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Still, von sanfter Trauer und tiefer Liebe durchwoben zogen die Monate durch das Haus. Frau Marie im schwarzen Witwenkleid besorgte schweigsam alles, was der Tag an Geschäften ihr in die fleißigen Hände legte, stellte jeden Tag frische Blumen vor das Bild ihres verstorbenen Mannes, das ein befreundeter Maler vor Jahren gemalt hatte, häufte alle Zärtlichkeit, in die sich ehedem Gatte und Kind hatten teilen müssen, auf Fritz, in dem sie nun ein Vermächtnis sah, für das sie volle und schwere Verantwortung zu tragen hatte.
In der ersten Zeit nach des Vaters Tode schien es zwar, als ob die Verantwortung nicht gar so schwer wäre, denn Fritz war voll Liebe um die Mutter bemüht, vermied alles, was ihr Kummer bereiten konnte und lernte so eifrig, daß sein Lehrer bei sich dachte: »Wenn das so weitergeht, kann der Junge bald bei mir nichts mehr lernen und muß auf eine höhere Schule in einer großen Stadt kommen!« Der Lerneifer hielt auch an, dagegen erfuhr Fritzens Charakter eine seltsame und unerfreuliche Wandlung. Oder vielmehr, es war keine eigentliche Wandlung, sondern nur ein üppiges Wuchern von Eigenschaften, die sich schon früher bemerkbar gemacht hatten, die aber sein Vater bald durch strenge Worte, nötigenfalls auch mit dem spanischen Rohr zurückgedämmt hatte.
Frau Marie war solcher Worte oder Züchtigung nie sehr fähig gewesen, und jetzt war sie es noch weniger als sonst.
Mehr denn einmal gedachte sie in diesen Zeiten der Worte ihres sterbenden Mannes: »Unser Fritz hat gefährliche Anlagen und bedarf einer strengen Hand!« Frau Marie aber besaß, wie ihr Mann ebenfalls richtig erkannt hatte, solche Hand nicht, und so wuchs Fritzens Hang zu Flunkereien und gelegentlichen Lügereien ins Ungemessene. Mit dem unschuldigsten Gesicht erzählte er die abenteuerlichsten Dinge, die er gesehen oder erlebt haben wollte, und nie war er um eine Ausrede verlegen, wenn es galt, sich von einer wohlverdienten Strafe wegzulügen. Wäre Peter Schnorr noch in Schleiz gewesen, so hätte er sich vermutlich nie mehr in ein dunkles Zimmer zu gehen getraut, und sein Haarschopf wäre immerfort kerzengerade in die Höhe gestanden vor Grauen über die Spukgeschichten seines Freundes Fritz. Aber Peter war seit kurzem aus Schleiz weggekommen, hinüber ins Sächsische, zu dem Erbonkel, der wünschte, daß der zukünftige Grubenbesitzer schon jetzt ein wenig Einblick in seine spätere Heimat und Tätigkeit haben sollte. Die Trennung war den beiden Jungen schwer gefallen, besonders Peter, der vor der Fremde Bangen empfand. Fritz aber hatte ihn darob ausgelacht: »I, du alte Schlafmütze, freu' dich doch, daß du mal rauskommst und was anderes zu sehen kriegst! Ich wollte, ich wäre an deiner Stelle!«
Peter schob die Unterlippe vor, die bedenklich nach Tränen zitterte.
»Ich graule mich vor den fremden Menschen. Zu Hause bei Vater und Mutter, da weiß man, wie man dran ist, – aber wer kann wissen, wie es einem da draußen ergeht!«
Fritz warf sich in die Brust.
»Ein richtiger Junge redet nicht so dummes Zeug daher! Unter Menschenfresser wirst du ja wohl nicht kommen, und selbst wenn – –«
»Natürlich! Dich fressen sie nicht auf, denn du bist weit vom Schuß!«
Es war ein Versuch zu scherzen, aber Peters Gesicht sah gar nicht nach Scherz aus.
»Und wenn ich mitten unter ihnen stünde, würde ich mich auch nicht fürchten, denn ich habe ein Geheimmittel, daß keiner an mich heran kann, kein Dieb, kein Mörder, kein Menschenfresser – – – Ich kann einen Kreis um mich ziehen, den keiner zu überschreiten vermag …«
»Bist du ein Hexenmeister?«
Fritz lächelte geheimnisvoll. »Vielleicht – –«
»Hu, Fritz, da graut mir vor dir!«
»Hasenfuß!«
»Hasenfuß« war auch für den bescheidenen Peter zu viel. Keck sagte er: »Zieh mal deinen Zauberkreis um dich, damit ich sehe, ob ich wirklich nicht darüber weg kann!«
»Du bist ja kein Menschenfresser und auch kein Mörder!«
Darauf ließ sich allerdings nichts sagen und so mußte Peter verzichten, die Geheimkunst seines Freundes zu bewundern. Sie nahmen nach richtiger Jungenart ohne Rührung, mit ein paar kräftigen Worten von einander Abschied, und Fritz sagte noch neckend: »Na, wenn wir uns wiedersehen, bist du wohl schon ein großer Herr geworden, der nur noch von seinen Gruben, Erzen und derlei spricht!«
Peter aber sagte ehrlich: »Ich wollte, ich könnte mit dir tauschen, Fritz!«
»Warum?«
»Weil du hier bleiben kannst! Und«, setzte er mit der Bewunderung hinzu, die er stets für den Freund gehegt hatte, »weil du sicher etwas Besonderes wirst!«
»Da magst du recht haben!« entgegnete Fritz so überzeugt, als wisse er ganz genau, daß ihn ein besonderes Los erwarte.
Es war nicht zum ersten Male und nicht nur zu Peter, daß er solche Worte sprach, an die er selber glaubte, ohne daß er hätte sagen können, warum er sich eigentlich für etwas Außergewöhnliches ansah. Oder doch, er wußte es, – die Prophezeiung, die sein sterbender Vater gesprochen hatte, ging ihm nicht mehr aus dem Sinn, und er hielt an ihr fest, wie an einem Glaubenssatz. War er nicht obendrein an einem Sonntag geboren, und wußte nicht jeder, daß Sonntagskindern Gaben verliehen sind, von denen andere sich nichts träumen lassen? Mit diesen Vorstellungen, die sich immer fester in sein Hirn bohrten, gewann sein Wesen eine Überheblichkeit, die er zwar nicht merken lassen wollte, die aber durchdrang, so daß sich die Leinwandmeisterin veranlaßt sah, Frau Marie ernstlich zu warnen. Frau Marie seufzte und sagte nicht viel. Sie merkte selber am besten, wie sich Fritz verändert hatte, und wie seine Eitelkeit und sein Dünkel von Tag zu Tag wuchsen.
Neben der Prophezeiung des Vaters und der Sonntagskindschaft trug noch etwas anderes Schuld daran: Fritz arbeitete seit einiger Zeit wieder im Laboratorium, und wenn er auch ebensowenig wie sein Vater einen wirklichen Erfolg verzeichnen konnte, so steigerte es doch sein Selbstgefühl mächtig, daß er, ein Knabe, in diesem Raum selbstherrlich schalten und walten und seinen Vater vertreten konnte. Das konnte er in der Tat, denn er wußte mit allen alchimistischen Dingen ebenso genau Bescheid wie der selige Münzkassierer, und wie einst den Vater, so ließ jetzt die Goldküche den Sohn nicht mehr los.
Zuerst hatte er nur nach der Schule experimentiert, dann fing er an, sich den Morgenschlaf zu verkürzen, um noch ein wenig Zeit für das Turmgemach zu erübrigen, allmählich aber ließ sein Lerneifer in der Schule nach, denn er mußte immerfort an die Goldküche denken, und bald war er, einst der beste Schüler, zerfahren, träge, und alles schien ihm gleichgültig, was nicht mit Schmelztiegeln und Retorten zusammenhing. Schon wollte er auch anfangen, wie ehedem sein Vater, die Mächte hinter der eisernen Türe zuzubringen, und es kostete ihn nicht einmal besondere Mühe, den Schlaf zu verjagen, den sein im Wachstum begriffener Körper doch so nötig hatte.
Die Mutter bat, schalt, weinte, – alles umsonst! Fritz gelobte wohl Besserung, war auch redlich bemüht, wieder wie früher ein Musterschüler zu sein, denn zuweilen, wenn auch nicht allzuoft, fiel ihm ein, daß sein Vater ihm nicht nur eine glänzende Zukunft geweissagt, sondern auch zugefügt hatte, daß, wer das große Werk vollenden wolle, reinen Herzens, ohne Makel und Eitelkeit sein müsse.
In Augenblicken der Selbsterkenntnis sah Fritz wohl ein, daß er keineswegs ohne Makel, dafür aber ein recht eitler Bursche war, doch die gelobte und versuchte Besserung hielt immer nur wenige Tage an, dann trieb es ihn wieder zurück zu den Schmelztiegeln, und gerade dieser dunkle Trieb machte ihn stolz auf sich selber, hob ihn in seinen Augen über die anderen seines Alters empor, deren größter Ehrgeiz es war, der beste Schüler oder der Stärkste bei den alltäglichen Jungenraufereien zu sein. Sie wußten nichts von »der inneren Stimme«, wie er seine Leidenschaft für das Laboratorium und seine Unlust zu anderer Beschäftigung großspurig nannte, sie dachten nur an ihre kleinen Alltagsgeschichten, während er an künftiger Umgestaltung der Welt arbeitete. Er hütete sich freilich, diese Gedanken laut zu äußern, aber man merkte ihm den geistigen Hochmut an, auch wenn er sich bescheiden gab. Frau Marie war oft ganz verzweifelt über die Veränderung, die mit ihrem Sohn vorgegangen war, und wußte sich keinen Rat. Sie wußte wohl, daß die Jungen, wenn sie in die Flegeljahre kommen, ungebärdig, eingebildet sind, – aber so wie Fritz war doch kein anderer … Was sollte werden, wenn Fritz fortfuhr, nicht mehr zu lernen, sich aber dafür um so mehr einzubilden? Ein untüchtiger Mensch mußte er werden, ein Hansnarr, der zu nichts taugte und das Gespött der Leute war! Und das ihr Sohn, der ihr wie ein kostbares Vermächtnis übergeben worden war, und dem sein Vater eine große Zukunft geweissagt hatte! … Sie hatte versucht, ihn mit Bitten, und als diese nichts fruchteten, mit Gewalt vom Laboratorium fernzuhalten, hatte es abgeschlossen und den Schlüssel tagelang nicht herausgegeben, aber da war Fritz wie tiefsinnig geworden, und sie hatte für seinen Verstand gefürchtet … Da klagte sie wohl der Base ihr Leid: »Ich weiß mir keinen Rat mehr! Ich werde mit dem Jungen nicht mehr fertig!«
Die Leinwandmeisterin sagte aus ihrer Erfahrung heraus: »Das geht den meisten Müttern so, wenn sie einen vaterlosen Jungen erziehen sollen! Du mußt wieder heiraten, Marie, ja, ja, um deines Jungen willen mußt du es tun! Je begabter einer ist, umso mehr bedarf er der festen Hand, die dir fehlt!«
Frau Marie sträubte sich noch gegen den Gedanken, aber nicht mehr allzulange, denn die Worte fielen ihr ein, die ihr Mann auf dem Sterbebette zu ihr gesprochen hatte, und als kurz darauf ein tüchtiger Mann, der preußische Stadtmajor Tiemann um sie freite, gab sie ihm ihr Jawort, denn sie wußte, daß er nicht nur rechtschaffen, sondern auch ein guter Erzieher war. Sie kannte ihn schon längere Zeit und hatte mit angesehen, wie er die verwaisten Kinder seines verstorbenen Bruders zu tüchtigen Menschen erzogen hatte, obwohl sie wenig begabt und störrisch von Natur gewesen waren.
Fritz war nicht unzufrieden, daß er einen Stiefvater bekam. Der Stadtmajor war, so oft er zu Besuch nach Schleiz gekommen war (er stand in Magdeburg in Garnison), nicht nur freundlich, sondern auch verständnisvoll für ihn gewesen, und wenn Frau Marie über ihren Sohn geseufzt hatte, dann war Tiemanns Antwort stets gewesen: »Kopf hoch, Frau Marie! Aus dem Jungen wird schon etwas Rechtes werden! Er muß nur ins richtige Fahrwasser kommen!«
Fritz in seiner großen Selbstüberschätzung hatte dann immer gemeint, daß Tiemann schon die künftige Größe in ihm erkenne, und so freute er sich natürlich, daß nun endlich ein Mann ins Haus käme, der einsah, was seine Mutter und die anderen Leute durchaus nicht einsehen wollten. Aber noch etwas anderes reizte ihn mächtig: er würde nun mit der Mutter und dem neuen Vater nach Magdeburg übersiedeln. Er würde ein neues Stück von der Welt sehen, nicht nur immerfort Schleiz und immer wieder Schleiz, in dem er jeden Stein und jeden Grashalm kannte … Er hätte kein richtiger Junge sein müssen, wenn ihn der Gedanke an eine Reise, an einen neuen Aufenthalt nicht begeistert hätte, und obwohl ihm, als der Tag herankam, der Abschied von dem alten Schleizer Hause recht schwer fiel, so wurde er doch bald wieder frohen Mutes, und nicht einmal der Gedanke an das Laboratorium verursachte ihm Kopfzerbrechen.
Tiemann, der ihm so viel Verständnis entgegenbrachte, würde ihm, so meinte er in seiner naiven Einbildung, wohl auch in Magdeburg ein Laboratorium einrichten. So fest war er davon überzeugt, daß er trotz des Widerspruchs seiner Mutter Schmelztiegel und allerlei Mixturen, die sein Vater hinterlassen hatte, zusammenpackte und heimlich in die Kisten schob, die nach Magdeburg gingen. Das Beste aber gab er nicht aus der Hand: etliche kleine Goldproben, echtes Gold, von dem sein Vater ab und zu einen oder zwei Tropfen in das Arkan gegossen hatte, das eine große Menge Blei in Edelmetall verwandeln sollte.
Vorerst aber war er so benommen von all dem Neuen, das er sah und hörte, daß er am liebsten den ganzen Tag in der Stadt herumgestrichen wäre und gelauscht hätte, was die Leute alles zu erzählen hatten. Fünf Belagerungen hatte die Stadt während des Dreißigjährigen Krieges aushalten müssen, und Greise erinnerten sich wohl noch daran, wie sie ausgebrannt und geplündert worden war. Unversehrt waren damals nur elende kleine Häuser geblieben, von denen sich die wilde Soldateska keinen rechten Ertrag versprochen hatte, und unversehrt war auch der Dom geblieben, der ehrwürdige Dom, in dem die Gebeine eines deutschen Kaisers ruhten, der Otto der Große hieß. »Der Große« – wie das klang! Fritz berauschte sich an diesem Wort und war durchschauert von Ehrfurcht, als er am Sarkophag des toten Kaisers stand … Und noch von einem anderen Otto hörte er, auf den die Magdeburger mit Recht sehr stolz waren, obwohl er keine Krone getragen hatte, sondern nur ihr Bürgermeister gewesen war. Das war Herr Otto von Guerike, der die Luftpumpe erfunden hatte, und wenn auch die wenigsten Magdeburger wußten, wozu die Luftpumpe eigentlich zu gebrauchen war, so freute es sie doch nicht weniger, daß ein Magdeburger Sohn sich so berühmt gemacht und, wie es hieß, obendrein einem Engländer, der eben auch besagte Luftpumpe erfinden wollte, zuvorgekommen war.
Als sich das erste Staunen und Entzücken über die neue, große Stadt gelegt hatte, meinte Fritz, daß er nun mit seinem Stiefvater ein vernünftiges Wort über die Goldküche würde reden können, aber zu seinem Mißvergnügen konnte keine Rede davon sein. Tiemann sagte kurz: »Goldküche? Das kannst du später machen, wenn du ein selbständiger Mensch bist und für derlei überflüssiges Geld und Zeit hast. Aber vorläufig lebst du in meinem Hause, bist ein unreifer Junge und hast deinen Verstand auf andere Dinge zu richten als auf Faxen! Verstanden?!«
Fritz war innerlich tief empört, besonders über das Wort »unreif«, und er stellte bei sich fest, daß er sich in Tiemann gründlich getäuscht habe, der ein ganz enger Spießbürger zu sein schien. Er hütete sich aber zu verraten, was in ihm vorging, denn Ton und Art Tiemanns ließen keinen Widerspruch aufkommen, und Fritz lernte bei ihm wieder, was er unter der weichen Hand der Mutter verlernt hatte: schweigend gehorchen.
Man kann sich denken, daß ihm diese Neuordnung der Dinge wenig paßte, und daß er fürs Leben gerne zu seiner früheren Eigenwilligkeit und seinem Dünkel zurückgekehrt wäre. Aber wenn er die beiden nach wie vor hegen wollte, so mußte er es insgeheim tun, denn vor Tiemann gab es keinen Willen eines unreifen Jungen (Fritz war jedesmal aufs neue empört, wenn er dies »unreif« vernahm!), und wenn er Dünkel bemerkte, gab es ein Donnerwetter, das man dem sonst so ruhigen Manne gar nicht zugetraut hätte. Auch die Lügereien, die bei Fritz üppig ins Kraut geschossen waren, schrumpften vor Tiemanns scharfem Auge merklich zusammen. Wenn Fritz nur ein wenig flunkerte, lachte er gutmütig und meinte, ein bißchen Aufschneiderei sei nicht gar so schlimm, aber wenn Fritz anfangen wollte, sich mit Unwahrheiten aus einer schlimmen Lage herauszureden oder sich zu brüsten, dann brauchte ihn sein Stiefvater nur mit dem festen Blick seiner grauen Augen unverwandt anzusehen, und alsbald begann Fritz zu stottern, sich zu verheddern, worauf dann Tiemann jedesmal gelassen sagte: »Schweige bis dir die Wahrheit einfällt! Ein Mensch, der lügt, ist nicht wert, daß Gott ihm die Gabe der Sprache verliehen hat!«
Oft lebte Fritz also in innerer Auflehnung gegen den Stiefvater, dann aber kamen wieder Tage und Zeiten, an denen nichts von Trotz zu spüren war. Das waren die Lernstunden, die Tiemann für seinen Stiefsohn und etliche Edelknaben eingerichtet hatte, und in denen sich Fritz ganz andere Weisheit offenbarte, als in der bescheidenen Schule von Schleiz. Latein lernten sie und Geometrie, und Tiemann, der selber ein tüchtiger Ingenieur war, unterrichtete sie in Mathematik und Feuerwerkskunst. Willig lernten die Jungen bei ihm, denn bei aller Strenge verstand er es, niemals trocken zu sein, sondern hielt darauf, daß aller Lehrstoff stets in lebendiger Form geboten wurde. In diesen Stunden offenbarte sich Fritz wieder als der glänzende Schüler, der er ehedem gewesen, und oft mußte Tiemann heimlich lächeln, wenn er sah, wie die Edelknaben über einer Aufgabe stöhnend saßen, die Fritz wie spielend löste …
Und noch etwas gab es in Tiemanns Hause, was Fritz höchlich interessierte: sehr häufig kamen Freunde des Hausherrn von auswärts, vor allem aus Berlin, zu Besuch, und dann wurde Fritz nicht müde, ihnen zuzuhören, wenn sie von all dem Fremden erzählten, das er nicht kannte. Eine große Reiselust erwachte in ihm, ein Drang, die Welt zu sehen, von der er nichts kannte, als Schleiz und Magdeburg. Tiemann duldete es gerne, daß sein Stiefsohn anwesend blieb, wenn solche Besuche kamen, denn sie alle fanden Gefallen an dem jungen Menschen, der sich still und bescheiden gab, und mit glänzenden Augen lauschte, wenn sie redeten. Gelehrte Herren, die sich wohl auch in ein Gespräch mit ihm einließen, konnten nicht genug staunen über seine Kenntnisse in alchimistischen Dingen und meinten, er würde dereinst sicherlich ein guter Mediziner werden, wie sein alter Lehrer in Schleiz auch gemeint hatte. Fritz empfand ja auch für nichts anderes so großes Interesse wie für das Wesen der Alchimie und darum stand sein Sinn mehr nach dem Beruf eines Apothekers als nach dem Doktorhut.
Eines Tages – inzwischen war Fritz fast vierzehn Jahre alt geworden – war wieder ein Berliner Freund Tiemanns zu Besuch gekommen und konnte nicht genug von der Hauptstadt erzählen: wie gewaltig sie sich verschönere, daß der Kurfürst von Brandenburg wohl bald König von Preußen werde. Unablässig bedenke der prachtliebende Kurfürst Friedrich, wie er sein Berlin anderen Städten würdig an die Seite stellen könne, und wenn man aus einer Kleinstadt wie zum Beispiel Magdeburg komme, dann müsse man Mund und Augen aufsperren, wenn man Berlin sähe. Und er schilderte den Dom und das prächtige Reiterstandbild, das Schlüter vom Großen Kurfürsten gemacht hatte und die Schweizergarde und noch vieles andere, so daß Fritz meinte, es könne nichts Schöneres geben als das Leben in Berlin.
Tiemanns Freund sah das Verlangen, das in dem jungen Gesicht stand, und meinte gutmütig: »Na, junger Mann, Euch treibt es auch bald von hier fort, das sehe ich Euch an! Was meinst du, Tiemann, wenn du deinen Sohn für etliche Zeit nach Berlin gäbest?«
Tiemann machte ein bärbeißiges Gesicht.
»Setze dem Jungen keine Dummheiten in den Kopf, denn damit ist er ohnehin schon reichlich versehen! Zunächst muß er noch ein Jahr fest lernen, dann erst kann man über andere Dinge reden!«
Fritz war wieder einmal innerlich empört, denn er hatte gemerkt, daß Tiemanns Freund Interesse an ihm nahm, und ihm vielleicht schon jetzt irgend ein Fortkommen in Berlin ermöglicht hätte. Das Weinen war ihm nahe, und weil er sich unfähig fühlte, sich so zu beherrschen, wie die Sitte jener Zeit es von jungen Leuten forderte, bat er seinen Vater um die Erlaubnis, sich zurückziehen zu dürfen, da er noch eine schwere Geometrieaufgabe zu lösen hätte. Tiemann tat, als merke er nichts, aber als Fritz das Zimmer verlassen, hatte sein Stiefvater noch eine längere Unterredung mit dem Berliner Besuch, einem wohlbestallten Kaufmann.
In den Monaten, die nun folgten, wurde Fritz von seinem Stiefvater noch viel strenger gehalten als bisher. Nicht nur an seinen Lerneifer wurden große Anforderungen gestellt, sondern er mußte auch aufs Wort, ja, auf einen Augenwink gehorchen, wie ein strammer Soldat. Tat er es nicht, so gab es empfindliche Strafen, die Frau Marie manchesmal die Tränen in die Augen trieben. Tiemann aber sagte nur kurz: »Laß gut sein, Marie, ich weiß schon, was ich tue, und warum ich es tue!«
Fritz biß die Zähne zusammen und nannte im stillen seinen Stiefvater nie mehr anders als »der Tyrann«. Wie groß war aber seine Überraschung, als eines Tages, lange ehe das Lernjahr abgelaufen war, »der Tyrann« ihn zu sich rief und Worte sprach, die zwar in einem bärbeißigen Tone gesagt wurden, aber doch eine beseligende Botschaft verkündeten: »Na, Fritz, du hast dich in der letzten Zeit manierlich geführt. Ich war sozusagen zufrieden mit dir. Habe die Überzeugung, daß man dich jetzt auch unter fremde Leute lassen kann, ohne daß du gleich über die Stränge schlägst! Da habe ich denn mit meinem Berliner Freunde über dich gesprochen, und wir sind übereingekommen, daß du Ostern bei dem Apotheker Zorn in Berlin in die Lehre gehen sollst! Du hast wohl nichts dagegen einzuwenden! Die Zornsche Apotheke ist die größte von Berlin, die Zorns sollen brave Leute sein, mein Freund kennt sie gut, und wenn du dich ordentlich beträgst, wie in der jüngsten Zeit, werden sie für dich sorgen, und du kannst dein Glück machen! Aber ein ordentlicher Kerl mußt du sein und deine Faxen und deinen Dünkel zu Haus lassen und dein verlogenes Maul erst recht!«
Der Ton wurde immer bärbeißiger, je Schöneres die Worte versprachen. Fritz kannte diese Art Tiemanns schon, und war so glücklich, daß er dem Stiefvater am liebsten um den Hals gefallen wäre, aber das hätte sich für einen respektvollen Sohn jener Zeit dem Vater gegenüber schlecht geschickt, und so stand er nur mit feuerrotem Kopf da, würgte an einer Danksagung und brachte doch nichts Rechtes heraus, so daß Tiemann, der wohl sah, wie es um den Jungen stand, in seiner schroffen Art, hinter der er jegliche Gefühlsregung zu verbergen pflegte, sagte: »Nun mach, daß du nauskommst, und erzähle der Mutter, was du vorhast!« Fritz ließ sich's nicht zweimal sagen, rannte zu Frau Marie und schrie schon von weitem in hellem Jubel: »Mutter, ich geh' nach Berlin! Ich werd' Apotheker!«
Bei der Mutter brauchte er ja auch nicht gar so respektvoll zu sein, und so wirbelte er sie in seiner Freude im Zimmer herum, daß ihr der Atem verging. Dann begann er hastig, aufgeregt zu erzählen, was ihm der Vater eben gesagt hatte, und er merkte in seinem Glück nicht, daß Frau Marie immer stiller wurde, denn ihr fiel es schwer aufs Herz, daß sie sich nun von ihrem Kinde trennen sollte. Aber das war Mutterlos und mußte getragen werden.
Wenige Wochen später bestieg Fritz die Postkutsche, begleitet von den Ermahnungen seines Stiefvaters und den Wünschen und Tränen seiner Mutter. Auf seinen Knien lag ein dickes Paket, straff angefüllt mit Eßwaren aller Art, das Frau Marie ihrem scheidenden Herzensjungen mitgab. In seiner Reisetasche steckte eine lange Liste mit Verhaltungsmaßregeln, wie sorgsame Väter jener Zeit sie Kindern, die in die Welt hinausgingen, mitgaben. Auf seinem Herzen aber ruhten wohlgeborgen, von keinem gewußt, die letzten kleinen Goldstückchen aus dem Schleizer Laboratorium. Er hatte sie heimlich in ein Beutelchen genäht, denn um nichts auf der Welt hätte er sich von ihnen getrennt, obwohl er gar nicht wußte, was er in der Apotheke mit ihnen anfangen sollte oder wollte. Aber sie waren das letzte Andenken an seinen Vater, an die wunderschöne Zeit, da er mit ihm arbeiten durfte, und darum wollte er sie immer gegenwärtig haben.
Als Frau Marie beim Abschied gar heftig weinte, wollte auch Fritz das Herz schwer werden. Aber da zogen die Pferde an, der Postillion blies auf seinem Horn, und die Kutsche rollte der Stadt des Preußenkönigs entgegen, der, ohne daß Fritz es ahnen konnte, sein ferneres absonderliches Schicksal bestimmen sollte.