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Während Fritz angeblich tingierte, in Wahrheit völlig abwesenden Geistes mit seinen Tiegeln herumhantierte, stürmten in seinem Hirn die Gedanken und Vermutungen wild durcheinander. Der Fremde, der ihn erwarten sollte, kam vom König oder schien wenigstens von ihm zu kommen, – aber wer konnte Gewisses sagen? Wenn alles eine Falle wäre? Wenn der König ihn auf irgend eine Probe stellen wollte, deren Zweck ihm, Fritz, verborgen blieb? Oder wenn der Fremde nicht vom Polen-, sondern vom Preußenkönig käme und ihn gewaltsam und heimlich entführen wollte? Oder wenn er ein Verbrecher wäre, der versuchte, sich durch Mord in den Besitz des Arkanums zu setzen, an das sie alle glaubten? Diesen Gedanken verwarf er aber bald wieder, denn der Fremde war nach Haltung, Kleidung und Sprache ein Edelmann und also doch wohl Abgesandter eines Königs … Aber wenn er ein Vertrauter Augusts war, was hatte er dann so geheim zu melden, daß nicht einmal der Statthalter es wissen sollte? Und wenn er vom Preußenkönig kam, woher hatte er dann den Schlüssel zum Geheimgang? Fritz wälzte all diese Fragen hin und her und fand keine rechte Antwort. Schließlich tröstete er sich: »Über ein Weilchen werde ich es erfahren. Aber wenn Heimtücke oder Verrat im Spiele sind, sollen sie mich kennen lernen! Ich setze mich zur Wehr auf Leben und Tod!«
Als die festgesetzte Stunde sich näherte, schlug Fritz einen weiten, dunklen Mantel um und nahm ein paar Pistolen zur Hand, die ihm der Statthalter einmal geschenkt hatte, damit er bei einem plötzlichen Überfall nicht waffenlos sei. Wie auf Katzenpfoten schlich er nach dem schwarzen Gang, den er bereits aufgeschlossen fand. Alsbald erschien auch der Fremde, der, weniger vorsichtig als Fritz, einen roten Mantel mit prächtiger Stickerei umgenommen hatte. Dieser reichbestickte, weite Mantel erweckte Fritzens Argwohn, denn gar leicht konnte sich unter ihm ein Degen bergen. Der Fremde jedoch, der Fritz den Verdacht wohl vom Gesicht abgelesen hatte, schlug sofort den Mantel weit auseinander: »Ihr habt nichts zu fürchten! Und hier meine Beglaubigung!«
Er reichte Fritz eine kleine Tasche aus scharlachfarbener Seide, und Fritz gewahrte zu seinem Staunen, daß sich darin ein an ihn gerichteter, mit dem Geheimsiegel des Königs verschlossener Brief befand. Als Fritz ihn mit bebenden Fingern geöffnet hatte, las er als Eingangszeilen:
»Der Überbringer dieses Schreibens, mein allzeit getreu erprobter Diener, Herr von Sternfeld, übermittelt Euch meine Wünsche, denen unverzüglich Folge zu leisten ist.«
Vor Fritzens Augen begann es zu flimmern. Noch ehe er weiter gelesen hatte, sprach Sternfeld: »Seit dem schweren Sturz, den Seine Majestät getan hat, beschäftigt er sich öfter als früher mit der Möglichkeit seines plötzlichen Ablebens, und mit dem, was dann mit allem und allen geschehen soll, darüber er jetzt schützend die Hände hält! Besonders ist er in Sorge, daß Euer Arkanum in die Hände seines Thronfolgers komme und nicht von anderen ihm vorenthalten und mißbraucht werde, und darum – – Doch alles andere lest Ihr besser aus dem königlichen Schreiben!«
Fritz wurde blaß; er ahnte nichts Gutes. Doch was in dem Briefe stand, übertraf seine schlimmsten Erwartungen. Der König verlangte nämlich rundweg, daß Fritz sich in Begleitung Sternfelds unverzüglich auf den Weg nach Polen machen und vor dem König sein Arkanum offenbaren und dessen Wirksamkeit durch eine Probe belegen sollte. Während Fritz noch auf das Papier starrte, sagte Sternfeld flüsternd: »Seine Majestät weiß vor Geldmangel nicht mehr aus noch ein! Man muß, sofern nicht schleunige Hilfe kommt, daran denken, ganze Regimenter aufzulösen, weil kein Sold für die Truppen da ist! Ja, nicht einmal die Beamten und die persönliche Bedienung Seiner Majestät kann bezahlt werden! Alle Hoffnung ruht auf Euch! Man hat auch im festen Vertrauen auf Euch schon angekündigt, daß eine Goldsendung aus Moskau ankommen wird, denn man hat natürlich kein Interesse daran, von Euch und Eurer Kunst wissen zu lassen!«
Fritz nickte mechanisch. Stürmisch kreisten seine Gedanken. Vor den König konnte er nicht treten – niemals! Aber andere Aussichten taten sich vor ihm auf, und darum mußte er trotz seiner Bestürzung insgeheim lächeln, als Sternfeld jetzt fortfuhr:
»Sobald Ihr dem König zunutzen seines Sohnes das Geheimnis des Arkanums enthüllt und die verlangte Probe abgelegt habt, schenkt der König Euch die Freiheit, und Ihr mögt gehen, wohin Euch beliebt!«
Er dachte: »Das werde ich wohl tun! Die Gelegenheit, die sich mir heute bietet, werde ich nicht ungenutzt lassen!«
Und als Sternfeld fragte, ob er zur Reise bereit sei, antwortete er in ehrfürchtigem Tone: »Auf eines großen Königs Willen hin ziemt es sich, allzeit bereit zu sein!«
Sternfeld war über diese bedingungslose Bereitwilligkeit sehr erfreut, denn sie schien ihm zu beweisen, daß Fritz seiner Sache ganz sicher war. Man verabredete nun die Stunde, in der nächtens am Pirnaischen Tor gesattelte Pferde bereit stehen sollten, und Sternfeld war beinahe gerührt, als Fritz erklärte, daß er nur die für die Probe notwendigen Dinge mitnehmen wolle, im übrigen aber reise, wie er gehe und stehe. Mit dem Wort »Auf Wiedersehen«, das Fritz abermals heimlich lächeln machte, trennten sich die beiden.
Es war der 24. Juni 1703.
Tiefschwarze Nacht. Ungeduldig scharren am Pirnaischen Tor die Rosse, die Sternfeld bestellt hat. Immer wieder lugt sein Diener ins Dunkel hinein, ob denn der Herr noch nicht komme, der den Hut unter dem Arm und das Schnupftuch in der Hand trägt. Nur diesen darf er aufsitzen lassen, keinen anderen. Aber da kann er noch so sehr lugen und warten – dieser Herr wird niemals kommen, denn er rast schon gerade in entgegengesetzter Richtung der böhmischen Grenze zu. Mit Gold aus seinem Laboratorium hatte er einen Boten bestochen, der ihm bei einem befreundeten Postmeister Pferde bestellt hatte, und nun ging es durch die Nacht dahin, auf Wegen, die er nicht kannte, deren er nicht achtete, denn wohin immer sie laufen mochten – sie führten in die Freiheit. Wie ein Berauschter trank Fritz die laue Nachtluft, dachte nichts, überlegte nichts, fürchtete nichts. In seinem Kopfe brauste es wie ein mächtiger Choral: »Ich bin frei, ich bin frei, ich bin frei!«
Hindernisse über Hindernisse türmen sich. Postmeister können da und dort die Pferde nicht wechseln, so daß der Flüchtling die Wahl hat, entweder liegen zu bleiben oder mit erschöpften Gäulen weiter zu reiten. Postillione weigern sich, auf gefährlichen Wegen Nachtfahrten zu unternehmen, – es gibt Nachtlager, die von Ungeziefer wimmeln, Schenkengenossen, denen man besser niemals den Rücken wendet, weil man sonst leicht ein Messer zwischen die Rippen bekommt, Mahlzeiten, die nahezu ungenießbar sind, weil das Fleisch in Baumöl gesotten ist … Tage und Nächte ist Fritz nun schon unterwegs und er atmet auf, als er endlich Wien erreicht, wo er halbtot vor Hunger und Übermüdung eintrifft und zum ersten Male wieder ordentlich ausschläft. Und von da geht es weiter nach Enns, und von da – ja, wo es dann hingeht, weiß er selber noch nicht, kommt ihm zu wissen auch gar nicht so wichtig vor, denn nun ist er schon weit weg von Sachsen, und da sie ihn bis zur Stunde nicht erwischt haben, werden sie ihn überhaupt nicht mehr erwischen. Er gibt sich völlig dem Gefühl der Sicherheit hin und seine Gedanken stimmen heller und jauchzender den Choral an: »Ich bin frei, ich bin frei, ich bin frei!«
Sorglos und behaglich sitzt er zu Enns im Gastzimmer des kleinen Gasthauses am zwölften Tage seiner Flucht und harrt des Pferdewechsels. Er hat einen Krug Landwein vor sich stehen, lacht in sich hinein und trinkt mit dem gemurmelten Spruch: »Mir und meiner Freiheit« sich selber zu. Dann wirft er seinen Mantel über die Achsel, nimmt sein Ränzel zur Hand und schickt sich an, noch einen Rundgang durchs Städtchen zu machen, bis die Fahrt weiter gehen kann. Just in diesem Augenblick tritt der Postmeister an seinen Tisch und beginnt ein Gespräch, dem Fritz nicht ausweichen kann, sofern er nicht unhöflich sein will. Zu seinem Unbehagen merkt er aber, daß sich das bis jetzt leere Gastzimmer mit Menschen füllt und zwar mit Männern, die eine merkwürdig wichtigtuerische Miene zur Schau tragen. Ihm wird unheimlich zu mute! Wenn doch endlich der Postillion käme und meldete, daß die Fahrt weiter gehen kann! Mit einem Male aber bleibt ihm fast das Herz stille stehen vor Überraschung und Schrecken. Zwei Herren sind eingetreten, die er sofort als zwei sächsische Herrn aus der Umgebung des Statthalters erkennt. Alles ist entdeckt, alles ist verloren!
Unter strengster Bewachung wird Fritz nach Dresden zurückgebracht, und er dachte nicht anders, als daß es um ihn geschehen sei … Vielleicht trat nun ein, was sein Vater so oft gesagt hatte: »Wer betrügt, kommt an den Galgen!« Vielleicht ließ ihn der König zum Tod verurteilen, oder ewige Haft auf der Festung Königstein erwartete ihn. Auf Königstein saß gar mancher, der zuvor hoch in der Majestät Gunst gestanden hatte! Fritz war kaum fähig, nachzudenken. Er war wie ein Mensch, der einen betäubenden Schlag auf den Kopf bekommen hat. So nahe war er der Freiheit gewesen und nun mußte er wieder zurück in die alte Sklaverei und zu dem Begehren, das er doch nicht stillen konnte, zu dem Begehren nach Gold … Lag es nur außerhalb seiner Kraft, dies Begehren zu stillen? Lag es nicht vielleicht außerhalb der Grenzen, die der menschlichen Fähigkeit gezogen sind? Er erschrak, da er diesen Gedanken dachte. Wie Sünde gegen das Andenken des Vaters kam er ihm vor und wie Sünde gegen sich selber. Wenn er nicht mehr an sich glaubte – was sollte dann aus ihm werden? Nur der Glaube an seine Sendung hatte ihn in all der Zeit der Trübsal aufrecht gehalten – was blieb ihm, wenn dieser Glaube versagte? Dann war er unwiderruflich für alle Zeit ein Schwindler, ein Betrüger, und der Galgen würde wohl nicht auf sich warten lassen.
Eins aber erstaunte und beruhigte ihn ein wenig: seinem Fluchtversuch folgte nicht die strenge Strafe, mit der er gerechnet hatte. Selbstverständlich hatte er sich aufs Leugnen und Bemänteln gelegt, hatte behauptet, daß er auf dem Wege nach Polen gewesen sei, den er nur deshalb allein eingeschlagen habe, weil er Sternfeld am Pirnaer Tor verfehlt hätte, und obwohl es auf der Hand lag, daß niemand diesen durchsichtigen Ausreden glaubte, so war es doch ein stillschweigendes Übereinkommen aller, diese Angelegenheit nicht aufzubauschen, sondern bloß als eine Ungehörigkeit zu behandeln, die allerdings nicht mehr vorkommen durfte. Fritz wurde also zunächst noch strenger bewacht als zuvor, kam auch für eine Weile von Dresden fort nach Meißen, auf die Albrechtsburg, aber lange war dort seines Bleibens nicht, denn schon wieder griffen die großen politischen Ereignisse in sein Leben ein.
Gleich nach seiner Rückkehr von der mißglückten Flucht kam Tschirnhaus zu ihm. Er verlor kein Wort über das, was vorgefallen war, aber er sah Fritz lange mit einem Blick an, der diesen verwirrt machte, denn er verstand gut, was dieser Blick fragte: »Wenn du deiner Sache sicher bist – warum hast du versucht zu fliehen? Und wenn du weißt, daß du mehr versprochen hast, als du halten kannst, warum offenbarst du dich nicht?«
Vor diesem Blick schlug Fritz die Augen nieder und einen Augenblick lang hatte er den ungestümen Wunsch, sich diesem Manne zu Füßen zu werfen und ihm zu beichten. In dieser Minute war's ihm auch, als sähe er das Antlitz seines Vaters, das sich ihm zum ersten Male wieder zuwandte. Schon öffnete er die Lippen, um sich Tschirnhaus zu erschließen, – da war aber wieder die falsche Scham und die Eitelkeit, und er schwieg. Enttäuschung malte sich in Tschirnhaus' Gesicht. Er seufzte und sagte: »Wir gehen schweren Zeiten entgegen – die Schweden bedrohen uns von Schlesien her. Wer kann sagen, ob sie nicht bald in Sachsen einfallen und alle Greuel wieder aufleben lassen, die unsere Väter und Großväter im Dreißigjährigen Krieg erlebt haben!«
Ansicht des Schlosses Albrechtsburg in Meißen.
Nach einem Kupferstich von Alexander Thiele, 1726.
Fritz schwieg. In ihm schrie es wieder: »Freiheit, o süße Freiheit!« Wenn die Schweden wirklich kamen, würde die allgemeine Verwirrung vielleicht so groß sein, daß es ihm diesmal gelang, zu entwischen! Versuchen wollte er es jedenfalls, und im Erwägen und Ausdenken aller Möglichkeiten schwanden auch die Grübeleien und selbstquälerischen Betrachtungen. Doch ehe er noch einen Plan auch nur in äußeren Umrissen festlegen konnte, war sein Schicksal für die nächste Zeit schon entschieden. Die Schweden waren eingebrochen, fluchtartig hatte August Polen verlassen, dessen Kronrecht die Polen ihm jetzt absprachen, so daß er zermartert von Sorgen und Bitterkeit aller Art in Dresden saß, während die Bevölkerung in wilder Flucht davonstob, denn jeder hatte noch von einem greisen Angehörigen Schauergeschichten über die Schwedengreuel gehört. In fliegender Eile brachte man die Kronjuwelen und das Staatsarchiv nach dem Königstein. Doch außer dem Archiv und den funkelnden Kleinodien besaß Dresden noch einen Schatz, den der Schwedenkönig um keinen Preis erobern und entführen sollte. Dieser Schatz war kein wichtiges Pergament und kein edles Metall, sondern ein lebendiger Mensch namens Fritz Böttger. Ihn, den Goldmacher, vor den Schweden zu verbergen war eine der großen Angelegenheiten der sächsischen Regierung, und so erschien denn eines Nachts unvermutet Tschirnhaus bei Fritz und bedeutete ihm, daß er ihm folgen müsse. Ein königlicher Wagen, umringt von einem starken Dragonerkommando erwartete ihn, und unter Befehl des Dragonerobersten ging es dahin durch die Nacht, einem unbekannten Ziele entgegen.
Auf dem Königstein aber traf bald darauf ein junger Mann ein, dessen Namen keiner kannte, und der allgemein nur der »Herr mit den drei Dienern« genannt wurde. Denn drei Arbeiter aus dem Laboratorium hatte man Fritz mitgegeben, damit er auch auf Königstein nicht am Arbeiten behindert sei. Tschirnhaus versiegelte derweil mit des Königs eigenem Petschaft das Meißener Laboratorium und wies den Meißener Magistrat an, zu verbreiten, daß Fritz nach Böhmen entflohen sei. Grimmig lächelnd sagte er: »Dann mögen die schwedischen Herrn ihm nach Böhmen nachlaufen!« Und in Gedanken setzte er hinzu: »Das Gold, das er macht, gönne ich ihnen von Herzen, aber ihn selber muß mein Herr behalten, denn trotz allem, was ich ihm vorzuwerfen habe, – er ist ein tüchtiger Junge, und wenn ich ihn erst so weit habe, wie ich will und wie er kommen wird, – dann müßte es nicht mit rechten Dingen zugehen, wenn wir, er und ich, nicht fertig brächten, wonach mich mein Lebelang gelüstet!«
Indes Tschirnhaus nach seiner Art den Meißener Magistrat für den Schwedenbesuch vorbereitete, ging Fritz auf dem Königstein neuen, schweren Prüfungen entgegen.