noch vor uns sehen, direkt nachweisen, daß Rubens vereinfacht und auf einzelnes wie auf ganze Partien verzichtet hat im Sinne einer höheren Wirkung. Wo Stich und ausgeführtes Gemälde gegeneinander stehen, wie in dem obenangeführten, so sprechenden Beispiele der Auferweckung des Lazarus, ist dies beinahe die Regel; für denselben Unterschied zwischen einer früheren und einer späteren gemalten Ausführung ist ganz besonders überzeugend das schon erwähnte »Urteil des Paris« in den Exemplaren von Dresden (um 1625) und von London (um 1636, National Gallery). In diesem letzteren, dem eigenhändig und wunderbar ausgeführten, sind zum großen Gewinn der Wirkung zwei Putten weggelassen. Sodann wird dem Meister bei großen, für hohe Aufstellung und Fernwirkung bestimmten Altarbildern ein besonderes Gesetz zugestanden werden müssen: er füllt seinen Raum stark an, aber mit wenigen Figuren von großem Maßstab und mächtigem Charakter unter starkem Lichteinfall. Nicht für das Museum von Antwerpen, sondern für den Hochaltar der dortigen Barfüßer hat Rubens im Auftrag des Bürgermeisters Rocox jenes in seiner Art einzige Golgatha geschaffen, das unter dem Namen Le coup de lance berühmt ist. Die drei Kreuze in der Diagonale kommen schon früher, u. a. bei Tintoretto, vor; dazu die neun lebenden Figuren: rechts Maria mit Johannes und einer Begleiterin und ein Scherge auf einer Leiter am Kreuz des bösen Schachers; links in vollem Schatten zwei Reiter, deren einer die Lanze in die Seite des Gekreuzigten stößt; weiter zurück das auf zwei Teilfiguren beschränkte »Volk«; in der Mitte aber, unter dem Kreuz in die Knie sinkend, in edler blonder Schönheit Magdalena, die unwillkürlich und wundersam unzweckmäßig die Arme gegen den Streiter mit der Lanze erhebt; das volle Licht aber ruht, abgesehen von der Christusleiche, fast nur auf ihr. Hat man aus der ganzen übrigen hohen Kunst eine andere Magdalena am Kreuze dieser entgegenzusetzen? Irgendeine große Historie in der Mitte durch ein schönes weibliches Wesen wohlgefällig zu unterbrechen, hatten allerdings z. B. die Venezianer längst verstanden, und Tizians Ecce homo (Galerie von Wien) war damit nur noch frivoler geworden. Zu diesen großfigurigen, für Altäre bestimmten Hochbildern gehören bei Rubens auch diejenigen Anbetungen der Könige, wo er vorn mit einer tiefliegenden Räumlichkeit beginnt, aus welcher rückwärts ein Aufstieg hinausführt für das Gefolge und nachdrängende Zuschauer, denn diese Szene vertrug nach ihren ungeheuren Präzedentien keine Vereinfachung mehr, wohl aber eine gesteigerte Mächtigkeit in den Gestalten des Hauptherganges. Das Bild des Museums von Brüssel, gemalt für den Hochaltar der Kapuziner von Tournay, hat die liebenswürdigeren Züge, den schöneren Ausdruck für sich, dasjenige des Museums von Antwerpen dagegen, gemalt 1624 für den Hochaltar der Abtei Sankt Michel, eine dramatische Entwicklung und Lichtverteilung, einen gewaltigen Aufbau und eine kecke Fernwirkung ohnegleichen; die Mitte des Bildes, etwas nach oben, nehmen die nach dem Kinde gerichteten Augen des Mohrenkönigs ein; Maria, rechts stehend mit dem Kinde, prachtvoll isoliert, wiegt ideal den ganzen (für den Blick zusammengeschobenen) Halbkreis von acht Stehenden und Knienden und zwei Reitern auf; hinten gegen die Luft Kamele und Gefolge. (Weitere Anbetungen als Hochbilder: Louvre, Ermitage und St. Jean in Mecheln.) Wer diese Werke nun überfüllt finden sollte, möge sagen, welche Figuren als entbehrlich zu kassieren wären.


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