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9.
Ein rätselhafter Bote

Peinige Tage lang war Fritz wie verzweifelt, aber auch diese Tage gingen vorbei und die Verzweiflung wich neuer Hoffnung und Zuversicht. Mochte auch der König den Tag der Befreiung immer weiter hinausschieben – sobald die erste Unze Gold im Tiegel schimmerte, brach der ersehnte Morgen an. Schon war Fritz wieder voll Glauben an sich, bestärkt durch Tschirnhaus' Worte, die ihm prophezeiten, was ihm schon oft prophezeit worden war. Und da wollte er, er allein an sich und seiner Sendung zweifeln?! »Schäme dich!« sagte er zu sich, »die anderen glauben an dich und da willst du allein der ungläubige Thomas sein?! Du entehrst das Andenken deines Vaters, wenn du an dir zweifelst, denn er hat dir noch auf dem Totenbett verheißen, daß du reicher sein wirft als Könige.«

Ja, aber hatte der Vater nicht auch gesagt, daß mau zu dem großen Werke ein reines Herz haben müsse? Und hatte nicht auch Tschirnhaus, der dem Toten so seltsam ähnlich war, gesagt: »Bleiben Sie ein ehrlicher Mensch!«

Aber daneben erklangen wieder Sievers leichtfertige Worte, und Fritz, im Widerstreit seiner Empfindungen nahm sich vor, allen gerecht zu werden. Mit neuem Eifer wollte er jetzt daran gehen, in Wahrheit zu verwandeln, was zuerst nur Betrug gewesen, und wenn es Wahrheit geworden, dann, so meinte er, sei ja von Betrug nicht mehr die Rede, sondern alles sei nur Aufschub gewesen, von dem niemand zu wissen brauchte. Niemand? Nein, einem würde er sich einmal offenbaren: Tschirnhaus. Der hatte es ihm angetan, zu ihm hegte er kindliches Vertrauen, und wenn er sich auch mit Scheingründen darüber wegbrachte, daß er die anderen betrog, – diesem Manne gegenüber kam er sich klein und erbärmlich vor.

Nach einiger Zeit verfügte Fürstenberg, daß Fritz wieder ins Goldhaus zurückkehren sollte, und Fritz ging gerne, denn er hatte Sehnsucht nach seiner Arbeit. Nun da seine geistige Verfassung besser geworden war, kam ihm erst zum Bewußtsein, daß es wirklich eine Freude sein mußte, im Goldhaus zu arbeiten. Jeder große Alchimist konnte ihn um die Einrichtung seines Laboratoriums beneiden, das so reich mit allem Nötigen versehen war, wie eben nur eine Arbeitsstätte ist, in der Fürsten sich versucht haben. Und ein halbes Dutzend Arbeiter hatte man ihm als Gehilfen beigegeben, die alle grobe oder mechanische Arbeit tun mußten, so daß er nur wie ein Meister zu walten hatte. Da konnte er nun tingieren und Versuche anstellen nach Herzenslust und seine Arkana verschwenderisch mit Goldtropfen aufmuntern, denn wenn die königlichen Kassen auch leer waren – für einen Goldmacher blieb immer noch genug übrig, denn was man ihm gab, würde er ja verzehnfacht, verhundertfacht zurückerstatten.

Das allerschönste aber war, daß auch Tschirnhaus öfter zu Besuch in dies erlesene Laboratorium kam, teils seiner reichhaltigen Einrichtung wegen, teils weil es ihn interessierte, mit Fritz gemeinsame Versuche anzustellen, bei denen sich Tschirnhaus freilich etwas anderes dachte als Fritz. Doch wenn sich Tschirnhaus auch mehr und mehr von der Alchimie ab und den reinen Wissenschaften zugewandt hatte, so war er mit ihr und dem Glauben an den Stein der Weisen doch noch nicht so ganz fertig, wie Fürstenberg meinte, und wie er sich gerne den Anschein gab. Denn auch der klügste Mensch bleibt immer ein Kind seiner Zeit, und der Glaube an die Verwandlungsfähigkeit der Metalle saß den Menschen zu tief im Blut, als daß sie ihn so schnell verloren hätten.

Weil dieser Glaube so fest saß, wurde man auch an Fritz nicht irre, obwohl er bis zur Stunde nichts geleistet hatte, was das in ihn gesetzte Vertrauen gerechtfertigt hätte. Und wie der König und dessen ganze Umgebung, so glaubten auch die einfachen Leute, die breite Masse des Volkes, an ihn, wenngleich sie nur durch unbestimmte Gerüchte von seinem Dasein und seiner angeblichen Kunst wußten. Sie glaubten um so lieber, weil so großes Geheimnis um ihn gemacht wurde, weil niemand außer den Eingeweihten genau wußte, wo er untergebracht war, so daß bald diese, bald jene Stadt als sein Aufenthaltsort bezeichnet wurde, sofern nicht just Schauergerüchte umliefen, daß er klaftertief unter der Erde gefangen säße. Die Regierung freute sich, wenn sie solche Mären vernahm, Tat nichts, um sie zu zerstreuen. Die Angst vor preußischen Spionen und Entführern war so groß, daß Fritzens Namen nur im eingeweihten Kreise genannt werden durfte und auch da nur, wenn es unbedingt nötig war. Im allgemeinen hieß er für sie alle »Der Mann von Wittenberg« oder »Monsieur Schrader« oder man hing ihm einen andern erfundenen Namen an. Selbst der König nannte ihn in seinen Briefen niemals »Böttger«.

Zu Anfang fand Fritz diese Gepflogenheit drollig und es schmeichelte seiner Eitelkeit, daß er nun gleich einem Fürsten ein Inkognito hatte, bald aber kam er sich beraubt vor, weil man ihm nicht mehr gönnte, was doch Eigentum jedes Bettlers ist: den ehrlichen Vatersnamen. Doch über alles half ihm zunächst die Arbeit hinweg, die nun nötiger war als je, denn die Lage Sachsens gestaltete sich überaus schwierig.

Am 20. Juli 1702 hatte August die Unglücksschlacht von Klissau gegen Karl XII. von Schweden verloren, hatte, obwohl er mit dreißigtausend Sachsen und Polen gegen nur achtzehntausend Schweden gestanden war, seine gesamte Artillerie, das ganze Lager mit der Kriegskasse, über viertausend Tote und gegen fünfzehnhundert Gefangene eingebüßt, und befand sich demgemäß in so verzweifelten Geldnöten, daß er die Stadt Krakau um ein Darlehen von fünf- bis sechstausend Talern anflehte.

Die Stadt Krakau jedoch, die schon ahnen mochte, was die verräterischen Woiwoden planten, versagte ihrem Könige den Kredit. Nun ruhte fester denn je alle Hoffnung auf Fritzens Laboratorium, und sowohl der Statthalter wie der König schrieben herzbewegende Briefe an »Monsieur Schrader«, besonders Fürstenberg, der nach dem Willen des Königs und mehr noch der Ereignisse, Friedensfühler nach Schweden hin ausgestreckt hatte, um sie alsbald wieder zurückzuziehen, »denn der unerschütterliche Karl will von keinem Frieden wissen und gibt deshalb auf alle Vorschläge nur schimpfliche Antworten. Man muß sich also zur Fortsetzung des Krieges rüsten, und doch fehlt es an Mitteln dazu, deren Herbeischaffung der König bis jetzt, im Vertrauen auf Euch, unterlassen hat. Gott allein muß unser Beistand sein und gebe, daß Ihr sein glückliches Instrument seid, – denn sonst weiß ich uns keinen Rat.« Und August, der neben seiner königlichen Würde oft etwas Herzgewinnend-Kindliches hatte, schloß seine Januarbriefe fast immer mit der Bitte: »Bleibt Ihr für mich, was ich für Euch bin!«

Jedesmal wenn solch ein Schreiben eintraf, war Fritz verstört, nicht um des eigenen Loses willen, sondern weil ihm das Unglück des Königs ans Herz griff, und weil ihn dann das unverdiente Vertrauen, das er genoß, so schwer bedrückte, daß er sich am liebsten auf die Kniee geworfen und gerufen hätte: »Verhängt über mich, was ihr wollt, keine Strafe kann mich schrecken, denn keine kann härter sein als Vertrauen zu empfangen, das man mißbraucht, das ich durch eine unselige Verkettung mißbrauchen muß …« Was hätte auch jetzt ein Geständnis genützt?! Es hätte den König völlig mutlos gemacht, ihn selber ins Verderben gestürzt und jede Hoffnung auf ein späteres Gelingen für immer zerstört. Nein, jetzt mußte er den Weg weiter verfolgen, den er zu seinem Unheil eingeschlagen hatte, – das einzige, was er tun konnte, war, unermüdlich zu arbeiten und im Glauben nicht zu wanken.

Immer trauriger und immer dringlicher wurden die königlichen Briefe.

»Ich vertraue der Gnade Gottes, daß er mich durch Euch aus großem Kummer reißet und meinem armen Lande Erleichterung schaffen wird. Die Sachen stehen hier übel und sehe ich mir nicht zu helfen, wo es Gott nicht tut durch Eure Hilfe!«

Da gab es manche Stunde, in der Fritz auf den Knien lag und mit Gott rang: »Du mußt mir und dem König helfen! Mir ward verheißen, daß ich reicher sein sollte als Könige, und nun soll ich nicht einmal dem armen Herrn in seinem Unglück beistehen können! Hilf uns, auf daß wir beide wieder froh werden können, und mein sterbender Vater nicht durch dich Lügen gestraft wird …« Wenn er inbrünstig gebetet hatte, dann war er wieder wie im Rausch, und nichts schien ihm unmöglich. Dann ging ein Leuchten der Siegesgewißheit von ihm aus, das alle bestach, so daß ihre Hoffnungen auf baldige Erfüllung rechneten, und hinwiederum stärkte ihn dieser unerschütterliche Glaube, so daß er meinte, eine innere Stimme zu vernehmen, die ihm sagte: »Durch dich wird dem König und dem Lande Rettung werden.« Und da der König immer trostloser schrieb, und Fürstenberg immer heftiger drängte, gab er in solch gesteigertem Augenblick das Versprechen, binnen weniger Wochen dreihunderttausend Taler nach Warschau zu senden.

Als Fürstenberg, der ihm dies Versprechen abgerungen hatte, von ihm ging, kam Fritz sich selber wie ein Irrsinniger vor. Aber nun war es geschehen, und eigentlich fühlte er sich leichter als seit langer Zeit. Nun stand er vor der Entscheidung: entweder die innere Stimme hatte recht gehabt, und ein Wunder geschah, oder sie erkannten ihn als das, was er war, – und nichts erschien ihm jetzt so unerträglich, als geehrt zu werden, wo er doch Unehre und Strafe verdient hätte.

In diesen Tagen kam, wie öfters, Tschirnhaus zu ihm. Er blickte ihn lange schweigend an, und Fritz war's, als müsse er unter dem forschenden Blick dieser klaren, blauen Augen vergehen. Tschirnhaus sagte ruhig: »Du hast große Botschaft nach Warschau gehen lassen. Bist du auch imstande, dein Versprechen einzulösen?«

Er nannte Fritz »du«, weil der Junge ihn einmal demütig darum gebeten hatte.

»Gnädigster Herr,« hatte Fritz damals gesprochen, »nennen Sie mich ›du‹, wie einst in vergangener Zeit mein Vater mich genannt hat! Ich habe Zutrauen zu Ihnen und verehre Sie, wie man nur einen Vater verehren kann, und darum wäre ich glücklich, wenn Sie mir dies Zeichen Ihres Wohlwollens gewährten! Wenn Sie es tun, kann ich glauben, wieder ein glückliches Kind unter Vaters Obhut zu sein und nicht ein unglücklicher Gefangener!«

Die Tränen waren ihm gekommen, als er so bat, und Tschirnhaus war ergriffen gewesen.

»Gerne will ich wie ein Vater zu dir sein – sei du aber auch wie ein vertrauensvoller Sohn!«

An diese Worte mußte Fritz jetzt denken, da er die blauen Augen auf sich ruhen fühlte. Einen Augenblick war's ihm, als müsse er bekennen, aber dann kam wieder die Verstocktheit über ihn, wie im Märchen über das »Marienkind«, das der Gottesmutter immer wieder dieselbe Lüge sagt, und auch Scham band ihm die Zunge. So entgegnete er auf Tschirnhaus' Frage: »Mit Gottes Beistand hoffe ich zu vollenden, was ich gesagt habe!«

Tschirnhaus entgegnete nichts, sah ihn nur noch einmal lange und forschend an und machte sich an die gemeinsame Arbeit. Fritz aber fühlte sich nun doppelt gebunden, sein Wort einzulösen, und wieder umfing ihn der Rausch, der ihn über sich selbst hinaushob und ihn an ein Wunder glauben ließ, das ihm der Himmel schuldig war.

Einmal fragte ihn Tschirnhaus: »Hast du schon jemals darüber nachgedacht, ob es wirklich für die Menschheit das große Glück wäre, wenn jeder zu jeder Minute so viel Gold haben könnte, wie er gerade will?«

Fritz hatte darüber nie nachgedacht und sah auch jetzt erstaunt darein.

»Es müßte doch das größte Glück sein! Denn dann gäbe es keine Armut mehr!«

»Und kein Streben mehr und keinen Fleiß!« erwiderte Tschirnhaus ernst. »Denn wozu sollte ein Mensch noch arbeiten und streben, wenn er mit einer Handbewegung alles haben kann, was er begehrt!«

»Dann wären alle Menschen glücklich!«

Tschirnhaus schüttelte das Haupt.

»Das ist der Glaube von Toren! Auch ich habe ihn einmal geglaubt!«

Fritz sah ihn erschrocken an.

»Sie glauben es nicht mehr?«

»Ich glaube nicht mehr, daß Gold die Menschheit von Not und Elend erlösen kann!«

»Aber wenn sie nicht mehr arm sind – –«

»Wenn sie Gold nach Belieben haben, werden sie erst recht arm sein! Nein, glaube mir, nur eines erlöst die Menschheit: Arbeit und der Glaube an Großes!«

Fritz sann ein wenig nach, meinte dann schüchtern lächelnd: »Gnädiger Herr, Sie selber weigern sich, an das Große zu glauben!«

»Du irrst! Nur suche ich das Große heute auf einer anderen Fährte als du!«

»Das Arkanum?«

»Nein, die Arbeit!«

»Darf ich nicht dabei helfen?«

»Wenn du einmal reif dazu bist – heute bist du es noch nicht!«

Fritz war ein wenig beleidigt. Er – nicht reif zu etwas!! Er fand Tschirnhaus empörend und wollte ihm nun erst recht beweisen, was er zu leisten vermochte.

Doch aufregende Zwischenfälle verschiedener Art überstürzten sich und machten ihn unfähig, anderes zu denken als nur an das eigene Geschick.

Seine Mutter, aufgelöst vor Angst um den Sohn, über den auch in Magdeburg die beunruhigendsten Gerüchte umliefen, hatte sich aufgemacht und war nach Dresden gekommen, um ihren Jungen zu sehen, nach dem sie all die Zeit so große Sehnsucht getragen hatte, wie nur eine Mutter sie tragen kann. Als sie Fritzens Gefangennahme erfahren hatte, war sie zunächst schwer krank gelegen vor Kummer und Aufregung, und nun hatte sie sich nicht länger halten lassen. Vergebens hatte Tiemann ihr vorgestellt, daß die Reise nach Dresden, die sie plante, nutzlos sein würde, – sie hatte immer nur die eine Antwort gehabt: »Ich muß zu meinem Kind!«

Und nun war sie in Dresden, lief von einem Beamten zum andern, von der Türe eines hohen Herrn zur andern, – aber überall hörte sie nur Ausflüchte, überall wurde sie vertröstet, daß sie den Sohn morgen sehen dürfe oder übermorgen oder in drei Tagen. Waren diese Fristen vorüber, so begannen die Ausflüchte und Vertröstungen aufs neue, denn der Statthalter hielt sich streng an den Befehl, den Gefangenen mit niemanden sprechen zu lassen, als mit seinen Wächtern und den wenigen vom König bezeichneten Personen. Wäre August in Dresden gewesen, er hätte gewiß für die Mutter eine Ausnahme gemacht, denn er hatte ein gütiges und einsichtvolles Herz, – aber er war ferne, und Fürstenberg war bei aller äußeren Liebenswürdigkeit ein harter Mann und obendrein von der steten Angst verfolgt, daß ihm der Goldvogel entwischen könnte, was ja den Zorn des Königs auf das Haupt des Statthalters herabbeschworen hätte.

So lief denn die arme Frau in der fremden Stadt vergeblich suchend nach ihrem Kind umher, wurde immer verzweifelter, immer verbitterter, rannte laut weinend mit gerungenen Händen straßauf, straßab, und rief, als könne jeder Vorübergehende ihr helfen: »Ich will zu meinem Kinde! Man läßt mich nicht zu meinem Kinde!«

Und da sie erfahren hatte, in welchem Teil des Schlosses Fritz untergebracht war, kniete sie vor dem Tore nieder, und die Wachen wagten nicht, sie mit Gewalt zu entfernen, weil sie ihnen leid tat, und auch weil sie einen Auflauf der Menge fürchteten, die sich mitleidig um die schluchzende Frau sammelte. Andere Mütter, die ihr den Schmerz nachfühlen konnten, versprachen ihr Beistand, und Gesindel, wie es sich bei allen Gelegenheiten als Mitläufer findet, schloß sich ihnen an. Ohne daß Frau Marie in ihrem großen Leid es gewahr wurde, zog sie einen Schweif jammernder oder auch drohender Menschen hinter sich durch die Straßen, und jeder, der vorüberging, stand, schaute, und wurde erregt, von all der Erregung um ihn her.

Da ließ Fürstenberg den Schloßkommandanten rufen: »Laß Er das Weib von hier fortbringen!«

Der Kommandant, der sich seiner eigenen Mutter erinnerte, wollte schüchtern einwenden: »Verzeihen Durchlaucht, es ist die Mutter …«

Fürstenbergs Auge ruhte mit hartem Glanz und auch ein wenig spöttisch auf ihm: »Seine Mutter – mag sein. Aber nebenbei ist sie eine Spionin des Königs von Preußen, der sie hierher geschickt hat, um den Aufenthalt des Gefangenen auszuspähen und ihm zur Flucht zu helfen.«

Der Kommandant stand verwirrt vor diesem Scharfblick. Stammelte: »Ja dann … dann freilich …«

Fürstenberg sagte kurz: »Tu Er seine Pflicht! Und ohne peinliches Aufsehen zu verursachen, wenn ich bitten darf!«

Der Kommandant ging. Noch nie war ihm ein Befehl so schwer geworden. Aber wenn der Fürst sagte, daß sie eine Spionin war, mußte es wahr sein, denn der Fürst wußte alles.

Es fiel nicht schwer, Frau Marie zur Heimreise zu bewegen. Nach den großen Aufregungen versagten ihre Kräfte, und sie hatte jetzt nur den einen Wunsch: »Heim und daheim sterben!«

Fritz erfuhr von alledem erst nach ihrer Heimfahrt. Da tobte er gleich einem Besessenen, und wie Frau Marie geschrien hatte: »Ich will zu meinem Kinde!«, so schrie er unablässig: »Meine Mutter! Ich will meine Mutter sehen! Ich stürze mich zum Fenster hinaus, wenn man meine Mutter nicht zu mir läßt!«

Er tobte, brüllte, schlug alles um sich her kurz und klein, und der Kommandant, dem die schreckensbleichen Wächter Meldung von dem Zustand des Gefangenen machten, sagte: »Gut, ich nehme es auf meine Kappe! Er soll seine Mutter für eine Viertelstunde sehen, und wenn Unheil daraus entsteht, mag man meinen Kopf zur Sühne abschlagen! Ich kann den Jammer nicht länger anhören und ansehen!«

Aber als er insgeheim nach Frau Marie sandte, war sie schon abgereist.

Etliche Tage blieb Fritz in dumpfes und untätiges Brüten versunken. Er aß nicht, ging nicht ins Laboratorium und ängstigte Alle durch sein verschlossenes Wesen, das so seltsam abstach von der Wut, mit der er noch vor kurzem getobt hatte. Hätten sie seine Gedanken gewußt, so wären sie noch viel besorgter gewesen, denn er dachte jetzt nur eins: »Flucht!«

Seit sie die Mutter nicht zu ihm gelassen hatten, betrachtete er alle rundum als seine Feinde – Tschirnhaus ausgenommen. Flucht, – sobald sich irgendwie Gelegenheit bot, und wenn sie sich nicht bot, dann wollte er sie suchen! Was band ihn an Menschen, die ihm den Anblick der Mutter versagten, den man doch sogar den zum Tod Verurteilten gewährt! Das waren keine Menschen um ihn her, sondern Bestien, – und Bestien muß man entfliehen, wenn man nicht zugrunde gehen will.

In seine noch gestaltlosen Fluchtpläne hinein kam eine Nachricht, die man sich im Schlosse nur scheu zuflüsterte … Alle Gesichter waren entsetzt, keiner wollte es glauben, keiner laut sagen …

Von Warschau war Todesbotschaft eingetroffen. König August hatte bei einem unglücklichen Sturz mit dem Pferde das Genick gebrochen.

Fritz vernahm es mit widerstreitenden Gefühlen. Er hatte den König nie von Angesicht zu Angesicht gesehen, und wenn man einen Menschen nur aus seinen Briefen kennt, steht er nicht gar so lebendig vor einem da. Aber die Briefe voll Güte erweckten jetzt doch in Fritz ein Gefühl der Trauer, wenngleich er sich sagte, daß an seiner Gefangennahme eben doch August Schuld trug, wenn sie gleich einen Schutz gegen preußische Gewalt bedeutete. Aber für ihn war nicht das Wichtigste, Augusts Hinscheiden zu bedenken, sondern wie das eigene Schicksal sich jetzt gestalten mochte. Der Nachfolger des Königs war ein minderjähriger Knabe, dessen Vormund selbst erst vor wenigen Jahren aus der Vormundschaft Augusts entlassen worden, – was würden so blutjunge Herren bestimmen? Es wurde ihm nicht klar, wohl aber etwas anderes: daß sich in der Verwirrung, die der Tod des Königs mitten im Kriege nach sich ziehen mußte, eine Flucht wohl leichter bewerkstelligen lassen könnte, als wenn alles im alten Gleise blieb. Und dieser Gedanke machte ihn froh, trotz der Trauermienen, die er überall um sich her sah.

Doch bald hellten sich diese Mienen wieder auf. Die große Unglücksbotschaft bestätigte sich nicht in vollem Umfange: der König hatte allerdings einen schweren Sturz mit dem Pferde getan, war lange Zeit bewußtlos geblieben, so daß man ihn für tot gehalten hatte, aber er lebte, schien sogar schon wieder völlig erholt, und die allgemeine Verwirrung, die Fritz zur Flucht benutzen wollte, blieb aus. Dafür aber hatte er in diesen Tagen ein Erlebnis, das ihn zuerst mit tödlichem Schrecken und dann mit hoffender Freude erfüllte.

Er durfte alltäglich, begleitet von Nehmitz und einem Diener, der sich aber in Entfernung halten mußte, eine oder zwei Stunden in dem prachtvollen Garten des Schlosses spazieren gehen, und weil dieser Garten natürlich wohl verschlossen gehalten wurde und keine Möglichkeit der Entweichung bot, nahmen es Nehmitz und der Diener mit der Überwachung nicht gar so genau und ließen den Häftling wohl auch einmal durch etliche Alleen allein gehen, während sie sich auf eine Bank setzten und schwatzten. So wandelte denn Fritz an einem hellen Juninachmittag langsam unter den Feigenbäumen des Parks hin, hatte die Arme auf dem Rücken verschränkt, den Kopf ein wenig gesenkt, dachte eigentlich gar nichts, sondern sog unbewußt die Süße dieses Sommertags ein. Da plötzlich flüstert etwas neben ihm, und da er erschrocken zusammenfährt und den Kopf hebt, sieht er einen unbekannten Knaben, der ihm eilig zuraunt: »Am eisernen Gittertor steht ein Herr, der Euch sprechen muß!«

Ehe Fritz sich von seinem Staunen erholen und fragen konnte, wer der Knabe und wie er hierhergekommen sei, war dieser verschwunden.

Ohne sich zu bedenken, schritt Fritz auf das eiserne Gittertor zu. Es lag am Ende des Schloßgartens und man konnte hier vor Spähern ziemlich sicher sein. Da stand denn ein blasser, behäbiger, nicht mehr sonderlich junger Mann, dem man anmerkte, daß er von Stande war, und sagte feierlich: »Im Namen Seiner Majestät –«

Fritz verneigte sich tief, weniger vor dem Fremden, als vor dem königlichen Namen.

»Was befiehlt die königliche Majestät?« fragte er mit Herzklopfen.

»Ich habe Euch Wichtiges zu übergeben, davon bei Verlust der königlichen Gnade keine Menschenseele erfahren darf!«

Fritz sah ihn gespannt an.

»Dies ist nicht der Ort dafür. Ich muß Euch allein und am sicheren Orte sprechen.«

Fritz hob die Arme und ließ sie entmutigt wieder sinken.

»Ich bin gefangen und bewacht …«

Der Fremde besann sich ein wenig und ebenso tat Fritz.

Dann sagte der Fremde: »Ein Geheimgang verbindet Euer Laboratorium mit einem wenig bekannten Teil des Schlosses. Trefft mich heute abend auf diesem Gang!«

Fritz lächelte bitter. Er kannte diesen Geheimgang »der schwarze Gang« genannt, sehr gut, aber – –

»Er ist verschlossen, seitdem ich auf dem Schlosse untergebracht bin! Man traut mir nicht!«

Der Fremde zog einen Schlüssel. Fritz machte große Augen.

»Seine Majestät selbst hat ihn mir übergeben!«

In diesem Augenblick rief Nehmitz, dem Angst geworden war, Fritzens Namen.

Hastig wandte sich Fritz zum Gehen.

»Heute abend um neun Uhr im schwarzen Gang!«

Fritz nickte bejahend und eilte davon. Unbefangen plauderte er mit Nehmitz, der nichts gemerkt hatte. Doch nicht einen Augenblick ließ ihn die Frage mehr los, wer der Fremde wohl sei und was er wolle. In großer Spannung erwartete er den Abend. Unter dem Vorwand, daß er noch tingieren müsse, zog er sich bald in das Laboratorium zurück und sein Herz klopfte zum Zerspringen, als die Turmuhren endlich neun Schläge in die Nacht hineinsandten.

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